Die Untiefen der Psyche

sauerdropseDer Mensch ist ein wunderliches Wesen. Warum sind manche unserer Zeitgenossen immer gut drauf, während andere Trübsal blasen, den Kopf hängen lassen oder extrem miese Laune verbreiten? Leider ist es uns meistens nicht vergönnt, hinter die Fassaden schauen zu können. Die Beweggründe bleiben uns verborgen. Und doch sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass hinter jedem Verhalten ein durchaus ernsthafter oder gar trauriger Auslöser stecken kann.

Genau dies tut das Erzählbilderbuch Die Sauerdropse von den Niederländern Jaap Robben und Benjamin Leroy, wunderbar übersetzt von Birgit Erdmann. Die Brüder Harry und Hubert Sauerdrops, zwei schon ältere Herren, leben in einem grauen Haus, mit grauen Wänden, grau-betonierten Hof, dessen einziges kleines Rasenstück sie nicht betreten dürfen. Sie essen am liebsten saure Heringen, Bennnesseltee und Hühnersuppe, sie interessieren sich für künstliche Gebisse, ihre eigenen legen sie abends sorgfältig in Essig ein, und täglich um fünf Uhr rufen sie die Beschwerdestelle im Rathaus an. Der Bürgersteig vor der Haustür wird täglich gestaubsaugt. Besucher sind nicht willkommen, weil Mutter oben schläft. Alles was irgendwie bunt, laut, lebendig ist, wird von den Gebrüdern Sauerdrops gehasst. Sie sind also richtig, richtig mies drauf. Mieser geht es kaum.

Wie es in Bücher dann so ist, wird diese skurrile Tristess eines Tages durchbrochen, von einem unerträglich bunten Brief, der auch noch Musik macht. Die Brüder schieben den Brief tagelang hin und her, hoffen, dass er auf der Straße vom Wind weggeweht wird. Doch stattdessen taucht Gertie Bock von der Beschwerdestelle im Rathaus auf und bringt den Brief wieder zurück. Die Sauerdropse sind geschockt, zum einen, dass jemand auf ihre Beschwerdeanrufe reagiert, zum anderen, weil Gertie der Mutter von Harry und Hubert wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Die beiden alten Herren sind ziemlich verwirrt, lassen es aber zu, dass Gertie immer öfter vorbeikommt und etwas Farbe in das graue Leben bringt.
Schließlich taucht auch noch Niko, der Cousin der Brüder auf. Er hat den bunten Brief geschrieben, um seiner Tante, also Harrys und Huberts Mutter, zum 111. Geburtstag zu gratulieren und seinen Besuch anzukündigen. Die Sauerdropse sind völlig überfordert, denn Mutter schläft doch oben und darf auf keinen Fall gestört werden. So versuchen sie, sich aus der Bredouille zu schummeln, indem sie sich als Mutter verkleiden. Während Gertie eine Geburtstagsparty vorbereitet, bricht bei den neuen Nachbarn, die das Nebenhaus renovieren, eine Wand zu den Sauerdropsen ein, und plötzlich stehen lauter Unbekannte bei den Brüdern im Haus. Ihre Verkleidung funktioniert nicht (vier Beine sind schon sehr verdächtig) und in all dem Chaos müssen die beiden schließlich zugeben, dass die Mutter schon lange tot ist. Als der Nachbarhund aus dem Rasenstück im Hof dann auch noch einen menschlichen Unterarmknochen ausgräbt, flüchten die Bewohner und die Sauerdropse bleiben allein zurück. Erleichtert kehren sie zu ihrem geregelten grauen Leben zurück.

In diesen Plot, der voller überraschender Knaller steckt (die Brüder machen Urlaub, streiten sich so, dass die Kunstgebisse zu Bruch gehen), haben Autor und Illustrator auf ganz großartige Weise die psychologischen Abgründe der beiden Hauptfiguren verpackt. Der Leser erfährt, wie es bei Sauerdrops zuging, als der Vater noch lebte und als Bestatter bis zur Erschöpfung arbeitete. Schon damals schlief die Mutter immer, vernachlässigte die Jungs und setzte ihnen ausschließlich Hühnersuppe vor. Die Todesursache des erschöpften Vaters ist eine der absurdesten, die mir je untergekommen ist und die ich hier nicht verraten möchte, um den Spaß nicht zu verderben.
Die abwesende und doch permanent anwesende Mutter erinnert im Laufe der Lektüre die Erwachsenen unwillkürlich an Hitchcocks Psycho. Eine Dimension, die kleinen Lesern wahrscheinlich entgehen mag, doch das Gefühl, dass da etwas mit der Mutter ist, steigert sich im Laufe des Buches immer mehr und zeigt auf sehr eindrucksvolle Weise, wie sehr der Mensch unter dem Einfluss seiner Eltern steht und sich teilweise noch nicht einmal im hohen Alter davon lösen kann. Hier stecken zwei kleine Jungs in den Hautsäcken alter Männer und haben es nicht gelernt, sich von den Vorgaben und Verboten der höchstwahrscheinlich depressiven Übermutter zu verabschieden. Eigentlich traurig, und gleichzeitig doch so aufrüttelnd, die eigenen verinnerlichten Regeln einer genauen Prüfung zu unterziehen, ob sie auch der eigenen Überzeugung entsprechen.

Benjamin Leroys Bilder tragen ganz besonders zu dem Gelingen dieser tiefgründigen Geschichte bei. Sie sind eine Mischung aus Federzeichnung, Aquarell und Collage, die sich mit dem Voranschreiten der Erzählung und all den ungewöhnlichen Erlebnissen der Brüder vom Grau zum Bunt wandeln. Dabei haben die Bilder nicht nur die Aufgabe zu illustrieren, sondern sie erzählen Dinge, die die Texte nicht verraten. Sie zeigen die Träume der Brüder, ihre Erinnerungen an die Mutter oder den Spaß der Fußballjungs, die eines Tages im Hof der Sauerdropse kicken.

Robben und Leroy ist mit Die Sauerdropse eine an der Oberfläche sehr skurrile, lustige und chaotische Geschichte gelungen, die Spaß beim Vorlesen und Anschauen macht. Durch die psychologischen Hintergründe erlangt sie jedoch einen solchen respektvollen Tiefgang bei der Zeichnung der Hauptfiguren, dass man davor nur den Hut ziehen kann.

Jaap Robben/Benjamin Leroy: Die Sauerdropse, Übersetzung: Birgit Erdmann, mixtvision, 2013, 168 Seiten, ab 10, 14,90 Euro

Von Monstern und Schleuderprogrammen

psychische krankheitenPsychische Krankheiten könnte man als eine der Geißeln unserer technisierten, schnelllebigen Gesellschaft bezeichnen. Der Umgang mit diesen Übeln ist nicht leicht, weder für die Betroffenen noch für deren Angehörige. Von den Kindern betroffener Eltern oder Geschwister ganz zu schweigen. Kinder aber deshalb zu unterschätzen und mit ihnen nicht über die Zustände von Vater, Mutter oder Bruder zu sprechen wäre fatal. Denn dass die Kinder jede Menge mitbekommen und sich dazu ihre eigenen Gedanken machen, ist hinreichend bekannt. Dennoch werden die Kinder noch viel zu oft aus dem Geschehen herausgehalten, oft mit der Folge, dass sie sich die Schuld an der Krankheit des Elternteils geben. Und selbst noch mehr leiden. Damit es nicht soweit kommt, ist Offenheit immer noch das beste Mittel.

Hilfestellung bei der Erklärung von psychischen Krankheiten – die ehrlich gesagt auch für Erwachsene meisten nicht in aller Vollständigkeit zu begreifen sind – bieten drei kleine, aber sehr schlaue Bilderbücher aus der Reihe Kids in Balance. In Mama, Mia und das Schleuderprogramm lebt die 7-jährige Mia mit ihrer Mutter und Katze Yuki zusammen. Mia würde am liebsten zum Zirkus gehen. Aber Mama leidet am Borderliner-Syndrom und bekommt in der Folge ihre Gefühle nicht mehr in den Griff, so dass sie sich irgendwann selbst verletzt. Ohne zu schockieren erklärt eine Ärztin Mia, dass die Gefühle bei Mama wie im Schleuderprogramm der Waschmaschine so durcheinander gewirbelt werden, dass sie sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Mama sucht sich Hilfe beim Arzt, und gemeinsam mit Mia macht sie schließlich bei einer Zirkusgruppe mit, die Eltern und Kindern in schwierigen Situationen im Leben hilft.

psychische krankheitenIn Mamas Monster muss die 5-jährige Rike erfahren, dass Mama plötzlich nur noch im Bett liegt und ganz traurig ist. Sie spielt nicht mehr mit Rike und ihrem kleinen Bruder, bringt sie auch nicht ins Bett und kann gar nicht mehr arbeiten. Rike denkt, dass sie etwas falsch gemacht hat, aber Mama erklärt Rike, dass sich bei ihr ein Monster eingenistet hat, dass die Gefühle klaut. Mit Hilfe eines Arztes und von Medikamenten vertreibt Mama das Monster jedoch wieder. Das dauert zwar ein paar Wochen, und Rike ist in dieser Zeit total wütend, weil sie nicht helfen kann. Doch schließlich ist das Monster so weit verjagt, dass Mama Rike wieder ins Bett bringen kann.

psychische krankheitenMein großer Bruder Matti hingegen erzählt die Geschichte von Matti. Er ist so stark, dass er ständig alles umwirft und kaputt macht. In der Schule kann er nicht still sitzen, stört den Unterricht und hört nicht richtig zu. Mattis hat ADHS.
In diesem Buch wird dem jüngeren Bruder Julius erklärt, warum bei Matti Gefühle wie Wut, Trauer oder Freude viel stärker ausgeprägt sind, als bei anderen Kindern. In Mattis Hirn gibt es nämlich zu wenige „Postboten“, die die vielen Informationen an die richtigen Adressen bringen. Zusammen mit einem Psychologen lernt Matti jedoch jede Menge Tricks, wie er zum Beispiel gegen die aufsteigende Wut angehen kann. Und auch Julius kann jetzt das Verhalten des großen Bruders besser einordnen und hofft, dass er trotzdem ganz viel Zeit mit seinem großen Bruder verbringen kann.

Alle drei Bücher erklären mit leicht verständlichen Texten und liebevollen Illustrationen überaus schwierige und belastende Situationen in den Familien. Wut und Tränen gehören dazu, es wird nichts tabuisiert. Die Bitte um Hilfe und ihre Annahme in Form von Therapiestunden wird als etwas Notwendiges, aber vor allem auch Selbstverständliches dargestellt. Niemand muss sich schämen, wenn er zum Psychologen geht oder das Jugendamt eine Mitarbeiterin vorbeischickt.
Die Kinder von Betroffenen erleben so, dass niemand Schuld an diesen psychischen Krankheiten hat und dass es Möglichkeiten der Behandlung gibt. Für erkrankte Elternteile erleichtern diese Bücher ein offenes Gespräch über die eigene Krankheit.

Christiane Tilly/Anja Offermann/Anika Merten: Mama, Mia und das Schleuderprogramm. Kindern Borderline erklären, Balance buch + medien, 2012,  40 Seiten,  ab 4, 12,95 Euro

Erdmute Mosch: Mamas Monster. Was ist nur mit Mama los? Balance buch + medien, 4. Auflage 2011, 44 Seiten, ab 3, 12,95 Euro

Anja Freudiger: Mein großer Bruder Matti. Kindern ADHS erklären, Balance buch + medien, 2013, 28, Seiten, ab 5, 12,95 Euro

Kunterbunter Erkenntnisgewinn

fabelhafte Entdeckung Ranga Yogeshwar34 Sätze. Mehr stehen nicht in diesem Buch. Gut, es ist ein Bilderbuch, da braucht man meist nicht viele Sätze. Aber diese 34 Sätze reichen aus, eine der universellen Weisheiten auf eine herzallerliebste  Weise zu erzählen.

Der Physiker und Fernsehmoderator Ranga Yogeshwar hat zusammen mit der Illustratorin Nina Dulleck ein indisches Märchen in das lebenskluge Bilderbuch Die fabelhafte Entdeckung einer kleinen Weisheit von großer Bedeutung verwandelt. Darin ziehen die beiden Hunde Kala und Lakshimi durch den Wald. Kala ist klein und ängstlich. Lakshimi stolz und furchtlos. Sie kommen an einen Tempel und im Inneren erleben sie Sonderbares. Kala trifft dort lauter knurrende Hunde, die ihn fürchterlich anfletschen. Als Lakshimi jedoch hineingeht begegnet sie nur netten schwanzwedelnden Artgenossen. Die Auflösung ist großen und auch kleinen Lesern, wie ich neulich beim Vorlesen feststellen musste, natürlich sofort klar: Die Hunde stehen in einem Spiegelsaal. Und der wird zum Sinnbild unseres Sprichwortes „Wie es in den Wald hineinschallt, schallt es hinaus“.

Ist diese Geschichte an sich schon eine ganz wunderbare Fabel, so wird sie durch die Illustrationen zu einem wahrlich fabelhaften Kunstwerk. Bereits das erste der doppelseitigen Bilder versetzt den Betrachter in den indischen Dschungel – und macht klar, dass es sich lohnt, ganz genau hinzuschauen. In dem grünen Blattwerk lauert nicht nur der Tiger, sondern flattern Schmetterlinge und andere großäugige Insekten zwischen wunderschönen Blumen. Im Hintergrund schimmern märchenhafte Paläste. Flora und Fauna werden immer vielfältiger und exotischer, ganz allmählich schleicht sich ein Elefant ins Bild, hangelt sich ein Affe herab. Es ist eine Wonne. Die beiden Helden sehen zudem so knuffig aus, dass man sie auf der Stelle adoptieren möchte. Und wenn am Ende noch Chamäleon, Pfau und Tapir Lakshimis liebvoll vorgetragener Moral lauschen, hat man sein Herz vollends an dieses Bilderbuch verloren und freut sich ungemein aufs erneute Vorlesen und Entdecken.

Ranga Yogeshwar/Nina Dulleck: Die fabelhafte Entdeckung einer kleinen Weisheit von großer Bedeutung. Ein indisches Märchen, Fischer Schatzinsel, 2012, 32 Seiten, Kindergartenalter, 14,99 Euro

Suppenglück und Märchenmacht

suppe satt es war einmalJetzt ist es draußen wieder dunkel, grau und ungemütlich, da braucht der Mensch etwas Warmes. Sowohl für den Leib, als auch für die Seele. Suppe ist bekanntermaßen ideal für den Leib und wärmt so richtig schön durch. Die Seele findet immer wieder in Märchen Trost und Erbauung. Eine Kombination aus beiden ist also die perfekte Winterwohltat – und die findet man in dem Bilderbuch von Kristina Andres: Suppe, satt, es war einmal.

Mathilda lebt mit ihrer Mutter im Wald. Draußen heulen die Wölfe und würden am liebsten Ziegen und Hühner fressen und die Kinder aus dem Dorf rauben. Doch Mathilda hat keine Angst vor den Wölfen, auch als ihre Mutter weit weg zur Königin muss und das Mädchen für einige Zeit allein lässt. Denn Mathilda hat von ihrer Großmutter drei mächtige Worte gelernt: „Suppe“, „satt“ und „es war einmal“. Und so kocht sie am Abend einen großen Topf Linsensuppe mit Speck, füllt die Wölfe damit ab, dass die so satt sind, dass sie weder Ziege noch Huhn anrühren. Danach erzählt das Mädchen den struppigen Vierbeinern eine Geschichte.  Erst am nächsten Morgen schickt sie die Wölfe fort. Nur der kleinste versteckt sich unter Mathildas Bett und will nicht mehr raus.

So geht es nun Abend für Abend, bis schließlich alle Wölfe unter Mathildas Bett stecken. Sie stellt fest, dass es so nicht weitergehen kann. Also packt sie die Wölfe unter ihren warmen Wintermantel und verteilt die gebändigten Tiere im Dorf. Nachbarn, die sich weigern einen Wolf aufzunehmen, droht sie damit, ihn wieder in die Kälte zu entlassen, wo er wieder wild und feindselig werden würde. Dieses Risiko will natürlich kein Dorfbewohner eingehen.

Winter, Wölfe, Ziegen – man denkt natürlich unweigerlich an das Grimm’sche Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein. Und wird dann von Kristina Andres mit einer ganz feinen und sehr leckeren Märchen-Variation überrascht. Ihre federleicht gezeichneten und anheimlig kolorierten Bilder versetzen den Betrachter in eine kuschelige Winterhütte, in der es jede Menge zu entdecken gibt. Denn Mathildas Häuschen beherbergt jede Menge Bewohner, und die machen es sich in allen möglichen Ecken und Winkeln bequem. Der alte Holzofen, auf dem die Suppe überkocht, verbreitet eine behagliche Wärme, die an den Wänden aufgehängten Kräuter und Tannenzweige verströmen würzigen Duft. Man kann die Wölfe verstehen, die sich vor dem Fenster drängen, dass sie in dieses kleine, behagliche Winterparadies möchten. Die Frechheit der Miniziege, die die Eindringlinge schließlich mit Äpfeln beschießt, nehmen sie dafür stoisch – oder sollte man sagen, pappsatt – in Kauf.

Suppe, satt, es war einmal von Kristina Andres geht ans Herz, wärmt das Gemüt und hat das Potential, zur Lieblingsspeise in Sachen Vorlese-Bilderbücher bei den Kindern zu werden. Denn an den Bildern kann man sich gar nicht satt sehen, immer findet man etwas Neues, und dass Mathilda den allerkleinsten Wolf schließlich „Hund“ tauft, fügt diesem Märchen einen menschheitsgeschichtlichen Aha-Effekt hinzu, der einfach genial ist.

Kristina Andres: Suppe, satt, es war einmal, Bloomsbury Verlag, 2012, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro

Ausgezeichnet!

patrick Ness sieben minuten nach MitternachtZurück von der Buchmesse 2012 – ich bin noch ganz berauscht von den Buch- und Menschenmassen. Viele Termine, viele Gespräche, viele Ideen und Anregungen haben die vergangenen Tage bestimmt, und die muss ich jetzt erst einmal verarbeiten. Außerdem muss ich unbedingt noch ein paar Bücher lesen: Denn gestern Abend wurden der Deutsche Jugendliteraturpreis 2012 verliehen – und ich habe von den Gewinnern erst zwei gelesen (auch das passiert, wenn man vor lauter fesselnder Neuerscheinungen überhaupt nicht hinterher kommt mit der Lektüre …).

Die Verleihung im Saal Harmonie des Frankfurter Congress Centrums war mit 1200 Gästen proppenvoll, und die Spannung war förmlich zu spüren. Zurecht bezeichnete Nils Mohl die Veranstaltung als „Folter“. Für seinen Jugendbuchroman Es war einmal Indianerland und vier weitere Titel ging das etwa ein einhalbstündige Martyrium dann aber mit einem Preis, der Momo, aus. Ganz besonders hat mich die Wahl der Jugendjury gefreut, die sich für Sieben Minuten nach Mitternacht von Patrick Ness entschieden hat.

Diesen berührenden Roman habe ich vor genau einem Jahr nach der Buchmesse 2011 gelesen. Und daraufhin diesen Blog eingerichtet, um meine Begeisterung darüber unmittelbar teilen zu können. So hat sich gestern für mich nach einem Jahr Bloggen ein Kreis geschlossen. Was ich nun als gutes Omen für dieses Unternehmen hier deute und das mich anspornt, weiter über wundervolle Bücher zu schreiben. So stapeln sich auf meinem Schreibtisch auch schon die nächsten Romane und Bilderbücher, die ich demnächst in diesem Rahmen vorstellen werde. Zudem haben sich in den vergangenen Tagen schon die nächsten spannenden und vielversprechenden Titel angekündigt. Schöner kann eine Buchmesse eigentlich nicht laufen!

Die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2012 möchte ich, auch wenn ich nicht alle bis jetzt gelesen habe, hier dennoch nennen:

deutscher jugendliteraturpreis 2012

In der Sparte Bilderbuch: Pija Lindenbaum: Mia schläft woanders, Übersetzung: Kerstin Behnken, Oetinger Verlag, 2011, 40 Seiten, ab 4, 12,95 Euro.

Die Jury meint: „Eine ganz alltägliche Kindererfahrung wird […] gegen den Strich gebürstet und in beeindruckende Bilder un einen klugen Text gefasst.“

 

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Kinderbuch: Finn-OleHeinrich/Ran Flygenring,: Frerk, du Zwerg! Bloomsbury Verlag, 2011, 96 Seiten,  ab 7, 16 Euro.

„Der sprachgewandte, fabulierlustige und semantisch kreative Text Heinrichs mit den frech-versponnenen Krakelbildern Flygenrings ist Quatsch in seinem allerbesten und feinsten Sinne“,  sagt die Kritikerjury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Sachbuch: Oscar Brenifier: Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? Illustrationen: Jacques Després, Übersetzung: Norbert Bolz, Gabriel Verlag, 2011, 96 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Dieses ungewöhnliche Philosophie-Buch „plädiert für eine Denkkultur, die in einer an Informationen und Fakten überreichen Welt auf eine Tiefe setzt, die nur aus der ‚Langsamkeit‘ analogen Denkens heraus entstehen kann“ – so die Jury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Jugendbuch: Nils Mohl: Es war einmal Indianerland, Rowohlt Verlag, 2011, 345 Seiten, 12,99 Euro.

Die Jury hält diesen Roman für kunstvoll gebaut, „der mit seinen zahlreichen Neologismen auch sprachlich innovativ und überzeugend ist. Er bietet dem Leser eine neue und aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte.“

Und schließlich der Preis der Jugendjury: Patrick Ness/Siobhan Dowd: Sieben Minuten nach Mitternacht, Übersetzung: Bettina Abarbanell, cbj Verlag, 2011,   213 Seiten,  ab 12,  16,99 Euro.

Die Jugendlichen meinen, dass „die mächtigen sprachlichen Bilder und die Illustrationen eine perfekte Atmosphäre für die diese traurige, berührende, teilweise aber auch unterhaltsame Geschichte liefern.“

Der Sonderpreis für das Gesamtwerk ging dieses Jahr an den Illustrator Norman Junge, der spätestens seit Fünfter sein von Ernst Jandl in fast allen Haushalten präsent sein dürfte…

Herzlichen Glückwunsch allen Autoren, Übersetzern, Illustratoren und Verlagen!

Worte zu Bildern

tipp tappLernen in Verbindung mit Technik übt eigentlich auf alle Altersklassen immer wieder eine gesteigerte Faszination aus. Das ist jedenfalls meine ganz persönliche, sicherlich nicht repräsentative Beobachtung. Gerade am Anfang kann man die Finger nicht von dem neuen Spielzeug lassen, meint, vermeintlich besser und schneller zu lernen, als antiquiert mit Büchern, Stift und Papier. Meist verfliegt der Reiz des Neuen ganz schnell, und der Computer wird wieder für angeblich vergnüglichere Dinge benutzt.

Ein interaktives Lernspiel aus diesem Frühjahr hat jedoch gute Chance zu einem Dauerbrenner zu werden: Das interaktive Bildwörterbuch tipp tapp der französischen Illustratoren und Grafiker Boisrobert und Rigaud. Schiebt man die mitgelieferte CD in einen Computer (PC oder Mac), öffnet sich ein Programm, mit dem der Nutzer/die Nutzerin Worte tippen kann. Hört sich erstmal langweilig an. Doch bei jedem Wort, das richtig eingetippt wird, ploppt auf dem Bildschirm die entsprechende Figur oder der jeweilige Gegenstand auf. Und wie von Zauberhand entsteht nach und nach ein Bild. Das Bilderbuch zeigt, welche Dinge auf dem Bildschirm auftauchen können: Mädchen, Junge, Berge, Kühe, Schafe, Bäume, Grashalme, Kleingetier und vieles mehr.

Doch dabei bleibt es nicht, denn das Getier bewegt sich: Schnecken kriechen durchs Bild, Mücken sausen herum, alles ist irgendwie in Bewegung. So entstehen Landschaften, Flüsse, Bauernhöfe, Picknick-Partys, Fantasiewelten. Tippt man „Winter“ oder „Herbst“ ein, verlieren die Bäume beispielsweise die Blätter oder verändern ihre Farbe. Lässt man es regnen, schneien oder stürmen, weht es schon mal die Figuren um. Herrlich! tipp tapp ist wie eine Wundertüte, die unzählige Überraschungen bereithält.

Der Stil der Illustrationen, sowohl im Buch als auch der Figuren auf dem Bildschirm, erinnern mich an Bilder, die man in früheren Zeiten aus Pergamentpapier gebastelt hat. Leicht und durchscheinend sehen die Figuren aus. Überlagern sich zwei Farben, entsteht eine dritte. Die reduzierten Formen aus Kreis, Dreieck und Viereck, verleihen den Figuren abstrakte Klarheit. Überflüssig zu sagen, dass man auch die Farben verändern kann, indem man „rot“ oder „blau“ usw. eingibt.

Die Ergebnisse einer Session kann der Künstler, Schüler, Spieler abspeichern und ausdrucken. So geht nichts von dem Lern- und Spielspaß verloren. Das Bildwörterbuch selbst kann natürlich unabhängig vom Computer als Bilderbuch angeschaut und durchgeblättert werden. Die Geschichten dazu muss man sich dann eben selbst ausdenken …

Manche Worte scheinen mir für die kleinen Computerfreaks fast ein wenig zu lang zu sein, wie beispielsweise „3 FEUERWERKSRAKETEN“, doch hat man sich durch diese Bandwurmworte getippt, wird man mit einem ganz entzückenden Feuerwerk belohnt. Aber wahrscheinlich ist der Lerneffekt so groß, dass gerade auch solche Wortmonster so anregend sind und solch eine Herausforderung darstellen, dass man eben immer weiter mit tipp tapp macht, bis man alle Varianten durchprobiert hat. Mit so einem Programm macht Lernen also nicht nur Laune, sondern auch noch Kunst.

Anouck Boisrobert/Louis Rigaud: tipp tapp. Mein interaktives Bildwörterbuch, Jacoby & Stuart 2012, 48 Seiten mit CD-ROM, ab 4, 19,95 Euro

Ein Fest für Augen und Ohren

Herzlichen Glückwunsch, kleines HuhnNeulich hatte ich seit langem mal wieder eine wohlige Gänsehaut. Als die ersten Takte von „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ aus meinen Boxen tönten, ahnte ich, dass mich hier etwas ganz Besonderes erwartet. Nach einer knappen Stunde war ich völlig hingerissen.

Das Kinderliederbuch Herzlichen Glückwunsch, kleines Huhn! erzählt in 24 ganzseitigen Bildern und ebenso vielen Liedern auf einer beigelegten Audio-CD die Geschichte einer großen Party. Von der Mühle am Bach berichtet das Eichhörnchen Eddie in einer 24-Stunden-Übertragung aus dem Baum-Studio, wie sich Mutter Huhn auf den Schlupf ihres Kükens freut und alle Bewohner der Mühle eine zünftige Geburtstagsfeier vorbereiten. Zu den Gästen gehören allerdings nicht nur hiesige Zwei- und Vierbeiner, sondern auch Affe, Elefant und Krokodil.

Auf jedem der Bilder von Illustratorin Franziska Biermann gibt es Unmengen zu entdecken, von den Thymian-Töpfen, den Kokosnusstours bis zu den Spiegeleiern, die merkwürdigerweise auf dem Sonnenschirm brutzeln. Es wimmelt so unglaublich, dass man schon ganz genau hinschauen muss, um mitzubekommen, dass aus einem Ei plötzlich drei werden, aus denen kleine kroko-gänse-hühnchenartige Geburtstagskinder schlüpfen.

Die Musik zu den Bildern tut ihr Übriges, damit die Party richtig rockt. Altbekannte Kinderlieder, neubetextete Melodien und zwei Eigenkompositionen von Nils Kacirek und Franziska Biermann zeigen aufs Schönste, dass Kinderlieder alles anderes als getragen und eintönig sein müssen.

Das ist sicherlich keine neue Erkenntnis, aber die Arrangements zwischen Jazz, Swing, Country oder Latin von Nils Kacirek und Jörg Hochapfel packen die Zuhörer vom ersten Takt an. Da bleibt niemand auf dem Sofa hocken, sondern alles tanzt, wippt, hampelt. Denn die Bläsersätze grooven, das Akkordeon entführt nach Paris und das Katzenduett animiert zum Mitsingen.

Überhaupt singen: Man kann gar nicht anders, man muss einfach mitsingen. Das wird einem zusätzlich leicht gemacht, da Texte und Noten der Lieder mitgeliefert werden. Die Ausrede der mangelnden Textkenntnis zählt nicht mehr. Die Dichtungen von Hoffman von Fallersleben, Herder oder Matthias Claudius erklingen hier in zeitgemäßem Gewand. Das Spiel mit Texten und Melodien zeigt wie das Prinzip volkstümlicher Musik funktionieren muss: Aus Altbewährtem etwas Zeitgemäßes machen, das einen Bogen von Vergangenheit und Tradition zu den Bedürfnissen und Hörgewohnheiten der Gegenwart schlägt. Das ist hier vortrefflich gelungen.

Und das Schöne an diesen Liedversionen ist, dass man sie sich nicht so schnell überhört. Da wird es auch die Erwachsenen gar nicht stören, wenn die Kinder nicht mehr von Buch und Musik lassen können und die CD in die Endlosschleife schicken.

Franziska Biermann/Nils Kacirek/Susanne Koppe: Herzlichen Glückwunsch, kleines Huhn! Die 24 schönsten Kinderlieder zum Anschauen, Hören und Mitzwitschern! Carlsen, 2013, mit Audio-CD, ab 4, 19,95 Euro

Familienglück

Am Wochenende habe ich hier in Berlin die ersten grünen Triebe und Schneeglöckchen entdeckt. Ganz zart und leise machen sie sich breit. Es wird Frühling. Und genau dazu passt das total liebenswerte Bilderbuch Wunschkind von Lilli L’Arronge.

Denn im Frühling wird gebaut und gegründet. Zuerst die Nester dann die Familien. Eichhörnchen und Rotkehlchen finden das wunderbar und beschließen, ebenfalls eine Familie zu gründen. Sie bauen ein Nest – und warten auf das Ei. Denn das kommt ja von selbst, man braucht nur etwas Geduld.

Und Recht haben sie. Eines Tages liegt ein riesiges Ei im Nest. Es ist „ganz genau richtig“. Rotkehlchen und Eichhörnchen brüten und verteidigen, bis das Küken schlüpft. Es ist prächtig, mit einem Schnabel wie der von Rotkehlchen und einem Fell in der Farbe wie die von Eichhörnchen, also „einfach ganz genau richtig“. Allerdings ist eine Familie zu haben anstrengender als gedacht. Aber sie macht glücklich.

Und genau das kann man auch von diesem Buch sagen: Es macht glücklich!

Es ist eine Liebeserklärung an die Familie, und zwar auch an die Patchwork-Gemeinschaften aus eigentlich nicht ganz kompatiblen Familienmitgliedern. Auch sie finden ihr Glück – mit Fleiß, Geduld und der Offenheit, auch ein Kuckuckskind als „ganz genau richtig“ zu akzeptieren.

Die Bilder in den leuchtenden Farben mit dem leicht kantigen, kräftigen Strich sind auf das Wesentliche reduziert und erzählen von der ungewöhnlichen Liebe der kleinen, zusammengewürfelten Familie.

Die kurzen Texte in einer frech-unperfekten Stencil-Schriftart sehen wie gestempelt aus und geben dem Ganzen einen frischen Touch.

Perfekt zum Vorlesen, gemeinsamen Anschauen und einfach großartig!

Lilli L’Arronge: Wunschkind, Jacoby & Stuart, 2012, 32 Seiten, ab 3, 12,95 Euro