Nachdem ich vor zwei Jahren die Erinnerungen der Schwestern Andra und Tatiana Bucci, Wir, Mädchen in Auschwitz, übersetzt habe, begleitet mich das Thema der Kinder im Holocaust. Diese Kinder, die heute alle über 80 Jahre alt sind, bilden die letzte Generation der Zeitzeugen und sollten mehr denn je gehört werden.
Im vorliegenden Band erzählen die Illustrator:innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar die Erinnerungen von vier solcher Kinder in eindrucksvollen Graphic Novels. So widmet sich Barbara Yelin dem Schickal von Emmie Arbel, die als Vierjährige aus den Niederlanden nach Ravensbrück verschleppt wurde.
Der Schrecken der Lager
Wir lernen Emmie als alte rauchende, Auto fahrende, Solitär spielende Frau in Israel kennen, die weiß, dass sie stark ist. Doch diese Stärke ist durchzogen von Rissen, in denen die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit immer wieder durchscheinen, sei es in der Angewohnheit, im Café dicht an der Tür sitzen zu müssen, oder den unguten Gefühlen, wenn ihr Jugendliche mit kurz rasierten Haaren begegnen. Gleichzeitig ist da auch immer wieder der Satz »Ich erinnere mich nicht«. Dafür ist das, was Emmie erinnert umso eindrücklicher und spiegelt wie all die Zeitzeugengeschichten aus den Konzentrationslagern den Horror des Holocaust. Yelin setzt diese Erinnerungsbrocken in graublau-düstere Bilder um, die eigentlich mehr andeuten, als dass sie zeigen. Das jedoch reicht bereits, um Schrecken und Tod offensichtlich zu machen.
Der Holocaust in Transnistrien
Miriam Libicki stellt mit der Geschichte von David Schaffer ein weniger bekanntes Kapitel im Holocaust dar, den in Transnistrien. Jüdische Familien wurden aus ihren Häusern auf dem Land vertrieben, in Ghettos zusammengepfercht und später quasi ziellos durch die Gegend getrieben. Die rumänischen Verbündeten machten für die Deutschen die Drecksarbeit. Es herrschte ein heilloses Durcheinander – in dem sich die Familie von David nicht an Regeln hielt, sondern sich von den anderen Deportierten absetzen und im Wald untertauchen konnte. Dort schließt sie sich mit einer anderen Familie zusammen und gemeinsam gelingt es ihnen, die harten Kriegsjahre 1942/43 zu überstehen, bis Transnistrien von den Sowjets befreit wird. Die Ereignisse in Transnistrien sind verwirrend, doch das Leiden des jungen David wird in den fast knallbunten Illus von Miriam Libicki spürbar. Eine Flasche Speiseöl wird im Hungerwinter zu einem fast heiligen Objekt, der Stacheldraht, mit dem David sich die Lumpen um die Füße bindet, tut beim bloßen Anblick weh. Die ausgemergelten Figuren mit den großen leidenden Augen bleiben haften.
Verstecken in den Niederlanden
Beige-blau reduzierter schildert Gilad Seliktar die Geschichte der Brüder Nico und Rolf Kamp, die sich als Kinder in den Niederlanden vor der Deutschen versteckten – getrennt von ihren Eltern. Sie versteckten sich jedoch nicht einmal, sondern mussten immer wieder weiter. 13 Mal insgesamt. Die beiden Brüder schildern ihre unterschiedlichen Sichtweisen, den Wunsch des Kleineren dazugehören und den Davidstern tragen zu wollen, das Spiel mit den Kaninchen, die irgendwann auf dem Teller landen, die Übernachtungen in einem Hühnerstall. Sie geraten in ein deutsche Patrouille, überstehen knapp eine Schießerei. Die Eltern werden nach Auschwitz deportiert, nur die Mutter überlebt.
Aufschlussreicher Anhang
Den drei Graphic Novels folgt ein Anhang, in dem die Entstehung dieses Buches ebenfalls in einer Graphic Novel erzählt wird. Die Zeitzeugen kommen noch einmal in Textform zu Wort und schildern, wie ihr Leben weiterging. Abschließend werden die historischen Hintergründe noch etwas genauer beleuchtet und die Berichte somit genauer eingeordnet, was bei den eher unbekannten Ereignissen in Transnistrien besonders wichtig und erhellend ist.
Auf der Website holocaustgraphicnovels.org/ gibt es zudem Filme, die die Zeitzeugen in Gesprächen mit ihrer jeweiligen Illustrator:in zeigen sowie weitere Hintergrundinformationen und Workshop-Termine.
Diese drei Geschichten bereichern die bereits bekannten Zeitzeugenberichte um weitere Nuancen. Sie zeigen, wie sehr die Vergangenheit in der Gegenwart präsent ist. Sie mahnen, Faschismus und Krieg nie wieder zuzulassen – was sich in den heutigen Tagen fast zynisch anhört, dafür aber umso wichtiger ist. Gerade auch diese gelungene visuell-graphische Aufarbeitung von Historie könnte Jugendliche anregen, selbst Großeltern oder ältere Menschen über ihre Vergangenheit zu befragen, und so zu Zweitzeugen zu werden, die deren Geschichten bewahren und weitertragen.
Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktar: Aber ich lebe, Übersetzung: Rita Seuß, hg. Carlotte Schallié, C.H. Beck, 2022, 176 Seiten, 25 Euro