Aus dem Gleichgewicht

calvinoBilderbücher mit italienischen Geschichten gibt es bei uns ja eher selten. Nun hat mich eines erreicht, das in mehrfacher Hinsicht interessant ist.

Da wäre zunächst die Geschichte: Das schwarze Schaf von italienischen Meister-Romancier Italo Calvino. Meine Neugierde als Italianistin war natürlich geweckt. Calvino, bei uns eher bekannt für seine fantastischen Romane wie Der Baron auf den Bäumen oder Der Ritter, den es nicht gab, erzählt hier in wenigen Sätzen von der Entstehung einer ungerechten Gesellschaft – die uns heute nur allzu bekannt vorkommt.

Es beginnt fast idyllisch mit einer Gemeinschaft, in der jedoch jeder jeden bestiehlt. Das hat System, das ist allen bekannt, alle machen mit, niemand leidet, keiner ist arm, keiner ist reich. Doch eines Tages taucht ein Ehrlicher auf. Der hockt lieber zu Hause, raucht und liest, anstatt andere zu bestehlen. Soll er doch, mag man denken, endlich ein Guter!
Doch sein extravagantes Verhalten bringt das Gleichgewicht dieser Gemeinschaft durcheinander. Auf einmal geht einer der Diebe leer aus, da er nicht beim Ehrlichen einbrechen kann. Zudem bleibt ein anderes Diebes-Haus unangetastet. Und schon häuft sich dort das Diebesgut. Reichtum entsteht – und Armut.
Das Gleichgewicht lässt sich nicht mehr herstellen, vielmehr verspüren die Reichen auf einmal den Drang, ihr Gut zu schützen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf …

Illustriert hat diese Parabel Lena Schall und zwar auf sehr ungewöhnliche, vielleicht sogar gewöhnungsbedürftige Art. In Collagen erschafft sie die Stadt mit den diebischen Einwohnern, die sie wiederum aus Alltagsgegenständen zu unförmigen kuriosen Monstern zusammensetzt. Die Bewohner mit den langen Armen haben Knopfaugen, tragen Kronkorken als Hüte, haben Ohren, die aus den zugeknoteten Enden von Luftballons bestehen, sie kleiden sich in Frotteestoffe und kommen irgendwie nicht besonders sympathisch rüber. Im Gegensatz zum Ehrlichen, der mit seinem schwarz-weißen Matrosenanzug und seiner Brille aus Blister-Lutschbonbon-Verpackung, der hohen Stirn und dem gescheitelten Haar wie ein sympathischer Nerd daherkommt.
Die Raffkes, die sich alles unter den Nagel reißen – selbst die alten Bücher des Ehrlichen –, werden zu einem schauderhaften Spiegelbild unserer selbst – wie sie schließlich mit Goldkrone und Cocktail am Flussufer dem Müßiggang frönen, während sie zu Hause drei Autos und Goldberge stapeln.

Schalls Arrangement von Alltagsgegenständen, bestehend aus Fotografien von Plastikgießkannen, Bobbycars, Frühlingszwiebeln, Klopapierrollen, Spielzeugautos, Dekoschirmchen, Goldhasen und Spielzeug-Knips-Fernsehern, ist ein großartiges Bild für unsere absurde Konsumwelt. So wie neulich jemand im Zuge der Cyber-Monday-Woche sagte: „Das kann man bestimmt mal gebrauchen, und wenn nicht, dann schmeißt man es eben weg.“ Man fasst sich an den Kopf, ob dieser Aussage und ob der gnadenlosen Entwicklung in Calvinos Parabel …

Was deutschen Lesern vermutlich nur andeutungsweise klar wird – und ich bin da keine Ausnahme – sind die sarkastischen Anspielungen Calvinos auf den italienischen Staat. Denn im Grunde hält er seinen Landleuten mit dieser Geschichte, die er bereits im Juli 1945 geschrieben hat, den Spiegel vor. Noch unter dem Einfluss des gerade beendeten Krieges und seiner Zeit bei den Partisanen zeigt Calvino die Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus‘ auf, aber auch die Machenschaften eines Staates und seiner Bewohner, in dem nicht das Miteinander, sondern das Gegeneinander das tägliche Leben bestimmt. Dabei erinnern mich Calvinos Sätze stark an die Befindlichkeiten auch im heutigen Italien, wo der Staat absurde Steuern erhebt, die Bewohner hingegen alles tun, um keine Steuern zu zahlen, wo die Bürokratie kafkaeske Züge annimmt und die Bestechung fast zum guten Ton gehört, wo mafiöse Strukturen fast alle Lebensbereiche durchdringen und es kein Entkommen daraus gibt, außer man verlässt das Land, oder lässt sich wie der einzig Ehrliche in der Geschichte ausplündern, um dann zu verhungern. Es ist ein verzweifeltes Bild von einer Lage, die sich scheinbar nie ändern wird und ändern kann, weil all dies schon seit Urzeiten in den Menschen drinsteckt, und es eben kein richtiges Leben im falschen geben kann.

In diesem Sinne ist Das schwarze Schaf von Italo Calvino, in der bewährten Übersetzung von Burkhart Kroeber und den aufrüttelnden Illustrationen von Lena Schall, ein Meisterwerk und ein tiefgründiger Anstoß zum Nachdenken. Ein unterhaltsames Bilderbuch für Kinder ist es allerdings nicht.

Italo Calvino: Das schwarze Schaf, Übersetzung: Burkhart Kroeber, Illustration Lena Schall, mixtvision, 32 Seiten, 19,90 Euro

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Gemeinsam stark

lesbeVor einiger Zeit habe ich hier das neueste Buch von David Levithan besprochen und mir gewünscht, des möge doch auch mal Geschichten über lesbische Liebe geben. Das Thema lag wohl in der Luft, denn nun ist Maike Steins Roman Wir sind unsichtbar im Handel.

Stein erzählt die Geschichte von Valeska und Inken. Die 15-jährige Leska färbt sich gern die Haare bunt, betreibt einen Blog und weiß, dass sie Mädchen liebt. Ihrer Familie hat sie das bereits gesagt, nur hat sie noch nie ein Mädchen geküsst. Nichts würde sie gerade lieber tun.
Auf einer Party darf sie schließlich beim Flaschendrehen Inken küssen – was eigentlich so gar nicht nach Leskas Geschmack ist, hält sie Inken doch für „traumalos“, also langweilig und uninteressant. Der Kuss ist zwar nicht besonders weltbewegend und doch merkt Leska, dass hinter Inkens makelloser Fassade etwas steckt. Die beiden Mädchen nähern sich an und verlieben sich, was jedoch – laut Inken – niemand erfahren darf. Mehr und mehr entdeckt Leska, was Inken verbirgt und was ihr Angst macht. Da Leska ein Mädchen der Tat ist und Ungerechtigkeiten nicht ausstehen kann, greift sie schließlich zu Farbe und Pinsel, um Inken zu rächen …

Maike Stein schafft es mitreißend, die zarte und zerbrechliche Gefühlswelt zweier Jugendlichen in Worte zu fassen. Leskas Blogeinträge wechseln mit der Ich-Erzählung von Leska und kurzen Flashbacks auf Inkens Erfahrungen. In den kurzweiligen Kapiteln trifft so der Mut der einen auf die Angst der anderen, doch gemeinsam entsteht schließlich eine große Liebe. Gleichzeitig macht Stein klar, dass es in unserer ach-so-vermeintlich liberalen und aufgeklärten Welt alles andere als liberal zugeht. Die Vorurteile gegenüber gleichgeschlechtlich Liebenden sind immer noch tief in unzähligen Köpfen unserer Gesellschaft verankert. Es ist nicht selbstverständlich, schon gar nicht als Teenager-Mädchen sich offen zu seiner sexuellen Identität zu bekennen, solange sie eben nicht hetero ist. Den jungen Leserinnen dieses Buches jedoch macht Maike Stein durch ihre Heldinnen mit allen Mitteln Mut, zu sich und ihrer Liebe zu stehen. Sie macht Mut, sich zu zeigen, sichtbar zu werden, nicht nur in den entsprechenden Communitys oder am CSD, sondern tagtäglich. Das ist nicht einfach, erfordert Überwindung und viel Kraft. Doch Leska zeigt Inken, dass es immer wieder auch Menschen gibt, die zu einem stehen und helfen.

Und so sollte es im wahren Leben viel öfter sein.

Maike Stein: Wir sind unsichtbarMitarbeit: Kathrin Schüler, Oetinger Taschenbuch, 2015, 192 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Demokratisch von klein auf

demokratieEin Freund sagte neulich zu mir: „Mit Demokratie kann man sich auch den Abend verderben.“ Ja, möchte man manchmal seufzen – aber was wären die Alternativen zur Demokratie? Mir fällte keine ernstzunehmende ein. Und so anstrengend Demokratie also sein mag, so wichtig ist sie.

Dass man die Grundprinzipien von freien Wahlen,  Mehrheitsvotum und Volksvertretung auch schon den ganz jungen Menschen beibringen kann, zeigt Juli Zeh in ihrem Kinderbuch Jetzt bestimme ich, ich, ich!
Anhand der vierköpfigen Familie Wiefels spielt sie verschiedenen Formen von Entscheidungsfindung durch, damit es nicht immer so viel Streit am Abendbrottisch gibt. Angefangen beim „Bestimmer-Karussell“, in dem immer einer dem nächsten sagt, was er zu tun hat, über das Auslosen, wer was im Haushalt machen soll, bis hin zur Bildung eigener Mini-Reiche im Haus, wo jeder machen kann, was er will.
Doch nichts bringt die Familie wirklich weiter. Entweder ist durch das Bestimmer-Karussell nur grüner Salat zum Abendbrot da, oder alle verziehen sich in ihre Mini-Reiche und leben nicht mehr wirklich miteinander, sondern aneinander vorbei. Auch die einfachen Abstimmungsverfahren bringen die Wiefels nicht richtig weiter, da es zu oft unentschieden steht.
Erst als eine „Regierung“ gewählt wird, nach einem aufregenden Wahlkampf mit Luftballons und Wahlplakaten, kehrt die Zufriedenheit in der Familie ein.

Juli Zeh kommt in dieser Geschichte ohne schwieriges Polit-Vokabular aus und macht es jungen Lesern damit leicht, die Grundprinzipien unserer Staatsform zu verstehen. So wie heute der Umgang mit technischem Gerät wie Smartphones und Tabletts für kleine Menschen schon fast selbstverständlich ist, kann mit dieser Lektüre auch das Bewusstsein für demokratisches Verhalten früh geweckt werden. Denn das, was für einen selbstverständlich zum Leben dazu gehört, lässt man sich auch nicht so leicht nehmen. Anderen undemokratischen Strömungen und Tendenzen wird damit von Anfang an der Nährboden entzogen – zumindest hoffe ich das. Daraus folgt eigentlich die Empfehlung, dass dieses kleine, aber ganz feine Buch in keiner Familie mit kleinen Kindern und in keinem Kindergarten fehlen darf.

Juli Zeh: Jetzt bestimme ich, ich, ich! Illustration: Dunja Schnabel, Carlsen, 2015, 48 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Erfrischend normal

Patchwork-FamiliePatchwork-Familien werden hierzulande so manches Mal immer noch als etwas Exotisches, Ungewöhnliches, jenseits der Norm und der Normalität betrachtet. Vor allem, wenn mehrere Nationalitäten an der neuen Familienkonstellation beteiligt sind.

Das man dieses Thema auch anders angehen kann, beweist Deniz Selek in dem Auftaktband ihrer Trilogie Heartbreak-Family.
Ich-Erzählerin Jannah Kismet, 15, ist seit Jahren still und heimlich in den schönen dunkelhäutigen Ken verliebt, der sie allerdings nicht eines Blickes würdigt, vermutlich von ihrer Existenz nicht einmal weiß. Das ändert sich schlagartig, als Jannahs Mutter Suzan mitteilt, dass sie mit ihrem neuen Freund Sebastian zusammenziehen wird. Sebastian ist Kens Vater. Jannah stirbt quasi tausend Tode, allein bei der Vorstellung, nun fast täglich Ken über den Weg laufen zu müssen.
Doch Ken ist gar nicht mal das größte Problem. Viel schlimmer gebärdet sich Kens Schwester, die quirlig-nervige Merrie, mit ihrem Fimmel für Markenklamotten und  Edelschminke. Sie sticht Jannah in der Tanz-AG der Schule aus, bedient sich bei ihren Sachen, treibt Jannah schier zur Weißglut. Zudem glaubt Merrie, dass Jannah ihren Bruder verhext hat, als dieser beim Taggen erwischt und Ärger mit der Polizei bekommt.
Doch irgendwie gehört Merrie nun mit zur Familie, und Jannah muss sich arrangieren. Vor allem aber darf sie nicht verraten, dass sie in Ken verknallt ist. Blöd, dass ihr irgendwann vor aller Augen ein süßes Kinderfoto von Ken aus dem Tagebuch fällt …

Deniz Selek schreibt in Heartbreak-Family von den kleinen, alltäglichen Problemen, die eine Patchwork-Familie zu meistern hat. Die Kinder müssen sich aneinander gewöhnen; die ehemaligen Partner der Erwachsenen müssen die neuen Einflüsse auf die eigenen Kinder erdulden; die frische Liebe der Eltern wird beständig angegriffen. Selek verzichtet auf dramatisches Problematisieren. Sie braucht keine Katastrophen, um die Leserinnen mitzureißen und zu fesseln. Das besorgen ihre fein charakterisierten Figuren mit ihrem deutsch-türktisch-afrikanischen Temperament und ihrem Humor schon ganz von selbst. Denn in Jannah Kismets Familie ist die türkische Mutter Suzan mit dem afrikanischen Sebastian zusammen. Ihre Liebe überwindet den Abstand zwischen den Kontinenten. Kultur und Kulinaria vermischen sich dabei genauso wie Aberglaube und Voodoozauber.
Und das harmoniert perfekt.
Hier wird allerdings nicht platt über Herkunft, Diskriminierung, Andersartigkeit diskutiert oder gar lamentiert, hier wird das Nationalitätengemisch, aus dem sich Deutschland im Großen wie im Kleinen nun schon seit einigen Jahrzehnten zusammensetzt, ganz selbstverständlich und warmherzig dargestellt. Patchwork und Internationalität sind normal. Total normal.
Was allerdings nicht heißt, dass nicht auch erbittert gestritten und gekämpft wird (in ganz wunderbaren Dialogen, die auf den Punkt aus dem täglichen Leben stammen). Doch das passiert ebenfalls mit der allergrößten Selbstverständlichkeit, so wie es unter Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen und respektieren, alltäglich ist. Einen erhobenen Zeigefinger sucht man hier vergeblich. Und das ist das Schöne an Deniz Seleks Roman: Sie erzählt, ohne zu moralisieren, von den universellen Wünschen, Träumen und Bedürfnissen von 15-jährigen Mädchen, die unglücklich verliebt sind, illustriert wie nebenbei einen Idealzustand einer Gesellschaft und bietet ihren Leserinnen wunderbare Identifikationsmöglichkeiten und eine riesengroßen Lesespaß.

Mit Deniz Selek, deren ersten Roman Zimtküsse ich hier vorgestellt habe, habe ich mich über ihren Roman, ihre Familie und Menschen mit Migrationshintergrund unterhalten.

Sie selbst leben in einer internationalen Patchwork-Familie. Wie viel steckt von Ihnen und Ihrer Familie im Roman? Wann ist Ihnen die Idee gekommen, einen Roman über eine Patchwork-Familie zu schreiben?

Deniz Selek: Die Idee kam schon nach kurzer Zeit des Zusammenlebens, als mir klar wurde, dass diese Konstellation nichts für Anfänger ist … (lacht) … Türken, Afrikaner und Deutsche und als Sahnehäubchen noch eine XXL Portion Patchwork mit allem, was dazugehört. Das muss man wirklich wollen! Doch mir hat es viel Gutes gebracht, denn mit den ersten Problemen kam auch der Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, die da hinguckt und mancher Schwierigkeit ein herzhaftes Lachen abtrotzt. Von mir/uns ist in Heartbreak eher zwischen den Zeilen viel drin, denn die Handlung und die Charaktere sind frei erfunden.

In Jannahs Familie ist es völlig normal, dass Türken, Deutsche und Afrikaner zusammenleben. In Deutschland ist das noch nicht so. Was muss sich im Land ändern, damit wir zu dieser Normalität kommen?

Ich denke, dass wir bereits auf einem guten Weg dahin sind. Die „Normalität“ ist ein langsam wachsendes und sich stetig veränderndes Gebilde. Viele Dinge, die früher undenkbar waren,  bezeichnen wir heute als normal. Ich denke, wir sollten einfach nur mit offenen Augen und Herzen weitermachen, dann wird das, was in Heartbreak-Family gelebt wird, irgendwann ganz normal sein.

Was sollten die Deutschen dazu betragen? Was die Menschen aus anderen Ländern?

Ich kann das nicht nur auf „die Deutschen“ beziehen, denn es ist ein menschliches Thema. Wenn mir jemand fremd erscheint, anders aussieht, anders spricht, sich in einer Weise verhält, die ich nicht verstehe, macht mir das vielleicht im ersten Moment Angst oder verunsichert mich.
Wenn ich mich aber darauf einlasse und versuche zu verstehen, wie dieser Mensch ist, was ihn ausmacht, passiert etwas Wunderbares. Ich lerne nicht nur etwas über eine fremde Kultur, sondern auch viel über mich selbst. Das geht für mich am besten über Literatur, weil ich Zeit und Raum habe, mich einer anderen Mentalität zu nähern. Deshalb meine Empfehlung: Alle Menschen sollten ganz, ganz viel LESEN!

Jannah und ihre Familie sind sehr emanzipiert und vollkommen in der deutschen Gesellschaft integriert. Bei Familien mit Migrationshintergrund ist das nicht immer der Fall, zum Teil leben sie in eigenen Parallelwelten. Wie wichtig ist Integration für das gegenseitige Verständnis und Zusammenleben?

Ich muss gestehen, dass ich das Wort Integration nicht mag. Es klingt wie „passend machen“, obwohl es sicher nicht so ausgerichtet ist. Ich selbst habe mich nicht integriert, ich bin einfach in Deutschland aufgewachsen, obwohl mein Vater aus der Türkei stammt. Aber, und das ist für viele Familien mit ähnlichem Hintergrund wichtig, wir haben immer den Alltag mit Freunden und Bekannten geteilt und wie sie gelebt. Dazu muss ich sagen, dass meine Eltern nicht religiös sind, und das hat vieles leichter gemacht. Zudem haben beide großen Wert auf eine korrekte deutsche Sprache gelegt, die Sprache des Landes, in dem wir gelebt haben. Ich denke, das ist die Grundvoraussetzung für ein tolerantes und freundliches Miteinander. Dann ist es auch wichtig, an den landesüblichen Festen teilzunehmen, und im besten Fall den Kindern die Freiheit zu lassen, sich zu entfalten. Ich hatte diese Freiheit, weiß jedoch, dass das in vielen Familien schwierig ist.

Wie könnten sich Mädchen aus traditionellen Familien von möglichen Zwängen befreien, wenn sie ein anderes Leben führen wollen?

Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Diese sehr traditionellen, zum Teil sehr verkrusteten Strukturen so aufzuweichen, dass ein älterer, sehr furchtsamer Patriarch nicht das Gefühl hat, sein Gesicht, seine Ehre zu verlieren, wenn er seiner Tochter (für uns) normale Freiräume gewährt, ist eine echte Herausforderung.
Vielleicht würde es helfen, wenn Eltern sich mehr in den Schulen engagieren müssten. Gemeinsame Eltern- und Schülerarbeit auf dem Schulgelände (da gibt es ja immer irgendwas zu tun), kann eine Annäherung schaffen, die allen Kindern und der Gemeinschaft zugute kommt.
Wenn sie älter werden, kann ich den Mädchen nur raten: Geht euch selbst auf den Grund. Seht genau hin. Wer seid ihr? Was wollt ihr wirklich? Und folgt eurem Herzen! Fast alle Eltern akzeptieren den Lebensweg ihrer Kinder irgendwann. Und häufig sind sie dann sogar mächtig stolz auf ihre Töchter!

Rassismus und Gewalt kommt bei Ihnen nur in einer Szene vor, in der sich Ken selbstbewusst zu Wehr setzt. Erleben Sie und Ihre Familie Anfeindungen? Falls ja, wie gehen Sie damit um? Wie gehen Ihre Kinder damit um?

Ich habe dieses Thema im Buch bewusst nur einmal eingesetzt, weil mir sehr an einem harmonischen Miteinander gelegen ist. Klingt wie ein Widerspruch, ist es aber nicht. Je weniger ich „Gebrauch“ von rassistischen Anfeindungen mache, umso „normaler“ erscheint unser Leben. Und genau das ist es, was ich will.
Im Alltag unserer Familie gab und gibt es natürlich mehr Knackpunkte. Bei den Älteren (14, 15, 17 Jahre) ist das Gröbste – hoffentlich – überstanden, unser Sohn wird zwar zuweilen kritisch beäugt, wenn er einkaufen geht; manchmal steht auch der Kaufhaus-Detektiv freundlich lächelnd neben ihm oder er wird in manche Clubs nicht eingelassen.  Unsere Tochter ist sehr hübsch, sodass sie eher aus anderer Motivation beobachtet wird.
Bei unserem Jüngsten, dessen Haut recht hell ist, kommt schon mal ein blöder Spruch. Wir haben das große Glück, das dieses Thema sofort in der Klasse zur Sprache gebracht und erörtert wird. Damit ist ein wichtiger Bereich, nämlich die Schule, bereits abgedeckt.
Anfangs haben mich böse Beleidigungen unserer Kinder sehr gestresst, im Laufe der Jahre habe ich jedoch von meinem farbigen Mann gelernt, diese Dinge unaufgeregt zu betrachten und eher das Selbstbewusstsein unserer Kinder zu stärken, ihnen Selbstvertrauen und Zuversicht zu schenken, als mich um die Dummheit einiger Leute zu kümmern.

Was sollte sich in der deutschen Politik gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund ändern?

Das ist eine sehr schwierige Frage, und ich bin ein unpolitischer Mensch. Grundsätzlich bin ich für eigenverantwortliches Handeln. Jeder sollte selbst dafür sorgen, dass er sich gut fühlt. In einer Umgebung wohnen, die ihm guttut, sich mit Menschen austauschen, die er versteht und die ihn verstehen, auch wenn sie nicht seine Muttersprache sprechen.
Da kann die Politik ihren Einfluss auf den Immobilienmarkt geltend machen (damit  „Ghettos“ nach und nach verschwinden) und ja, auch darauf drängen, dass Menschen, die hier leben Deutsch lernen. Ich denke, das hilft allen.

Sie leben mit Ihrem Mann und vier Kindern … und einem Hund – erinnere ich das richtig? – zusammen. Wie organisieren Sie das Schreiben? Wann kommen Sie dazu? Was inspiriert Sie?

Genau. Zusammen sind wir sieben und das letzte „Kind“ hat Fell … Ich schreibe immer vormittags, wenn die Kinder in der Schule sind. In Abgabezeiten auch abends und an den Wochenenden, das klappt gut und immer besser, weil unsere Kinder gern ihr Ding machen. Meine Inspirationen kommen aus unserem realen Leben und da gibt es reichlich Stoff. Einiges natürlich auch aus meiner Vergangenheit und dem Leben in der Türkei.

Heartbreak-Family ist als Trilogie angelegt. Die Leser werden also noch ein bisschen auf die Folter gespannt, wie die Geschichte von Jannah und Ken weitergeht. Wissen Sie schon, was Sie danach schreiben werden? Haben Sie schon eine neue Idee?

Ja!

Fein, dann bin ich gespannt und danke herzlich für dieses Gespräch. 

Deniz Selek: Heartbreak-Family – Als meine heimliche Liebe bei uns einzog, Fischer KJB, 2013,  288 Seiten,  ab 12, 13,99 Euro

Sensibilisierung

monophonWie funktioniert Faschismus? Eine schnelle Antwort auf diese Frage wird es wohl nie geben, denn in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts haben sehr viele Faktoren über eine lange Vorlaufzeit zu der Entstehung von Terrorregimen geführt. Wie soll man den Kindern von heute also erklären, wie sich die Menschen damals und auch heute noch von einzelnen Anführern so manipulieren ließen und lassen?

Aufarbeitungsbücher, die die Geschichte und die Einzelschicksale erklären und einordnen, gibt es jede Menge, und diese Bücher werden dringend gebraucht, zumal kaum noch Zeitzeugen von damals am Leben sind. Die Kultur der Erinnerung und Mahnung verändert sich. In diesem Zusammenhang geht Elisabeth Zöller mit ihrem neuen Buch Monophon einen anderen, sehr besonderen Weg. Sie erzählt keine historischen Ereignisse, sondern zeigt am Beispiel einer fiktiven Kleinstadt in einer nicht genauer definierten Gegenwart, wie schnell aus einer vielfältigen Gesellschaft ein faschistisches System werden kann.

Eines Tages steht auf dem Marktplatz ein Monophon, ein eher antiquiertes Objekt, einem Grammophon ähnlich, das aber nur mit einer Stimme spricht. Es spielt nette Musik ab und unterhält die Menschen im Dorf. Man singt, man tanzt, man freut sich an der Abwechslung und der Kurzweil.
Doch mit der Zeit teilt das Monophon auch Dinge mit, die verwundern: Alle Rothaarigen sollen sich auf dem Platz versammeln, sie würden einen Ausflug machen. Verwunderung und Neid macht sich bei den Zurückgebliebenen breit. Später werden die Sommersprossigen und die Brillenträger fortgebracht. Der Neid schlägt in Misstrauen um, denn die Menschen kehren nicht zurück.
Stattdessen bewachen nun Männer in schwarzen Hemden das Monophon, es werden Jungen- und Mädchengruppen, Frauen- und Männerbünde gegründet. Wer sich der Gemeinschaft nicht anschließt, wird geschnitten.

Mathilda, die diese Entwicklung ganz genau beobachtet, wandelt sich von anfänglich begeisterter Anhängerin des Monophons in eine erbitterte Gegnerin. Denn sie merkt, dass Menschen, die anderes denken, nicht mehr akzeptiert werden. Selbst ihre beste Freundin verändert sich plötzlich und wird zu einer fanatischen Anhängerin der Schwarzhemden. Zusammen mit ihrem Freund Coolman schmiedet Mathilda einen Plan, um das Monophon aus der Stadt zu schaffen.

Elisabeth Zöller gelingt es in ihrer Parabel anhand von wenigen Beispielen, sowohl die Absurdität als auch das Gewaltpotential von Faschismus zu umreißen. Selbst jungen Lesern wird so sehr gut deutlich gemacht, wie viel es wert ist, seine Meinung frei äußern, selbst über sich, seine Zeit, seine Freunde, sein Leben bestimmen zu können, und nicht wegen eines körperlichen Merkmals oder einer anderen Meinung (oder wahlweise auch einem anderen Glauben oder einer anderen sexuellen Orientierung) diskriminiert zu werden.
Das Experiment, Faschismus nicht in einem historischen Kontext zu erklären, gelingt hervorragend, denn Elisabeth Zöller macht klar, dass es jederzeit und überall wieder zu solchen Entwicklungen kommen könnte. Hier und jetzt. Die Gefahr des Faschismus ist eben nicht vorbei und Teil einer lang zurückliegenden Vergangenheit, sondern in Ausgrenzung, Rassismus und fremdenfeindlicher Gewalt auch heute immer noch zu spüren. Mit Monophon sensibilisiert Elisabeth Zöller die Kinder dafür, solche Verhaltensweisen zu erkennen und sie nicht stillschweigend zu akzeptieren, sondern die Stimme dagegen zu erheben.

Elisabeth Zöller: Das Monophon, Illustration: Verena Ballhaus, Hanser, 2013, 160 Seiten, ab 10, 12,90 Euro