Befreit euch

wegeVor kurzem haben wir das 100-jährige Frauenwahlrecht gefeiert. Eine lang erkämpfte Errungenschaft, die von den heutigen Generationen oftmals als selbstverständlich und daher vernachlässigbar zu sein scheint, im Sinne, der Gang an die Wahlurne wird auch mal ausgelassen. Eine fatale Haltung, die den falschen Parteien nützt.

Dass unser heutiges Dasein als Frauen nicht selbstverständlich ist (und auch noch immer nicht paritätisch und gleichberechtigt) verbildlicht Julia Zejn in ihrer Graphic Novel Drei Wege auf eine stille, fast poetische Art.
Darin schneidet sie die entscheidende Momente aus den Biografien dreier junger Frauen gegeneinander, die im Abstand von je fünfzig Jahren leben. Ida tritt 1918 eine Stelle als Hausmädchen bei einer Arztfamilie in Berlin an, Marlies lernt 1968 den Studenten Wolfgang kennen, und Selina dümpelt 2018 nach dem Abi vor sich hin, ohne zu wissen, was sie aus ihrem Leben machen soll.

Machtvolle Männer

Idas und Marlies‘ Lebenswege sind noch den männlichen Machtstrukturen ausgesetzt. Hatte Ida ein gutes Verhältnis zur Hausherrin, solange deren Mann noch im Krieg war, so ändert sich das schlagartig, als der Gatte zurückkehrt und mit harter Hand das kaisertreu geprägte Regiment in der Familie wieder übernimmt. Mit seiner dix-haft gezeichneten Physiognomie ruft er sofort eine Reihe von militaristisch-patriarchalen Assoziationen in mir auf, die ohne viele Worte die bedrückende Stimmung in einem damaligen Haushalt evozieren.
Auch Marlies, ein Arbeiterkind, muss sich mit den erzkonservativen Ansichten ihres Vaters auseinandersetzen. Der hält Wolfgang für einen Gammler mit zweifelhaften Ansichten. Dass Marlies sich den Studentenprotesten anschließt, passt den Eltern gar nicht, es kommt zu familiären Eklat. Aber auch der scheinbar progressive Wolfgang entpuppt sich bei näherer Betrachtung ebenfalls als konservativ, was sein Verhältnis zu Frauen angeht. Marlies kämpft als quasi an zwei Fronten.

Heutige Zwänge

Selina hingegen scheint von den Männern unbehelligt zu sein, der Vater lebt weit weg in Vancouver, ihr bester Kumpel ist schwul, ihre Mutter macht Yoga und postet auf einem Foodblog gesunde Super-Lebensmittel. Doch heute sind es andere Zwänge, die das junge Mädchen verunsichern. Ihre beste Freundin Alina erzählt, dass sie an die Columbia Uni in New York gehen wird. Dass diese jedoch eine Lüge ist, kommt erst heraus, als Alina versucht, sich umzubringen. Selina möchte ihr beistehen, doch die Freundin ist gefangen in dem Zwang von guten Noten, bester Ausbildung und der gesellschaftlichen Forderung nach einem stringenten, erfolgreichen Lebenslauf. Für Freundschaft und Freiheit bleibt da nicht viel Platz. Als Selina das alles erkennt, macht sie sich frei.

Lebendige Wurzeln

Was scheinbar unverbunden daherkommt, verwebt Zejn äußerst geschickt. Jeder Erzählstrang mit seinen zarten Bleistiftzeichnungen ist einer anderen Pastellfarbe gefärbt, sodass man als Leserin immer gleich weiß, bei wem man gerade ist. Doch die Wege der drei Frauen sind zudem über verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Verhältnisse miteinander verbunden. So wird klar, dass wir alle das Erbe unserer Vorfahren immer noch in uns tragen, uns andere Generationen beraten und uns helfen können, dass wir also nicht in einem Vakuum agieren, sondern eben sehr lebendige Wurzeln haben. Und diese Wurzeln sollte man kennen. Eben um nichts als selbstverständlich hinzunehmen, was mühsam erkämpft wurde, aber auch um für sich selbst einen freien und selbstbestimmten Weg zu finden – immer noch und immer wieder. Denn auch das ist heute immer noch nicht selbstverständlich.

Zu diesem Thema passt schließlich auch der Kinder-Comic Heraus aus der Finsternis von Christopher Tauber und Annelie Wagner, der in Zusammenarbeit mit dem Jungen Museum Frankfurt entstanden ist.

Mädchenbande

Darin erleben junge Leserinnen die etwa zehnjährige Käthe, die sich mit ihren Freundinnen gegen die Schikanen der Jungsbanden in ihrem Viertel zur Wehr setzen. Und zwar im Frankfurt der Jahre 1918/1919.
Der erste Weltkrieg ist gerade erst zu Ende gegangen, die Männer sind zum Teil noch nicht von der Front zurück. Die Frauen und Mütter haben sich daheim durchgeschlagen, haben in den Fabriken die Arbeit der eingezogenen Männer übernommen. Sie stehen sich gegenseitig hilfreich zur Seite, kämpfen für das Wahlrecht und meistern ihr Leben auch ohne männliche Bevormundung. Das sehen auch die jungen Mädchen und schauen sich ihren Teil von den Erwachsenen ab.

Solidarität und Freundschaft

In dieser fiktiven Geschichte Jungs gegen Mädchen, Mädchen gegen Jungs (Tina & Bibi lassen grüßen) bilden die Mädchen schließlich ihre eigene Bande, um sich gegen die Jungs zu wehren – und kommen zu der Erkenntnis, dass Solidarität hilft. Aber auch, dass Jungs und Mädchen gar nicht so verschieden sind, wenn es darum geht, dass keiner gern geärgert wird und das es viel schöner ist, Freunde zu sein.

Historischer Hintergrund

Zu den historischen Begebenheiten, Personen und Institutionen in der damaligen Zeit gibt es am Ende eine Doppelseite mit Hintergrundinformationen und einem Glossar. Der Kasten „Anachronismen“ schickt die Betrachterinnen dann noch mal mit einem Rätsel durch den Comic, in dem drei Dinge versteckt sind, die es vor 100 Jahren noch nicht gab. Leider ist hier die Frage aus einem anderen Comic übernommen worden (es werden nach vier Dingen gefragt, die es 1742 noch nicht gab) – dies wird hoffentlich in der nächsten Auflage korrigiert, denn die Idee ist charmant. Und ich habe mich dabei ertappt, die drei Anachronismen übersehen zu haben.

Für Mädchen ab acht ist dieser Comic jedoch in vielerlei Hinsicht ein Gewinn, denn neben all der Historie bekommen sie ein Gefühl für Feminismus und weibliche Solidarität, aber auch für Menschlichkeit. Und das ist nicht nur in Frankfurt wichtig.

Julia Zejn: Drei Wege, avant-verlag, 2018, 184 Seiten, ab 16, 25 Euro

Christopher Tauber/Annelie Wagner: Heraus aus der Finsternis, Junges Museum Frankfurt/Zwerchfell Verlag, 2018, 52 Seiten, ab 8, 12 Euro

Die Fragen der Mentalität

kriegFiktive Geschichten über den ersten Weltkrieg habe ich bereits hier, hier und hier vorgestellt. Sie lassen die Geschehnisse für junge Leser lebendig werden, können jedoch immer nur Teile einer komplizierten weltpolitischen Entwicklung anreißen.

Einen Versuch, in einem Sachbuch, die Zeitläufte um den ersten Weltkrieg verständlich zu machen, unternimmt Nikolaus Nützel in seinem Buch Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Ausgangspunkt ist für ihn das Schicksal seines Großvaters, der bereits am 24. August 1914 so schwer im Kampf verletzt wurde, dass ihm ein Bein amputiert werden musste. Für die Familie war dies später immer ein Freudentag, denn für den Großvater war der Krieg damit bereits vorbei.

Dass dies natürlich nicht für alle Soldaten galt, schildert Nützel dann im Folgenden ausführlich, gut verständlich und sehr weitsichtig. Er beschränkt sich nämlich nicht nur auf die Jahre 1914-1918, auf Schlachtendarstellungen, Grabenkämpfe und die Not der Zivilbevölkerung, sondern bindet die Ereignisse in die politischen Strömungen ein und zeigt immer wieder deren Einflüsse bis zum 2. Weltkrieg und bis in unsere Gegenwart auf. Vor allem jedoch macht er die Mentalität und die Denkweisen der Deutschen und ihrer europäischen Nachbarn vor hundert Jahren klar.
Fällt es uns heute schon schwer manche aktuelle Überzeugungen zu verstehen, so erscheint uns das Denken von vor hundert Jahren umso fremder und ferner. Nützel jedoch versteht es, genau dieses Denken zu erklären und einzuordnen.

Das, was im Geschichtsunterricht – zumindest so, wie ich ihn noch erlebt habe – ungeklärt und mysteriös blieb und bleibt, wird hier beantwortet. Allen voran die „Hä-Frage“ (großartig!), nämlich wieso der Mord an dem österreichischen Thronfolgerpaar in Sarajevo den ersten Weltkrieg auslösen konnte. Nützel bringt immer wieder sein persönliches Unbehagen und seine Schwierigkeiten mit ein, die Mentalität von damals zu verstehen. Damit begibt er sich auf eine sehr angenehm unprätentiöse Art auf die Augenhöhe der jungen Leser, die all die geschichtlichen Fakten, die Kriegs-Grausamkeiten und die unverständlichen Winkelzüge von Erwachsenen natürlich nicht sofort verstehen können. Und genau diese Erzählweise, die immer dicht an den Wünschen und Ängsten der Menschen bleibt, macht Nützels Buch auch für Erwachsene zu einer erhellenden Bereicherung.

Das Buch Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg ist mit jeder Menge Bildern, Karten, Original-Dokumenten sowie Glossar, Zeittafel und weiterführender Literatur ausgestattet – und wird damit zu einem überaus vielschichtigen und anregenden Geschichtsbuch, das Lust darauf macht, die Historie genauer zu betrachten.

Nikolaus Nützel: Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014, Kategorie Sachbuch, arsEdition, 2014, 144 Seiten,  ab 12, 14,99 Euro

Vom Traum zum Trauma

kriegKann man die Kriegsbegeisterung, die vor 100 Jahren dieses Land durchzog den heutigen Jugendlichen noch irgendwie begreiflich machen? Elisabeth Zöller kann. Nachdem ich bereits ihre Bücher über den Nationalsozialismus, die Edelweißpiraten und ihre Faschismus-Parabel vorgestellt habe, reiht sich nun Zöllers Jugendbuch Der Krieg ist ein Menschenfresser über den ersten Weltkrieg hier ein.

Darin schildert sie die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 auf zweigeteilte Art. Im ersten Teil erlebt der Leser die Begeisterung der Jungen Ferdinand und August aus Leipzig für den Krieg mit. Die Jungs melden sich freiwillig zum Militär, trotz der Ablehnung der Eltern. Zu groß ist die Lust auf „Abenteuer“. Ferdinand nimmt einen Fotoapparat an die Front mit und macht Bilder – was seinen Vorgesetzten gar nicht gefällt …

Im zweiten Teil erlebt Max 1917 die Schrecken an der belgischen Front und wird von einem wohlmeinenden Vorgesetzten zum Scharfschützen ausgebildet. Doch bei einer Aktion muss er einen Menschen töten, der kein Feind war. Traumatisiert kehrt er noch vor Kriegsende nach Berlin zurück und weigert sich, jemals wieder eine Uniform anzuziehen, sehr zum Unwillen seines Vaters. Seine Freundin Sophie steht ihm in dieser Zeit gegen den Vater und die Vorgesetzten bei, die ihn zur Herausgabe wichtiger Dokumente zwingen wollen …

Mehr möchte ich über den ziemlich spannenden Inhalt nicht verraten. Elisabeth Zöller schafft es nämlich, beide Seiten einzufangen: den Kriegstaumel zu Beginn der Auseinandersetzungen, aber auch die Traumata, die der sinnlose Stellungskrieg und vor allem die absurden Auswüchse von kriegerischen Konflikten verursachen. Geschickt macht sie klar, dass die Darstellung von Krieg in den Medien zumeist nichts mit der Wahrheit vor Ort zu tun hat, sondern dass immer Mächte dahinter stehen, die Einfluss darauf nehmen, wie die Sachverhalte Dritten präsentiert werden. So erklärt sie nicht nur die historische Kriegsführung und die entsprechende Propaganda, sondern verweist auch auf die heutige Medienmacht, der wir nur allzu gern vertrauen.

Wie schon bei dem Edelweißpiraten-Roman Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife flechtet Zöller auch hier wieder sehr viele historische Fakten und Begrifflichkeit in den Text ein, die in einem Glossar kurz, manchmal fast zu kurz, erklärt werden. Die Gewalt des Krieges ist zwar präsent, aber anders als beispielsweise bei Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues nicht zu schockierend und zu grausam dargestellt, so dass die Lektüre für Leser ab 14 erträglich bleibt. Das liegt zudem an Zöller schon fast trocken-nüchterner Sprache, die diesem schrecklichen Thema jedoch sehr gut tut, da so der nötige Respekt vor den Toten gewahrt bleibt.

Das Einzige, was mich an dem Buch stört, ist dieses Mal das Cover. Es führt ein wenig in die Irre, da die eigentlichen Protagonisten die Jungen Ferdinand und Max sind, die dem Schrecken des Krieges ins Auge sehen. So bleibt nur zu hoffen, dass sich die Jungs, an die sich dieses Buch durchaus auch richtet, nicht von dem fast verträumten Mädchen abschrecken lassen. Das wäre sehr schade und hätte dieses Buch wirklich nicht verdient.

Elisabeth Zöller: Der Krieg ist ein Menschenfresser, Hanser, 2014, 288 Seiten, ab 14, 15,90 Euro

Nachtrag vom 17.03.2014: Über Facebook wies mich Elisabeth Zöller darauf hin, dass es zu ihrem Buch begleitendes Material von Christine Hagemann gibt, das mögliche Fragen zu den Begriffen ausführlicher erklärt: http://www.elisabeth-zoeller.de/data/content/00000052/_media.00000465.pdf
Herzlichen Dank für den Hinweis!