Entfesselte Energie

Löwenmäulchen sind hübsche Blumen. Als Mädchenname taugt das von Hummeln sehr geschätzte Wegerichgewächs nicht so gut – im Deutschen. Snapdragon klingt dagegen super. Und passend für die mutige, eigenwillige Heldin in Kat Leyhs gleichnamigen Comic.

Hexen gibt’s nicht, oder?

Auf der Suche nach ihrem Hund fährt Snapdragon zum Haus der Hexe. Zumindest halten ihre Mitschüler sie für eine und erzählen gruselige Geschichten über die Einsiedlerin im langen schwarzen Mantel, mit großem Hut und dunkler Augenklappe. Aber Hexen gibt es doch nicht, oder?
Tatsächlich findet Snapdragon ihre kleine Bulldogge wohlbehalten bei der knurrigen, unheimlichen Frau. Und freundet sich nach und nach mit ihr an. Dabei spielen viele Tiere eine wichtige Rolle. Die meisten tot, überfahren auf der Straße. Jacks, so heißt die Alte, kümmert sich um sie, um ihre achtlos liegengelassenen Kadaver – und ihre Seelen. Den toten Tieren haucht sie wieder neues Leben ein, indem sie ihre Skelette minutiös rekonstruiert und an Sammler oder Museen im Internet verkauft. »Wow«, sagt Snapdragon beeindruckt. Jacks lächelt geschmeichelt. Bis das Mädchen gleich hinterherschiebt: »Jemand Altes, der das Internet benutzt.«

Respekt gegenüber allen

Das ist ein ganz kleiner Moment, drei Bilder kurz, in dem Kat Leyh, die bislang vor allem Superheldengeschichten illustriert hat, sehr geschickt und ganz beiläufig auch das Thema Altersdiskriminierung einflicht. Denn darum geht es in ihrem ersten Kindercomic: um Vielfalt und Respekt gegenüber allen. Allen Menschen und allen Lebewesen. Egal, ob Mädchen wild und draufgängerisch sind. Jungs lieber Mädchenkleider tragen und ein Faible für Lila haben. Frauen Motorradrennen fahren und Frauen lieben.
»Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang schon Carsten Friedrichs von der Liga der Gewöhnlichen Gentlemen (dessen brillante Songtexte auch als Buch zu haben sind, Später kommen, früher gehen, Ventil Verlag, 216 Seiten, 17 Euro). Das zu erkennen, zu akzeptieren und auszuleben kostet viel Energie. Es kann aber auch fantastische und inspirierende Kräfte entfesseln.

Seiten mit dramaturgischem Kniff

Von Außenseitern mit starkem Willen und großen Herzen erzählt Kat Leyh in klaren Panels mit kräftigen Farben. Ihre Figuren sind höchst lebendig, mit hochemotionaler Mimik und dynamischen Bewegungen. Auf manchen Seiten verwendet Leyh mit dem letzten Bild unten rechts einen dramaturgischen Kniff: In Serien würde man vielleicht von Cliffhängern sprechen. Hier sind es eher Appetithäppchen oder Teaser, die einen sofort neugierig umblättern lassen und gleich in die nächste Szene hineinziehen.

… und ein Schuss Magie

Eine starke Nebenfigur ist auch Snapdragons alleinerziehende, hart arbeitende Mutter. Respekteinflößend und ebenso respektvoll und anerkennend. Als sie zum Beispiel von der Arbeit weg in die Schule zitiert wird, ist sie nicht wütend auf ihre Tochter. Sie lobt Snapdragon, weil diese ihren Freund Lu gegen gehässige, sexistische Mitschüler verteidigt hat. Was ihr blumiger Vorname für eine Bedeutung hat, das ergibt sich in der in der wunderbar verwoben Geschichte und wird hier natürlich nicht verraten.
Kat Leyhs Snapdragon ist ein mitreißender, ausdrucksstarker und famos gezeichneter Comic, ebenso bunt wie seine Heldenfiguren. Mit einer spannenden Geschichte, beeindruckenden Charakteren – und einem klugen Schuss Magie.

Kat Leyh: Snapdragon, Übersetzung: Matthias Wieland, Lettering: Kathrin Liehr, Reprodukt, 240 Seiten, 20 Euro, ab 10

Es lebe die Vielfalt, es lebe Babette!

Es ist bunt und der Inhalt ist köstlich – also das perfekte Geschenk zu Ostern! Und es ist eckig, also kein Ei, sondern Tanja Eschs famoser Kindercomic Boris, Babette und lauter Skelette. Lynette (nicht zu verwechseln mit der Babette im Titel, dazu gleich mehr) geht für ein Jahr nach England und bittet Boris, einen Nachbarjungen ihr Haustier zu nehmen – Babette. Wer oder was ist Babette? Das weiß niemand.

Alien können ein Lied von fehlender Gastfreundschaft singen

Ursprünglich als kleines, hamsterartiges Tier in der Tierhandlung erworben, ist sie oder es oder er mittlerweile etwa so groß wie eine Katze, hat vier Beine, läuft aber aufrecht auf den hinteren, futtert gern Flips – und kann sprechen! Genau aus dem Grund muss ihre Existenz unbedingt geheim gehalten werden. »Fernsehen, Zeitungen, Wissenschaftler, alle würden uns die Tür einrennen … und wahrscheinlich würde man sie uns sogar wegnehmen, um irgendwelche kruden Experimente mit ihr zu machen«, malt Lynette sehr anschaulich und realistisch aus, was passieren würde, wenn andere von Babette erfahren würden. Außerirdische können ein frustriertes Lied von fehlender Gastfreundschaft auf der Erde singen – sofern sie es überlebt haben. Man denke nur an den schön schnoddrigen Paul (Ein Alien auf der Flucht) aus gleichnamigem Film.

Babette braucht Gruschel

Boris darf aber kein Haustier haben, sein Vater findet tierische Mitbewohner zu schmutzend und möchte nicht ständig putzen. Also richtet Boris ihr ein gemütliches Versteck unter seinem Hochbett ein. Dort liegt Babette am nächsten Morgen ganz melancholisch und apathisch. Was fehlt ihr? »Babette traurig. Babette braucht Schkelette. Babette braucht Monschter. Babette braucht Gruschel«, erklärt das einzigartige Wesen, mit einem charmant nuscheligem Sprachfehler.

Skelette aus Stöcken geschnitzt

Das Faible fürs Unheimliche hat Babette wahrscheinlich von Lynette, eher ein Gothic Girl. Ein bisschen Halloween-Deko kann Babette absolut nicht aufheitern. Hier kommt Boris‘ Opa Taio ins Spiel, der kann alles schnitzen, also auch ein paar überzeugende Knochen aus Stöcken. Doch als Boris und Babette ein klasse Gruschel-Party feiern, beginnt der wahre Schocker: Mitten im schönsten Tanz der Vampire werden sie von Boris‘ Eltern entdeckt!
Die bekommen erst einen Mordsschrecken, halten Babette für einen eingedrungenen, bissigen, infizierten Waschbären. Sind aber auch nicht wirklich beruhigt, als Boris ihnen den ungebetenen Gast in ihrer Wohnung vorstellt.

Warum macht das Fremde aggressiv?

Das ist der Beginn einer abenteuerlichen Geschichte, in der es auch, aber nicht nur um die Frage von Identität geht. Was ist mit Wesen, die einzigartig und außerordentlich sind und in keine gängige Schublade passen? Das Unbekannte, Fremde macht Menschen Angst. Und sie reagieren darauf aggressiv. Warum?
Boris, sein Vater Yaris und sein Großvater Taio sind schwarz. Das ist aber gar kein Thema in Tanja Eschs Comic. Als Boris von seinem Mitschüler Flo drangsaliert wird, macht der sich über Boris‘ Fahrradhelm lustig. Für die jüngere Generation spielt die Hautfarbe keine Rolle. Das hat Taio noch ganz anders erlebt, als er Ende der 1970er Jahre nach Deutschland gekommen ist: »Ich war überall der einzige Schwarze. Meine Kollegen waren echt nett, da war das nie ein Problem. Aber auf der Straße, im Bus oder im Supermarkt wurde ich ständig angestarrt und beschimpft«, erzählt Taio Babette.

Abstrakten Begriff lebendig gezeichnet

Tanja Esch erzählt in ihrem bunten Comic klug und witzig von Toleranz und Respekt. Und wie schön und bereichernd es sein kann, alle Wesen so zu akzeptieren, wie sie sind und sich auf sie einzulassen. Das ist es, was sich hinter dem abstrakten Begriff Diversität verbirgt. Die Comickünstlerin muss das Schlagwort nicht bemühen, sie zeigt, was es bedeutet und beherzigt die auch für wirklich gute, mitreißende Filme gültige Regel »Show, don’t tell«.
Es lebe die Vielfalt, es lebe Babette.

Tanja Esch: Boris, Babette und lauter Skelette, Kibitz Verlag, 2022, 160 Seiten, ab 8, 20 Euro

Gefährliche Comics

Comics

Als Kind habe ich einer Mitschülerin ein paar Comics geliehen, vor allem Asterix-Bände, darunter auch ein oder zwei englischsprachige, die uns Geschwistern die englische Freundin meiner Mutter geschenkt hatte. Ich habe die Comics nie wiedergesehen. Nach einiger Zeit gestand mir das Mädchen, dass ihre Mutter die Hefte bei ihr entdeckt und weggeworfen hatte. Natürlich habe ich mich ziemlich geärgert. Und meine Freundin tat mir auch leid.
Vor allem aber war ich fassungslos, wie jemand Bücher, noch dazu Asterix-Geschichten, die doch auch von Erwachsenen gelesen werden, wegwerfen konnte!
Vielleicht hat sie geahnt, wie gefährlich Comics sein können. Das Lesen der bunt illustrierten Bildergeschichten mit den Sprechblasen kann nämlich zum eigenständigen Denken anregen.

Verführung zum zivilen Ungehorsam

Comics hinterfragen Vorurteile. Sie erweitern den Horizont. Und womöglich verführen sie zum zivilen Ungehorsam. So wie die beiden umwerfenden Kindercomics Herr Elefant & Frau Grau gehen in die große Stadt und Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde.
Die ungewöhnliche Paarung mit Landfluchttenzenz haben sich Martin Baltscheit,  Grandseigneur tierisch kluger Kindergeschichten (Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte) und der mindestens ebenso tiervernarrte Illustrator Max Fiedler ausgedacht.
Jeder Tag beginnt mit Fressen und Gefressenwerden, wie gleich in einer sehr lustigen, zweiseitigen Bilderfolge gezeigt wird. Aber nicht nur: Im Licht der aufgehenden Sonne erlebt man, wie der Elefant und Frau Grau erste zarte Bande spinnen. In schüchternen  Dialoge mit sich munter türmenden Sprechblasen landen sie beim gemeinsamen Du: Horst und Elvira.

Ein Liebesbeweis als onomatopoetisches Feuerwerk

Ganz en passant ein entzückender Liebesbeweis am Wasserloch, als ein Krokodil mit Frühstückshunger aus dem Wasser auftaucht.
Hier zündet auf zwei Seiten ein onomatopoetisches Feuerwerk. Mit PFLATSCH, BATSCH und FFFFITSCHHHHHHHHHHH setzt Herr Elefant das Riesenreptil außer Gefecht und schleudert es weit in die Savanne.
Das Besondere: Frau Elvira Grau ist eine Antilope. Das ist für die beiden Verliebten gar kein Thema. Für viele andere aber schon. Zum Beispiel das Gnu, das sein Weltbild aus bei den Rangern mitgeguckten TV-Serien herleitet. Und für die albernen Fotosafaritouristen. Der erste zarte Kuss geht gleich viral.

Individuelle Wasserlöcher und Uuuuu-Bahnen

Dabei bleibt ein merkwürdiger, flacher, sprechender Käfer namens Siri auf der Strecke. Der bringt das Liebespaar auf die Idee, ihr gemeinsames Glück in der Stadt zu versuchen. Zu Städten mit riesigen Termitenbauten, Wasserlöchern für jeden einzelnen und Regenschauern wann immer man will, Aufzügen und Uuuuuu-Bahnen, vor allem zu ihren Bewohnern, den haarlosen Affen, gibt’s dann viele Meinungen und Ansichten. Und noch mehr sehr witzige und anspielungsreiche Bilder. Ob es in der Stadt – Siri hat Hamburg vorgeschlagen – wirklich so aussieht, das erfährt man dann vielleicht im nächsten Band.

Comics

Schlaue, lebenskluge Tiere spielen auch eine wichtige Rolle in Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde der lettischen Illustratorin Elina Braslina. Jakob wird vorübergehend bei seiner Cousine Mimi und ihrem Vater Falk einquartiert. Die wohnen im schraddeligen, runtergekommenen und bunten Viertel Maskatschka. Jakob dagegen kommt aus Rigas schickem, modernem Zentrum. Anfangs sind sich die beiden gar nicht grün, nicht nur, weil sie aus verschiedenen Welten kommen.
Auch das Rudel Hunde, das durch die Maskatschka – heißt übersetzt »Moskauer Vorstadt« – stromert, ist auf Menschen im allgemeinen und die – wie sie finden – »zickige Mimi« im besonderen nicht so gut zu sprechen. Aber plötzlich rücken Bagger und Betonmischer der Baufirma Raffke an. Alle Bäume im Park sollen gefällt werden und Wolkenkratzer inmitten der alten Holzhäuser hochgezogen werden. Nur gemeinsam können sie die Maskatschka retten.

Die Kraft von Bildern und Plänen

Dieser auf einem Zeichentrickfilm basierender Kindercomic ist eine entzückende Entdeckung des Reprodukt-Verlags. Einerseits ist es eine sehr charmante, geradezu klassische Kinder-Heldengeschichte, in der Zusammenhalt, Mut und Fantasie schließlich gewinnen. Die manchmal gefährliche Kraft von Bildern und Plänen spielt auch eine Rolle. Erzählt wird sie in lebendigen, liebevoll ausgestalteten und sehr schön kolorierten Panels.
Das bunte, dynamische Abenteuer erklärt auch das sehr gegenwärtige Problem der Gentrifizierung – dem Wandel von Städten, der Macht des Kapitals und die Verdrängung aller, die nicht so viel Geld haben. Aber mit Vielfalt, Kreativität und Solidarität kann der Trend zu überteuerten, seelenlosen und anonymen Städten gestoppt werden. Nicht nur in diesem zauberhaften Comic.

Martin Baltscheit, Max Fiedler (Illus.): Herr Elefant & Frau Grau gehen in die große Stadt, Kibitz Verlag, 64 Seiten, 14 Euro, ab 6

Elina Braslina: Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde, Übersetzung: Matthias Knoll, Reprodukt, 80 Seiten, 14 Euro, ab 6

Ich wollt‘, ich hätt‘ ein Huhn

Ich wollt‘, ich wär‘ ein Huhn
Ich hätt‘ nicht viel zu tun
Ich legte jeden Vormittag ein Ei
Und abends hätt ich frei

Ich müsste nie mehr ins Büro
Ich wäre dämlich aber froh«
Die Comedian Harmonists in allen Ehren, aber da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt (um mal ein genauso schräges und falsches Tierbild zu bemühen).
Hühner sind nämlich überhaupt nicht dämlich, wie das geniale Sachbuch Ich wollt‘, ich wär‘ ein Huhn – Wissenswertes über unser liebstes Federvieh von Barbara Sandri und Francesco Giubbilini und der Illustratorin Camilla Pintonato zeigt. (Über das bescheuerte Wort dämlich, insbesondere im Vergleich mit herrlich, können wir uns bei nächster Gelegenheit unterhalten.)

Logisch denken und Rundumblick

»Das Gehirn eines Huhns ist zwar klein, verfügt aber über mehr Neuronen als das vieler Säugetiere und sogar mancher Primaten. Hühner können logisch denken und haben erstaunliche kognitive Fähigkeiten. Mit etwas Übung können sie Hindernisläufe absolvieren, Gleichgewichtsübungen machen, kegeln und sogar Klavier spielen.« Das sind nur ein paar von vielen faszinierenden Fakten in diesem fabelhaft illustrierten Kompendium.
Hühner können zudem sehr gut sehen und haben ein Gesichtsfeld von 300 Grad, also fast einen Rundumblick, wir Menschen schaffen nur den halben Kreis von 180 Grad. Als Fluchttier kann das Huhn in verschiedene Richtungen schauen, also den Regenwurm am Boden fixieren und den Himmel wegen Raubvögeln im Auge behalten.

Gurren und Schnurren

Obwohl sie nicht so gut hören, wissen sie klassische Musik zu schätzen und kommunizieren mit unterschiedlichen Lauten über Leckerbissen oder Gefahr. Wenn sie entspannt sind, gurren sie leise, so wie Katzen schnurren.
Die besonderen Vögel können aufgrund ihrer sympathischen Ausstrahlung als Therapietiere Menschen mit psychischen und emotionalen Problemen helfen. Sie sind sogar »Emotional Support Animals«, also Trosttiere, die zum Beispiel bei Flugangst beruhigend wirken. Hühner sind übrigens selbst keine so guten Flieger, bei Gefahr bleibt’s beim Aufflattern über kurze Distanz, Langstreckenflüge sind nicht so ihr Ding.

Zitronengelb bis fast Schwarz

Hühner sind ungeheuer vielfältig in Farbe, Größe, Temperament, Federkleid, Kamm und Füßen. Auch gleicht kein Ei dem anderen. Camilla Pintonato macht schon das Vorsatzpapier zum Hingucker mit 40 verschiedenen Eiern von Zitronengelb über Himmelblau und Rotbraun bis fast Schwarz. Anatomie, Färbungen, Gefieder, Entwicklungsstadien von der befruchteten Keimscheibe zum Huhn oder Hahn, die 5000 Jahre alte Geschichte von Mensch und Huhn – jede Seite ist auch optisch ein Genuss. Krönender Schluss sind die kunstvollen Tableaus zu verschiedenen Hühnerrassen, darunter Teufelshühner, pechschwarze Vögel auf Sumatra und Java, flauschige Federkugeln, Antwerpener Bartzwerge und zierlich elegante Adelige aus England.

Als Eierlegeapparate missbraucht

Sogar die Doppelseite mit fiesen Parasiten und Keimen wie Hühnerlaus und rote Vogelmilbe, die Hühner richtig krank machen können, ist sehenswert. Wenn Hühner glücklich und gut umsorgt leben, werden sie durchschnittlich acht Jahre alt, manche sogar 20 Jahre. Umso trauriger ist es, dass das den wenigsten Hühner vergönnt ist, weil sie als Eierlegeapparate missbraucht und ausgebeutet werden. Oder zum Verzehr gemästet und nach wenigen Monaten geschlachtet.

Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?

Auch die alte Menschheitsfrage wird beantwortet: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Dem Huhn ist es wahrscheinlich schnurzpiepe, aber die absolut logische und wissenschaftlich begründete Antwort lautet … Ha, das wird hier natürlich nicht verraten! Das kann jeder selbst nachlesen in diesem entzückenden Buch. Dessen Titel auch lauten könnte »Ich wollt‘, ich hätt‘ ein Huhn«.

Barbara Sandri/Francesco Giubbilini: Ich wollt‘, ich wär‘ ein Huhn – Wissenswertes über unser liebstes Federvieh, Illustrationen: Camilla Pintonato, Übersetzung: Christina Gauglitz, Kleine Gestalten, 72 Seiten, 19,90 Euro, ab 7 Jahre

Monster, Mysterien und andere Merkwürdigkeiten

Freeman

Bevor sich jemand wundert: Ich mag keine bekleideten Tiere. Die Idee dahinter hat sich mir nie erschlossen. Als ob Tiere per se der kindlichen Realität und Wahrnehmung dann mehr entsprechen würden. Und das in Zeiten, in denen viele nicht mal mehr mit einem Haustier aufwachsen. Und wenn doch, dann trägt es bestimmt keine Klamotten. Ich glaube, dass es manchen Illustratoren leichter fällt, unterschiedliche Tiertypen statt verschiedene menschliche Charaktere zu zeichnen.
Zum Glück weiß nicht jeder von meiner Abneigung. Sonst wäre mir nicht Tor Freemans fabelhafter (das Wortspiel sei erlaubt) Kindercomic Willkommen in Oddleigh ans Herz gelegt worden.

Fabelhafte Vielfalt

Dass darin ausschließlich mehr oder minder bekleidete Tiere spielen, stört mich in diesem Fall nämlich überhaupt nicht. Ich verstehe sogar, warum sich die junge englische Kinderbuchautorin und Illustratorin Tor Freeman für tierische Helden entschieden hat. Ihre Comicbilder sind nicht nur ausgesprochen kunstvoll und vergnüglich anzusehen, darüber hinaus bringt sie ganz nonchalant eine ungeheuere Vielfalt in das typisch englische Städtchen Oddleigh. Odd heißt zwar »merkwürdig«, und merkwürdig sind die fünf Geschichten in diesem Buch auch: Angefangen mit Der Fluch von Lorringham, einer anspielungsreichen Mischung aus Sherlock-Holmes-Mystery und Edgar-Wallace-Atmosphäre.
Wo aber in anderen Büchern mühsam um diversity gerungen und bis zum geht nicht mehr gegendert wird, ist hier das gleichberechtigte Zusammenleben längst normal.

Vorliebe für Tee, Tweed und Kreuzworträtsel

Hauptfiguren sind die Kleinstadtpolizisten Chief und Sid. Chief leitet das Dezernat und ist ein erdferkelartiges weibliches Wesen namens Jessie. Sid ein freundlicher großer, roter Kater, ein wandelndes britisches Klischee, dessen Vorliebe für Tee, Kreuzworträtsel und Tweed mehrmals zu des Rätsels Lösung beiträgt.
Es tummelt sich allmögliches Getier in diesen Mysteries und Episoden. Doch nur bei der wahnhaften Verehrung eines Schmetterlingskokons durch eine Raupensekte spielen Art, Gattung und so etwas überhaupt ein Rolle. Viel interessanter ist die durchaus nicht ungefährliche Gruppendynamik dieses Kults.

Starkult und Glitzerzähnchen

Um einen anderen, nicht minder fragwürdigen Kult geht es auch in der letzten Geschichte, den Starkult, und was der wiederum in einer Familie anrichten kann.
Apropos Familie: Wer jemals beschämt mit grottigem Zahn in das glitzernde Zahnpastalächeln seines Dentisten geblickt hat, der wird sich über das dunkle Geheimnis des Zahnarztes freuen, Freud lässt grüßen.
Das macht Tor Freemans Bildergeschichten so grandios: Vermeintlich zeichnet sie zwar Comics für Kinder und empfiehlt sie ab 7+. Das Plus ist aber das große Plus, weil es für den erwachsenen Vor- und Mitleser massenhaft geistreiche und witzige Anspielungen gibt.

Kunst, Kino und Karaoke

So erhält zum Beispiel ein nach Millionen Jahren aus den Klippen gekratztes und nun quasi zugewanderte Flugsaurierkind einen Crashkurs für moderne Gesellschaften mit Fahrradfahren, Fastfood, öffentlichem Nahverkehr, Kunst, Kino und Karaoke.
So lass ich mir bekleidete Tiere gern gefallen.

Mehr zum Thema Mulltikulti liefert auch das folgende Buch: Sehr raffiniert vermischt Drew Weing in Die geheimnisvollen Akten von Margo Maloo mehrere klassische Kinderbuchsujets zu einem virtuosen Comic. Es geht um Monster, also Oger, Trolle, Kobolde, Geister in allen Formen, Größen und Nervgraden. Erzähler ist ein dicklicher, leicht nerdiger Junge namens Charles, der soeben mit seinen Eltern nach Echo City in ein düsteres, typisches Brownstonegebäude, ein ehemaliges Hotel gezogen ist. Und nicht nur die Skyline erinnert dabei an New York.

Superheldin und Stilikone

Natürlich gibt’s auch eine richtige, echte Superheldin – Margo Maloo. Wie aus dem Nichts taucht sie immer dann auf, wenn sie gebraucht wird, und verschwindet zum Kummer ihres eifrigen Begleiters auch immer wieder genauso schnell und grußlos.
Margo Maloo trägt statt Cape einen schicken, langen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, Benedict Cumberbatchs moderne Sherlock Holmes Interpretation im ikonischen Belstaff lässt grüßen, dazu schwarze Chelsea Boots und ebenso schwarzer Brooke-Shields-Bob-Haarschnitt. Geradezu ein It-Girl, wäre Margo nicht viel zu klug und beschäftigt, um auf Social Media Kanälen rumzuturnen und anderen Stil beizubringen.

Vermittlerin zwischen Monstern und Kindern

Margo ist keine Geisterjägerin, geschweige denn eine Ghostbuster*in (der Versuch, den 80er Jahre Trash zu feminisieren, ging vor einiger Zeit im Kino richtig daneben und war echt eklig).
Nein, Margo nennt sich Monster-Mediatorin und genau das kann sie: zwischen Kindern und Monstern vermitteln. Denn auch die häufig etwas plumpen, krawalligen, mit gefährlichem Appetit ausgestatteten Wesen in der Dunkelheit haben eine Existenzberechtigung.

Monster sind auch nur Mütter

Mit Charles lernen wir: Monster sind manchmal auch nur Mütter. Und sie kaufen ebenso ein, wohnen, spielen, raufen und saufen, haben Berufe, Familien und lange Vorgeschichten. Sammler und Nerds sind ebenso dabei. Sie sind hilflos, haben selbst Angst und Vorurteile, und benehmen sich nicht immer sehr diplomatisch. Aber eigentlich ist eine Stadt wie Echo City groß genug für Kinder und Monster, das ist nur eine Frage des Respekts. Das lehrt uns die wunderbare Margo Maloo in fantastisch gezeichneten Bildstrecken mit kühnen Perspektiven, gruseligen Abgründen und einem Sammelsurium an wundersamen Wesen. Ein anständiges Glossar gibt’s natürlich auch zum Schluss. »Sind Kinder an diesem Ort nicht die einzige unterdrückte Minderheit? Haben wir hier möglicherweise etwas gemeinsam … mit einem uralten Feind?«, resümiert Charles in seinem Blog. Wie es weitergeht in Echo City und Oddleigh, das erfahren wir hoffentlich ganz bald. Denn darauf war zumindest früher immer Verlass bei Comics – Fortsetzung folgt.

Tor Freeman: Willkommen in Oddleigh, Übersetzung: Matthias Wieland, Handlettering: Olav Korth, Reprodukt, 2020, 64 Seiten, ab 7, 18 Euro

Drew Weing: Die geheimnisvollen Akten von Margo Maloo, Übersetzung: Matthias Wieland, Handlettering: Michael Hau, Reprodukt, 2020, 72 Seiten, ab 8, 18 Euro

Am Tag sind alle Kater bunt

Kleine Kinder können ziemliche Spießer sein. Das Leben ist noch zu komplex für ihren unerfahrenen Verstand. Um nicht die Orientierung zu verlieren, beharren sie auf das möglichst immer Gleiche und Wiedererkennbare.
Man kann also gar nicht früh genug anfangen, den kindlichen Horizont zu erweitern. Da kommt Peter, Kater auf zwei Beinen genau richtig. Phil findet den schwarz-weißen Vierbeiner herzzerreißend miauend vor der Tür in einem kleinen Karton, auf dem ein Name steht: Peter.
Schnell öffnet er die Kiste. »Jetzt, wo er endlich frei war, stellte sich Peter, der Kater, gleich auf seine Hinterbeine. Phil hatte noch nie einen Kater auf zwei Beinen gesehen. Aber egal – er hatte schon immer davon geträumt, eine Katze zu haben! So kam es, dass er Peter gleich bei sich aufnahm.«

Mäusejagd auf dem Skateboard

Dieses »Aber egal« macht das Bilderbuch der Autorin Nadine Robert und des Illustrators Jean Jullien sofort absolut liebenswert.
Peter ist nämlich absolut kein typischer Kater und entspricht keinem Klischee, das Phils Schulfreundin Pam von Katzen hat. Anstatt Mäuse zu jagen, verfolgt der Kater sie lieber mit dem Skateboard. Statt mit Wollknäueln zu spielen, serviert er gelegentlich Tee.

Wollknäuel sind langweilig!

Grandios zeigt Jullien mit aufs Wesentliche reduzierten, farbigen Bildern, wie abwegig es dem Kater erscheint, eine freundliche, ebenfalls auf zwei Beinen stehende Maus zu jagen. Noch besser ist der höchst gelangweilte Gesichtsausdruck angesichts der Vorstellung, mit einem Wollknäuel rumzualbern.
Eher schenkt er schön blasiert wie die Karikatur eines altehrwürdigen Butlers Tee ein. Leicht irre und sehr witzig wird Peters Blick bei der Idee, nach seinem eigenen Schwanz zu schnappen. Wo er den doch viel geschickter nutzen kann, um damit ein Tässchen anzuheben.

Vielfalt des Lebens charmant gefeiert

Phil nimmt Peter so wie er ist. »Peter ist ein Kater auf zwei Beinen, und er ist sehr besonders. Aber am allerbesten finde ich …, dass er mein Freund ist.« Schöner und charmanter kann man die Vielfalt des Lebens und aller Lebewesen nicht zeigen und als absolute Bereicherung feiern. Was als Diversity gefordert wird, leben Phil, Peter und bald auch ihre jungen Leser ganz selbstverständlich.

Harry bleibt lieber drinnen – eigentlich

Seinen Horizont erweitert, wenn auch zunächst unfreiwillig, der gemütliche Siamkater Harry im Bilderbuch von Leo Timmers.
Harry hat zwar keine Schmetterlinge im Bauch. Aber einen vor der Nase. Und der fragt ihn, ob sie fangen spielen wollen. »Harry hatte noch nie draußen gespielt. Er bleibt lieber drinnen. Aber fangen spielen ist sicher sehr schön.«
Und so verlässt Harry ungewohnt mutig die bekannten vier Wände, folgt dem Schmetterling – und findet nicht mehr nach Hause. Er sieht, dass es ganz andere Häuser als seins gibt – kleine, hohe und niedrige. Traurig und ganz allein probiert er alles aus. Doch es gibt kein Haus für Harry bis er in einer stinkenden Mülltonne landet und dort andere, straßenschlaue und freundliche Katzen trifft.

Eine Art schnodderiger Aristocats

Der Niederländer Leo Timmers zeichnet den knuffigen Harry und die Katzenbande mit ihren großen Augen und knubbeligen Fellkörpern auf zarten Pfoten wie eine Art schnodderiger Aristocats. Dazu zitiert er fotorealistisch Elemente und Ausschnitte von verwirrenden Straßenschildern und Wegweisern. Gleich zu Anfang läuft Harry an einer Litfaßsäule vorbei, auf der gleichzeitig das Musical Cats und die Oper Madame Butterfly plakatiert sind.

Auf den Geschmack gekommen

Herrlich ist auch das bronzene Denkmal eines versonnen lächelnden Löwen, auf dessen Hinterteil selbstbewusst eine obligatorische Taube hockt. Timmers besonderer Stil macht Lust auf weitere Abenteuer.
Harry findet zwar schließlich nach Hause, wo er schon sehnsüchtig von einem Kind erwartet wird. Aber der Kater hat die Welt draußen entdeckt und ist auf den Geschmack gekommen: »Morgen komme ich wieder raus zum Spielen!«

Nadine Robert, Jean Jullien (Illustrationen): Peter, Kater auf zwei Beinen, Übersetzung: Daniel Beskos, mairisch, 2019, 56 Seiten, ab 3, 16 Euro

Leo Timmers: Ein Haus für Harry, Übersetzung: Rolf Erdorf, aracari 2019, 56 Seiten, ab 3, 14 Euro

Die Welt braucht mehr Leute wie Onkel Stan

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Was für ein Glück, A.L. Kennedy als Babysitterin zu haben! In ihren Romanen und Erzählungen für Erwachsene schreibt die schottische Schriftstellerin über kaputte, traumatisierte, versoffene, gewalttätige und gequälte Menschen, für die es keine Hoffnung gibt. In ihre Geschichten für Kinder von Onkel Stan und Dan aber packt sie so viel Freude, Optimismus, Liebe, Glück und Witz, dass man sie nicht wiedererkennt.
Weil es doch extrem schade wäre, wenn die Abenteuer vom Dachs Dan und seinem Freund Onkel Stan im schottischen Hochland bei den Zwillingen der Schauspielerin Tilda Swinton (denen hat Kennedy sie vor Jahren erzählt) verschwinden würden, erscheinen sie jetzt nach und nach in Buchform.

A. L. Kennedy als Kinderbuchautorin

Dabei ist das Leben in Kennedys Kinderromanen keinesfalls ein Ponyhof. Im ersten Band über das fast ganz ungeplante Abenteuer, in dem der Dachs und Onkel Stan sich kennenlernen und Freunde werden, kommt es für einige der späteren Helden als unfassbar trostlose Lamafarm daher. Und für den knuffigen Dan könnte es auch gleich das Ende seines noch jungen Lebens bedeuten, in blutige Fetzen zerbissen bei einem äußerst unfairen Kampf mit drei Kampfhunden.

Der Dachs sowie vier Lamas sind in die Fänge einer absolut bösartigen Farmerfamlie geraten. Wie unglaublich fies diese Leute sind, macht Kennedy von Anfang an deutlich, mit der Entführung Dans durch die Schwestern Esther und Martha: Zwar steckt Dan in einem Sack und sieht zunächst nichts, aber »Dan brauchte bloß einmal zu schnüffeln, da wusste er: Wer ihn wegschleppt, hatte ein Herz voller Nägel, Sand und Gehässigkeit.«

Als er auf einen kalten Steinfußboden geschüttet wird, sieht er dass seine Kidnapperinnen »winzig kleine und verärgerte Augen von der Farbe schlecht schmeckender Bonbons haben«.

Poetische Metaphern schaffen Kopfkino

Es sind diese ungeheuer eindringlichen Bilder und Vergleiche, die dieses Buch so besonders machen. Eine Stimme klingt, »als würde man etwas Hässliches in einen Brunnenschacht fallen lassen.«  Oder »Esther kicherte, was sich anhörte wie falsch verlegte Rohrleitungen.« Diese fast poetischen Metaphern schaffen intensives Kopfkino. Hier werden Menschen beschrieben, die aus Spaß andere quälen und alle als extrem ekelige Pasteten enden lassen wollen.

Konterkariert werden diese komplexen Charakterisierungen von Gemma Corrells zahlreichen, sehr reduzierten Zeichnungen (angeblich von einem von ihr mit Karamellbonbons bezahlten Fünfjährigen angefertigt), die mit zahlreichen Erklärungen versehen wie Schautafeln eines sehr schrägen Wissenschaftlers daherkommen.
Ingo Herzke hat Kennedys bildgewaltige Prosa mit viel Wortwitz und Fantasie übersetzt, zum Teil selbst kleine Scherze angefügt, zum Bespiel gehört ein Hubschrauber zur Staffel der »Air Forst One«. In eine Reklame für schneeweiße Unterwäsche fügt er, frei nach der mütterlichen Mahnung, immer eine frische Hose anzuziehen, wenn man das Haus verlässt, die raffinierte Zeile »Man weiß nie« ein. Und ein Witz für Freunde von Druckerzeugnissen lautet: »Was kriegt man, wenn man eine Druckerpresse verprügelt? Schlagzeilen!«

Grausame Figuren – aber Hoffnung auf Rettung

Darf man Kindern von so grausamen Menschen erzählen? Ja. Wenn es Hoffnung auf Rettung gibt. Wenn die alte Westernregel, dass das Böse immer gewinnt, widerlegt wird. Wenn die Bösen nicht besser werden und deshalb gerechterweise ein bizarres Ende finden. Wenn das Gute so charmant und liebenswert und klug wie Onkel Stan daherkommt: »Ein großer, ziemlich dünner Mann mit rötlichbraunen Locken, schlaksigen Armen, knochigen Knien, schlenkernde Beinen«, der in seinen Taschen eine dösende Maulwurfsmutter und Käsestangen, aber keine Socken hat, weil er die einem Eichhörnchen als Schlafsack zum Campingurlaubspielen geliehen hat. Ein wahnsinnig netter und sympathischer Kerl, ein Traumtänzer mit scharfem Verstand.

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Im zweiten, dem »ungeheuer, ungewöhnlichen Abenteuer« geht es fast Onkel Stan an den Kragen. Genauer gesagt droht er von einem abgrundtief bösen Manipulator zerquetscht zu werden. Dieser Gegner geht sehr systematisch vor, er will alles Ungewöhnliche aus der Welt schaffen – und er hat erschreckend leichtes Spiel damit. Der Herdentrieb und das Streben nach Gleichförmigkeit und Normen sind entsetzlich stark.

Band zwei ist ein Plädoyer für Vielfalt, für den Mut anders zu sein und zu handeln. »Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang der famose Carsten Friedrich einst bei Superpunk. Und mit Der Liga der gewöhnlichen Gentlemen gelingt ihm die Beschreibung des grundguten und kämpferischen Onkel Stans: »Immer freundlich, nie gemein / Und wenn doch, dann muss es sein … Streetwise wie ein East-End-Schläger / Schlau wie ein Nobelpreisträger / Niedlich wie ein Hasenkind / Und berauschend wie Absinth … Die Welt braucht mehr Leute so wie Dich.«

Ein Plädoyer für Vielfalt

Dass dieses Abenteuer dem ureigenen Wesen und der Seele Onkel Stans gefährlich nahe kommt, merkt man, dass dieser im Laufe der Geschichte zu seinem eigenen Erstaunen »innendrin zornig« wird. Obwohl er jedem Gelegenheit gibt, seine Meinung zu ändern, weiß er schließlich, dass es bei diesem Gegner sinnlos ist: »Sie hassen es, wenn Leute sie selbst und glücklich sind.«

Wie gut, dass A.L. Kennedy ihre Helden ganz sie selbst sein lässt. Und was für ein Glück, dass die Ersthörer der Abenteuer von Onkel Stan und Dan mittlerweile erwachsen sind – und deshalb jetzt alle die Geschichten kennen und lieben lernen können.

A.L. Kennedy: Onkel Stan und Dan und das fast ganz ungeplante Abenteuer, 192 Seiten, und Onkel Stan und Dan und das ungeheuerlich ungewöhnliche Abenteuer, 272 Seiten, Orel Füssli, 2018/2019, Illustration: Gemma Correll, Übersetzung: Ingo Herzke, ab 9, je 14,95 Euro

Tierisch interessanter Sex

sexÜber Sex bei Menschen glauben bereits die meisten Grundschüler gut Bescheid zu wissen, unter anderem durch Videos, die gemeinsam auf dem Pausenhof angeguckt werden.

Aber wie machen es eigentlich die Tiere? „Wie machen Elefanten Sex? Können Tiere schwul sein?“ Solche angesichts von einschlägigen Bildungsmedien wie YouPorn rührend kindlich-naive Fragen hört die Sexualpädagogin Katharina von Gathen häufig. Und deshalb hat sie jetzt im Klett Kinderbuch Verlag, der ohnehin für mutige, gegen den Strich gebürstete Veröffentlichungen steht, ein ganz besonderes Tierbuch herausgebracht: Das Liebesleben der Tiere.

Umfassend, in zahlreichen Kapiteln und inklusive eines Registers aller genannten Tiere informiert sie auf 144 Seiten über alles, was zum Thema Sex gehört und weit über den eigentlichen Akt hinausgeht. Auch erwachsene Leser, die wissen, dass das Liebesleben ganz schön kompliziert sein kann, wundern sich und lernen noch einiges. „Lustiges und Erstaunliches, Gruseliges und Merkwürdiges, Vertrautes und Fremdartiges“ verspricht die Autorin, und das ist noch untertrieben. Die Formen der Fortpflanzung treiben mitunter bizarre Blüten. Und doch hat sich alles für die jeweilige Art und Gattung bewährt und ist von der Evolution erprobt und für sinnvoll befunden.

Es fängt wie beim Menschen meist auch mit der Partnersuche an: Da wird zunächst gebalzt und geworben, ganz ohne Datingportale, dafür umso variantenreicher und farbenfroher. Lauben werden gebaut, es wird getanzt, gerubbelt, und nicht nur Nachtigallen und Vögel im allgemeinen trällern Liebeslieder. Auch männliche Buckelwale und Bootsmannfische locken mit süßen Sirenengesängen (oder was für die weiblichen Ohren der jeweiligen Tierart so klingt). Gibbons finden mit der idealen Duettpartnerin auch die perfekt passende Gespielin. Und Kugelfische malen tagelang mit ihren Flossen kunstvolle Mandalas in den Meeresgrund.

Dann geht’s zur Sache: ganz langsam oder sekundenschnell, einige setzten auf Täuschung oder Bestechung, manchen reicht einmal im Leben (und es ist nicht die Eintagsfliege), andere legen Marathons hin, stundenlang oder bis zu 40 Mal am Tag, bis zur Erschöpfung oder sogar bis zum Tod! Arme Breitfuß-Beutelmausmänner.

Sex dient auch bei Tieren nicht nur der Fortpflanzung, sondern erfüllt zudem soziale Funktionen: Bonobos setzten bekannterweise auf körperliche Liebe statt Gewalt.

Silberfischchen bauen Stolperfallen, die Befruchtung findet indirekt, wenn auch nicht im Reagenzglas statt. Und Fledermäuse, Mauersegler oder Nacktschnecken stehen auf Funsportvarianten. Es gibt aber nicht nur Kuschelsex: Erpel, die ganz rührende und treue Entenpapas werden, stehen auf brutale Gruppenvergewaltigung. Und Katerpenisse haben an der Eichel Stacheln und Widerhaken und sind äußerst schmerzhaft. Kein Wunder, dass Katzen danach nicht gut auf die Kerle zu sprechen und die meiste Zeit des Jahres aufs Rolligsein überhaupt nicht scharf sind.

Katharina von der Ganthen beschreibt diese Kuriositäten wohltuend klar und nüchtern, ohne zu vermenschlichen oder verniedlichen und niemals mit einem Feigenblatt vor dem Mund. Der Humor ergibt sich aus den tierischen Absurditäten an sich.

Das alles wäre aber nur halb so unterhaltsam und lesenswert ohne Anke Kuhls brillante und eigenwillige Illustrationen. Kuhl, die mit dem schrägen Antiwestern-Bilderbuch Cowboy will nicht reiten (Carlsen) debütierte und mit Alle Kinder (Klett) charmant politisch unkorrekte Scherze mit Namen gemacht hat, bildet seit Klär mich auf. 101 Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema seit 2014 mit von der Gathen ein bewährtes Duo in Sachen Aufklärung. Die charakteristischen kleinen Glubschaugen verleihen ihren Figuren, ob Mensch, ob Tier, grandios treffende Gesichtsausdrücke und Emotionen.

Echte Hingucker sind ihre beiden aufklappbaren Panoramaseiten mit „Geniale Genitalien“: Es gibt nichts, was es nicht gibt, und Größe ist beileibe nicht alles.

Auch in den Abschnitten Schwangerschaft, Geburt und Familienleben finden sich etliche Kuriositäten, von denen die zweifache Geburt der Kängurubabys die bekannteste und entzückendste ist. Katharina von der Gathen hat im Vorwort nicht zu viel versprochen. Bei „Vertrauten“ ertappt sich der erwachsene Leser immer wieder dabei, Parallelen zu ziehen und festzustellen, dass im menschlichen Miteinander auch nicht alles so anders ist und vieles bestimmt nicht logisch.

Nur der Begriff „Liebesleben“ im Titel ist nicht ganz treffend, denn mit dem, was wir unter Liebe verstehen und was beim Sex eine Rolle spielen kann, aber nicht muss, hat der tierische Akt nichts zu tun. Es macht auf jeden Fall Riesenspaß, darüber zu lesen, und genau so sollte Sex auch sein: Nicht wie in den einschlägigen Filmchen athletisch und hyperästhetisiert, sondern lustig, entspannt, unreflektiert, auch mal unfreiwillig komisch, lächerlich, gelegentlich peinlich, doch stets ein Vergnügen und keine Pflichtleibesübung.

Katharina von der Gathen, Anke Kuhl (Illustrationen): Das Liebesleben der Tiere, Klett Kinderbuch Verlag, 2017, 144 Seiten, ab 8, 18 Euro

Lebensrettendes Chaos

meschenmoserMit klassischen Märchen habe ich Probleme: Zu unreflektiert werden überkommene Werte und Rollenvorbilder wieder und wieder erzählt, passend zum heutigen Neokonservativismus. Noch verhasster sind mir Hans-Christian Andersens Schauergeschichten, in denen Mädchen sich prinzipiell opfern und die sich wie die kindliche, überhaupt nicht kindgerechte Vorlage für Filmtragödien des dänischen Regisseurs Lars von Trier lesen. Für Märchen im Sinn von Geschichten, wie sie die von mir sehr geschätzte Jugendbuchautorin Meg Rosoff gegen den grassierenden Realismuszwang verteidigt, bin ich dagegen auf jeden Fall zu haben – gern auch für fantastische, naturwissenschaftlich absolut abwegige Abenteuer. Nirgendwo kann man besser den Horizont erweitern und dem Denken eine neue Richtung geben als zwischen zwei Buchdeckeln und dem, was das im eigenen Kopf entfacht.

Gegen den Strich und gängige Erwartungen gebürstete Märchen gefallen mir umso besser: Sebastian Meschenmosers neuester Streich Die verflixten sieben Geißlein ist mindestens so gut wie seine hier von mir bereits vorgestellte Adaption eines anderen Grimmschen Klassikers. Rotkäppchen hat keine Lust enthebt das Mädchen der Opferrolle, lässt sie als unabhängige Räuberin glücklich werden, während nun Wolf und Großmutter in einer tierisch guten WG zusammen leben.

Schon damals hatte der Wolf einen klaren Plan: „Kind, Höhle, Kochtopf, Zack“. Auch diesmal ist der Wolf absolut erfolgsgewiss: Allerdings reicht ein bisschen Kreide fressen heute nicht mehr aus, sondern er gibt sich wirklich Mühe als Germanys-Next-Top-Geißenmutter zu landen: Schon auf dem Vorsatzpapier (!) bastelt er sich schicke Geißenhörner aus aneinander geklebten Klopapierrollen, trägt Puder und Lippenstift auf, dazu ein schickes Kleid und Highheels. Und dann das: Direkt hinter der der Schwelle fällt das aufgetakelte Raubtier über einen Ball und mit der Tür ins Haus – und landet im schönsten Durcheinander. „Haaarrrghnnpff!“ Das Wohnzimmer ist kunterbuntes Suchbild Nummer eins: Wer findet alle sieben Geißlein, die sich hier verstecken? Obwohl ich kein Freund von bekleideten Tieren bin, sind sie hier auf Meschenmosers farbenfrohen Aquarellen ganz und gar richtig.

Es hilft nichts, der Wolf muss aufräumen, um etwas zwischen die Zähne und in den Magen zu bekommen. Kein Chaos, keine Verstecke mehr. Deshalb bringt der Eindringling systematisch das Haus in Ordnung. Und gerade als er alle Verstecke auf- und weggeräumt hat und seinen überhaupt nicht verschreckten, potenziellen Opfern auch noch eine Standpauke hält, – „Wie kann man nur so unordentlich sein! Ob sie sich nicht schämten, wenn jemand vorkommt, um sie zu fressen und so einen Saustall vorfinden muss?“ – kommt die Geißenmutter nach Hause zurück und bereitet dem ordnungsliebenden Wolf ein unrühmliches Ende.

Und die Moral von der Geschichte? Es lebe das rettende Chaos! Als jemand mit einem angeborenen Hang zur Schlampigkeit und großem Mut zur Lücke freue ich mich über Meschenmosers märchenhaftes Plädoyer für ein kunstvolles Durcheinander. Aktuelle Metastudien beweisen sogar, dass Perfektionismus tatsächlich tödlich sein kann: Nämlich wenn Menschen mit zu hohem, unerfüllbarem Anspruch an sich selbst zum Scheitern verdammt sind und sich im Extremfall sogar umbringen. Oder wie der kluge Karl Kraus einst sagte: „Das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt.“

Ein buntes Durcheinander feiert auch die Doodle Cat: Eine auf das Wesentliche reduzierte, dafür umso ausdrucksstärkere Katze. Teilweise nur mit roter Umrandung gekritzelt („to doodle“) zeigt das Tier alles, was es liebt, vom Tanzen über Meer und Sterne zu geometrischen Mustern und Pupsen. Doodle Cat liebt Unterschiede, die vielfältigsten Typen, denn logische Begründung: „Unterschiede machen uns interessant. Wenn wir alle gleich wären, hätten wir einander nichts zu sagen. Stell dir vor, du würdest den ganzen Tag bloß in den Spiegel starre. Langweilig“.

Und nicht zuletzt liebt Doodle Cat sich selbst. Das heißt, sie nimmt sich so an wie sie ist: sprunghaft, verspielt, vielseitig, unperfekt. Gesundes Selbstbewusstsein kann nie schaden. Illustriert hat Doodle Cat Lauren Marriott, die von sich selbst als geborene Zeichnerin spricht, genauer als „doodler“. Es sind wirklich liebenswert exzentrische Kritzeleien, die das Kinderbuchdebüt der Wahl-Neuseeländerin Kat Patrick bebildern und zum Leben erwecken. Der Schweizer aracari Verlag ist eben immer für eine Überraschung gut: Nach diversen zarten Entdeckungen aus Südkorea und dem Bestseller Heute bin ich der Niederländerin Mies van Hout jetzt ein buntes Bilderbuch vom anderen Ende der Welt, das in der Übersetzung von Ilse Layer ebenfalls das Potenzial zum modernen Klassiker hat.

Sebastian Meschenmoser: Die verflixten sieben Geißlein, Thienemann Verlag 2017, 30 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

Kat Patrick: Ich bin Doodle Cat, Illustratrion: Lauren Marriott, Übersetzung: Ilse Layer, aracari Verlag 2017, 36 Seiten, ab 3, 13.90 Euro