Eine Frage der Ehre

olgaSpätestens seit Erich Kästners Emil und die Detektive haben Detektivgeschichten einen festen Platz in deutschen Kinderzimmerregalen. Eine aktuelle Ermittlerin habe ich jetzt in Barbara van den Speulhofs Buch Olga & Co kennen- und lieben gelernt.

Olga, eine clevere 11-Jährige, ist in diesem Band ihrem zweiten Fall auf der Spur. In ihrer Klasse geschehen nämlich ein paar ganz blöde Dinge: ein Freundschaftsbuch wird geklaut, eine Jacke wird mit Farbe besprüht, ein Kaninchen verschwindet. Die Erwachsenen haben allerdings nichts besseres zu tun, als gleich von einem Kind (dem oder der Täter_in) auf alle zu schließen und die ganze Klasse, ja die ganze Schule schlecht zu machen. Und so etwas kann Olga überhaupt nicht ab, denn das geht gegen die Ehre der Kinder.
Also ermittelt sie, spricht mit ihren Mitschülern, trägt Beweise zusammen, geht aus Berufsgründen auf eine Geburtstagsparty und telefoniert in immer kürzeren Abständen mit ihrer Freundin Co, die in Schweden wohnt, Olga aber zu Weihnachten besuchen kommt. Gemeinsam ziehen sie den Kreis um die Verdächtigen immer enger …

Van den Speulhofs Olga-Reihe ist wunderbare Spannungsliteratur für Mädchen, die allem und jedem auf den Grund gehen. Dabei kann man auch sehr gut mit Band 2 in Olgas Welt einsteigen. Olga und ihr kleiner Bruder Juri, der sich immer augenblicklich in jede neue Frau in seinem Leben verknallt, sind liebevoll gezeichnet und überzeugen als Geschwisterpaar. Die Freundschaft zwischen Olga und Co besticht dadurch, dass sie auch über die Distanz funktioniert. Sie zeigt kleinen Leserinnen, dass gute Freunde nicht immer gleich um die Ecke wohnen müssen.
Über Juri steuert die Autorin lustige Wortverdreher und Wortneuschöpfungen bei, so dass die Lektüre auch auf sprachlicher Ebene immer wieder etwas unterhaltsam Neues zu bieten hat.

Auflösung und Hintergründe der inkriminierenden Taten passen übrigens perfekt in die Weihnachtszeit. Und das Buch macht sich im Nikolausstiefel ziemlich gut.

Barbara van den Speulhof: Olga & Co. Die Sache mit dem Glücksräuber, Fischer KJB, 2015, 224 Seiten, ab 8, 10,99 Euro

Von Schuld und Unschuld

schuldGute Bücher über den Fall der Mauer und die Flucht aus der DDR gibt es zuhauf, zum Beispiel  Tonspur. Das Schicksal der Kinder von Stasi-Mitarbeitern wird eher selten literarisch verarbeitet. Die Lebensläufe von Kindern hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter hat Ruth Hoffmann vor zwei Jahren in ihrem Sachbuch Stasi-Kinder erzählt.

Nun liefert Grit Poppe einen Jugendbuch-Roman zu diesem Thema. Schuld spielt in den Jahren 1988/89 sowie 1992 und erzählt von den 15-jährigen Jugendlichen Jana und Jakob.
Jana kommt neu in eine Schule am Rande von Ostberlin. Vom ersten Moment an fühlt sie sich zu dem Außenseiter Jakob hingezogen. Dessen Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt. Jakob selbst schreibt und verteilt illegal Flugblätter, engagiert sich im Neuen Forum und kämpft für Meinungsfreiheit. Eines Tages gibt er Jana ein solches Flugblatt, das sie bei sich zu Hause versteckt.

Als diese Flugblätter auch in der Schule auftauchen, fliegt Jakob erst von der Schule, später finden Stasileute einen weiteren Entwurf mit einem Aufruf zur Demo bei ihm. Der Junge kommt in Untersuchungshaft, wird verurteilt und in das Jugendgefängnis Halle gesteckt.
Jana ist verzweifelt. Zum einen, weil sie nicht weiß, wann und ob sie Jakob wiedersehen wird, zum anderen, weil ihre Eltern, linientreue Sozialisten, beständig gegen sie und ihre Beziehung zu Jakob arbeiten. Sie verbieten ihr schließlich, Jakob zu schreiben.
Jana ist da jedoch schon lange in der Protestbewegung engagiert, in die Jakob sie eingeführt hat, und lässt sich von ihrem Weg nicht abbringen.

Grit Poppes Roman Schuld schildert die letzen Jahre der DDR konsequent aus den Perspektiven von Jana und Jakob. Vor allem bei Jana ist das sehr beeindruckend gelungen, den das Mädchen durchschaut erst nach und nach das Überwachungssystem der DDR. Die Rebellion gegen den Staat geht mit der Rebellion gegen die Eltern einher – das verzahnt Poppe so geschickt, dass man eigentlich nicht weiß, was zuerst war. Allerdings bleibt Jana die perfide Ausspionierung durch den eigenen Vater bis zu letzt verborgen. Nur im Leser, vor allem im erwachsenen, macht sich ein fieses Gefühl von Abscheu breit.
Mit Jakob hingegen erlebt man die grausamen Zustände, die in den DDR-Jugendknästen geherrscht haben. Nach ihren Romanen Weggesperrt und Abgehauen zeigt Poppe auch hier noch einmal, wie sehr Jugendliche in der DDR gelitten haben, wenn sie nicht dem Ideal der vorgegebenen Doktrin entsprachen.

25 Jahre nach dem Mauerfall macht Grit Poppe mit ihren Büchern die dunkle Geschichte der DDR für junge Leser anschaulich und lebendig. Was in den Schulen meist nur als Faktenansammlung vermittelt wird, reichert sie mit Gesichtern, persönlichen Schicksalen und jeder Menge Emotionen an. Schuld legt man daher nicht mehr aus der Hand, man leidet mit den beiden Helden bis zur letzten Seite mit, ist gleichzeitig erleichtert, wie frei wir heute leben, wundert sich dann aber auch, wie wenig momentan noch protestiert wird (Gründe gäbe es genug).

Grit Poppe: Schuld, Dressler Verlag, 2014, 365 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Das Ende einer Freundschaft

verdachtManche Bücher sind krass. Die möchte ich eigentlich gleich wieder weglegen. Und kann dann  doch nicht von ihnen lassen. Wie von Michael Northrops Roman Schieflage. Der ist krass, sowohl in Bezug auf die Story als auch krass in Bezug auf die Sprache.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Micheal ist nicht gerade ein Glückskind. Das fängt schon mit dem falschgeschriebenen Namen an, den sein Vater kurz nach seiner Geburt verbockt hat. Später hat dieser Vater Mike so geschlagen, dass er ein schiefes Gesicht zurückbehalten hat. Und eine Leuchte in der Schule ist er auch nicht. In der Highschool steckt er in der 10F, einem Sammelbecken für die Loser seines Jahrgangs. Am liebsten hängt er mit seinen Kumpels Tommy, Mixer und Bones ab. Auch die drei stehen nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Als Tommy eines Tages von einem Lehrer wegen eines Sprachproblems gequält wird, rastet er aus und verschwindet.
Wenig später fängt der Englischlehrer Haberman im Unterricht mit den anderen Schülern das Buch Verbrechen und Strafe von Dostojewski an. Dazu bringt er eine Tonne mit, in dem irgendetwas steckt, was die Schüler erraten sollen. Er weckt den Verdacht von Mike, Mixer und Bones, als diese nach dem Unterricht die schwere Tonne zum Auto tragen sollen. Da Tommy nicht wieder auftaucht, nicht ans Handy geht und schließlich die Polizei nach ihm sucht, steigern sich die Jungs in die Vermutung hinein, der Lehrer hätte ihren Freund umgebracht und in die Tonne gestopft. Da sie mit niemanden über ihren Verdacht sprechen, kommt es schließlich zur Katastrophe.

Northrop zeichnet die Geschichte von einer Jungen-Clique, die nicht viel vom Leben zu erwarten hat. Mike hat keine Chance bei den Mädchen, Bones neigt zu Gewaltausbrüchen, Mixer klaut. Die Jungs trinken Alkohol, probieren Drogen aus, allerdings auch das ohne „Erfolg“. Und sie verweigern die Mitarbeit im Unterricht. Durch die Ich-Perspektive von Mike ist man direkt in seiner Denke und seiner Gefühlslage. Man leidet mit Mike mit, wenn er vergeblich versucht, Mädchen kennenzulernen, wenn er Bones beim Vögeln beobachtet, wenn er sich Sorgen um Tommy macht. Die Lektüre von Dostojewski stellt zusammen mit dem Unterrichtsexperiment von Haberman für ihn quasi einen Tritt in den Allerwertesten dar, der ihn aus seiner Lethargie holen soll. Zur Läuterung kommt es allerdings erst nach einem gewalttätigen Komplett-Absturz, aus dem Mike die Schlussfolgerung zieht, dass auch Freundschaften ein Verfallsdatum haben und nicht für immer halten.

Seine durchaus krassen Erlebnisse und Gedanken schildert Mike in einer ebenso krassen Jugendsprache. Die hat Übersetzer Ulrich Thiele mit viele Gespür für Umgangssprache mitreißend umgesetzt. Der „Vollpfosten“ gehört dabei eher noch zu den harmlosen Ausdrücken. Mike flucht, beleidigt, ist politisch nicht im geringsten korrekt – alles, was er doof findet, ist „schwul“. Das mag in einem Jugendbuch extrem klingen, passt aber perfekt zu Mike und seinem Leben am Rande der Gesellschaft. Es macht den Jungen authentisch und glaubwürdig, egal, ob man so einen Sprachgebrauch im Buch verwerflich findet. Hinter dieser Sprache jedoch entdeckt man einen Jungen, der natürlich genauso lern- und entwicklungsfähig ist wie alle anderen, die sich vermeintlich gewählter ausdrücken, und der sich im Laufe des Romans vom verunsicherten Teenager zu einem zwar verurteilten, aber sensibilisierten jungen Erwachsenen wandelt.

Schieflage ist ein Buch über Jungs für Jungs. Es bietet jede Menge Diskussionsstoff, wie man mit Verdächtigungen, Scheinbarem, Vermutungen und Vorurteilen umgehen sollte – und was für Konsequenz drohen, wenn die Lage eskaliert. So lösen sich Mikes Vorurteile Homosexuellen gegenüber schließlich auf, und man weiß, dass er das Wort „schwul“ nie wieder als Beleidigung benutzen wird. So zeigt Michael Northrop feinfühlig, dass ein Wandel möglich ist – wenn auch unter Schmerzen. Und das macht Hoffnung für alle Jugendlichen, die ähnlich wie Mike, Mixer und Bones meinen, nicht viel vom Leben erwarten zu dürfen.

PS: Ein schöner Nebeneffekt von Schieflage ist, dass man Lust auf Dostojewskis Verbrechen und Strafe bekommt…

Michael Northrop: Schieflage, Übersetzung: Ulrich Thiele, Loewe Verlag, 2013, 240 Seiten,  ab 13, 6,95 Euro