Das war hart. Gleich vorneweg: Die Lektüre von Louise O’Neills Roman Du wolltest es doch fordert den Leser_innen so Einiges ab. Aber genau das ist gut und wichtig und in heutigen Zeiten unverzichtbar.
Denn immer noch wird viel zu wenig über sexuelle Gewalt gesprochen – #metoo hin oder her – und wenn doch, erleben die Opfer viel zu oft und viel zu schnell eine verallgemeinernde Schuldzuweisung, eben im Sinne von: Du wolltest es doch.
O’Neills Roman, in der feinfühligen und gleichzeitig kraftvollen Übersetzung von Katarina Ganslandt, beginnt wie ein gängiger Teenie-Roman: Emma, 18, ist schön, beliebt, kommt aus gutem Haus, weiß um ihre Wirkung auf Jungs und kurvt mit ihrer Clique durch eine irische Kleinstadtstraßen auf der Suche nach Ablenkung und Nervenkitzel (Jungs). So weit, so unspektakulär, was mich fast am Weiterlesen und Durchhalten gehindert hätte.
Doch dann spitzt es sich auf einer Party zu. Emma, im schwarzen Minikleid mit tiefem Ausschnitt, gelingt es, die Aufmerksamkeit des angesagtesten Footballspielers der Stadt zu erobern, Paul O’Brien. Und schon hier beginnt eine unsägliche Spirale: Um nicht als uncool oder Spielverderberin dazustehen, nimmt sie die Pillen, die Paul ihr anbietet. Sie trinkt Alkohol, irgendwann tanzt sie völlig zugedröhnt durch den Raum, ihr Kleid verrutscht. Alle können es sehen.
Schließlich verschwindet sie mit Paul in einem Schlafzimmer. Sie haben Sex, obwohl Emma schon nicht mehr bei vollem Bewusstsein ist und es im Grunde nicht wirklich will. Irgendwann platzen andere Partygäste hinein. Schauen zu, feuern an. Emma schwinden die Sinne.
Am nächsten Morgen finden ihre Eltern sie schlafend auf der häuslichen Veranda, fortgeworfen wie Müll. Emma erinnert sich an nichts mehr.
Dafür erinnert das Internet sie schließlich an die Nacht: Es kursieren Bilder der bewusstlosen Emma, die von mehreren Jungs auf der Party vergewaltigt und gedemütigt wird.
Emma kann und will es zunächst nicht glauben. Versucht weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Doch die Kommentare unter den Bildern, die Reaktionen ihrer Freunde und Bekannten in der Kleinstadt und auch die Reaktionen ihrer Eltern zeigen ihr immer mehr, dass hier etwas Fürchterliches geschehen ist – an dem sie doch selbst schuld ist.
Mehr und mehr verstrickt sich Emma in die Vorstellung der eigenen Schuld – eindrucksvoll von O’Neill durch immer wiederkehrenden Sätzen („Ich bin schuld“) verdeutlicht, die zu Emmas Mantra werden. Sie kommt trotz einer Therapeutin nicht mehr aus dieser Spirale hinaus.
Es vergeht ein Jahr, Emma hat mittlerweile Anzeige erstattet – und nun trifft sie die Verachtung der Menschen immer stärker. Alles um sie herum verändert sich: Das einst so liebevoll gepflegte Haus der Familie verkommt immer mehr, die Mutter trinkt zu viel, der Vater sieht Emma kaum noch an, in der Stadt formiert sich eine Gegenseite, die von der Unschuld der angezeigten Jungs überzeugt ist und Emma immer wieder die Schuld gibt.
Das alles ist für Emma kaum zu ertragen – und auch für die Leser_innen ist das schwere Kost. Denn mann möchte Emma schütteln und ihr beständig sagen, dass sie eben nicht schuldig ist. Man möchte sie anschreien und ihr sagen, dass sie gefälligst mehr auf ihren Bruder Bryan und ihren alten Freund Connor hören soll, die uneingeschränkt hinter ihr stehen. Man möchte Emmas Eltern den Kopf waschen, damit sie endlich aufhören in ihrem eigenen Selbstmitleid zu ertrinken und sich endlich mal richtig zu ihrer Tochter bekennen und ihr nicht immer unterschwellig zu verstehen geben, dass sie von ihrem Verhalten enttäuscht sind.
O’Neill erzählt die Geschichte aus der Sicht Emmas, was dann Leerstellen zur Folge hat, wie die Jungs später eigentlich reagieren. Aber genau das ist gut. Man ist vollständig in Emmas Filterblase und bekommt ihre Ängste, ihre Scham und ihre Verzweiflung hautnah mit.
Man kann sie verstehen, wenn sie in Gedanken den möglichen Prozess mit all den unangenehmen Fragen durchgeht. Ihre Angst, die innersten Beweggründe für ihr Verhalten in aller Öffentlichkeit auszusprechen, wird so auch zur Angst der Leser_innen. Das ist manchmal schwer auszuhalten. Reflexartig möchte man immer sagen: Ich würde das aber ganz anders machen! Und gleichzeitig kann man am Ende – das kein Happy End ist – Emmas Entscheidung ein kleines bisschen auch verstehen, wenn auf einmal die Eltern wieder zugewandt sind, das Heim wieder schön wird und die Mutter Scones backt.
Aber dieses Verständnis dauert nur einen kurzen Moment, dann durchdringt einen die Bitterkeit dieser Entscheidung – und man weiß, dass es so nicht sein sollte. Dass diese ganze Geschichte eigentlich nicht sein sollte. Kein Mädchen sollte sich schuldig fühlen, wenn sie vergewaltigt wird – egal wie sie sich benommen hat. Sexuelle Gewalt ist nicht zu entschuldigen. Nie. Mit nichts.
Dass die Täter immer noch viel zu oft ungeschoren davon kommen, ist unverständlich. Dass immer nur den Mädchen eingetrichtert wird, dass sie sich anständig zu verhalten und nicht so aufreizende Kleider tragen sollten, kann nicht die Lösung sein. Es kann auch nicht sein, dass Mädchen und Frauen sich nicht trauen über solche traumatisierenden Erfahrungen zu sprechen. Genau dies ist das Anliegen von Louise O’Neill, das sie in ihrem Nachwort so zusammenfasst:
„Wir müssen über Victim Blaming und Slut Shaming sprechen – darüber, dass den Opfern von Straftaten oft selbst die Schuld an dem Vergehen gegeben wird – und wir müssen über die unterschiedlichen moralischen Standards sprechen, mit denen wir das Verhalten junger Frauen und das junger Männer bewerten.“
Genau so. Fangt damit an, indem ihr dieses Buch lest.
Louise O’Neill: Du wolltest es doch, Übersetzung: Katarina Ganslandt, carlsen, 2018, 368 Seiten, ab 16, 18 Euro