Ansichtssache

Brille

Es gibt Leute, die haben Adleraugen. Andere lassen ihre Augen lasern, um besser  gucken zu können. Manche tragen Brillen mit Fensterglas, um schärfer auszusehen. Einige gehen ohne rosarote Brille nicht aus dem Haus. Und der Kleine Prinz sagt, nur mit dem Herzen sieht man gut.
Aber was heißt gut? Und ist gut auch schön? Leo Timmers ändert in seinem neuen Bilderbuch Bär und seine Brille die Sichtweise. Der Bär sucht seine Brille, vermutlich hat er sie bei der Giraffe verloren. Auf dem Weg zu ihr sieht er viele Lebewesen, die er noch nie zuvor in der Gegend getroffen hat. Einen Hirsch, einen Elefanten, ein Krokodil, einen Flamingo. Wie schön, freut sich der Bär. Da hat er seiner langhalsigen Freundin was Tolles zu erzählen.

Die Brille funktioniert wie gedacht

Doch mit Brille auf der Nase findet er die neuen Nachbarn nicht mehr. Nicht nur die Giraffe ist enttäuscht. »Ich verstehe das nicht. Vielleicht ist meine Brille kaputt …«, sagt der Bär entschuldigend. Doch die Brille funktioniert genauso, wie sie gedacht ist: Die Realität deutlich erkennbar zu machen und für Durchblick sorgen. Für fantasievolle Täuschungen taugt sie nicht.
Die meisten möchten die Wirklichkeit klar im Blick haben. Aber entgeht ihnen nicht etwas? Etwas Schöneres?
Man kommt schon etwas ins Philosophieren, über Ent-Täuschungen und Ansichten. Für Kinder ist dieses Bilderbuch vor allem ein großer Spaß. Der Bär ist aber auch ganz schön dusselig. Denn eigentlich hat er seine Brille gar nicht verloren. Die Giraffe übernimmt die kindliche Perspektive, augenrollend und leicht indigniert ob ihres liebenswert verpeilten Freundes.

Knuffige Figuren und lautmalerische Typografie

Timmers schafft knuffige, unproportionale Figuren, mit wuschelig gestricheltem Fell getuscht und stellt sie frei mit viel Weißraum drumherum. In dem verteilen sich wenige Worte in schnörkelloser Typographie (fast wie die nüchternen, scharf konturierten Buchstaben beim Sehtest). Hier wird nur mit der Größe gespielt, »Oh, Giraffe«, flüstert der Bär entschuldigend in kleiner Schrift. Um gleich aufgeregt (und deutlich größer gedruckt) zu rufen »Schau mal, da!« Und noch größer: »Siehst du das auch?«

Durch Täuschungen lebendiger und lustiger

Ein ebenso einfaches wie raffiniertes Spiel mit der Schrift, lautmalerisch könnte man sagen. Auch Kinder, die noch nicht lesen können, verstehen es instinktiv und wissen, wie man die Zeilen betont. Eva Schweikart hat es frisch und schwungvoll übersetzt. Nur der Titel hat im Deutschen verloren. Im Niederländischen lautet er De bril van Beer. Da drin steckt mehr, es könnte auch heißen: Bär und wie er die Welt sieht.
Die ist durch seine optischen Täuschungen lebendiger, lustiger und schöner. Ob man Bärs Vision und Version vorzieht oder die ent-täuschte Variante besser findet – das ist Ansichtssache.

Leo Timmers: Bär und seine Brille, Übersetzung: Eva Schweikart, aracari Verlag, 36 Seiten, 15 Euro, ab 4

Kunterbunte Subkultur

Nicht jedes Abenteuer beginnt mit einem aufregenden Szenario. Und die echten Abenteurerinnen sind nicht unbedingt die, die sich für besonders abenteuerlustig halten. Zum Bespiel im neuen Bilderbuch des belgischen Bilderbuchkünstlers Leo Timmers: Drei Enten dümpeln in einem Tümpel. »Kommt, wir gehen zum See«, schlägt die vierte vor. Also machen sich drei flugs auf den Weg in unbekannte Gewässer, Abwechslung ist das halbe Leben. Nur Erik ist unsicher: »Zum See? Aber man sagt, dort wohnt ein schreckliches Monster!«

Viele fiese Begriffe für zurückhaltende Leute

Ist Erik ein Feigling? Ein Angsthase? Eine Bangbüx? Ein Schisser? Die deutsche Sprache kennt viele fiese Begriffe für zurückhaltende Leute, die auch mal was in der Frage stellen. Dabei sind die wenigsten wirklich mutig, die meisten schwimmen einfach bequem mit der Mehrheit. Erik ist eher skeptisch. Trotzdem geht er mit zum titelgebenden Monstersee. Während die anderen drei stoisch und gleichförmig über die nun etwas größere Oberfläche paddeln, schwimmt Erik hinterher und hält die Augen offen.
Und tatsächlich, unter ihm gleitet ein riesiges Ungeheuer entlang, mit furchteinflößenden Hauern im Maul. Eindeutig ein »MONSTER!«, wie Erik panisch aufschreit. Von den vorausschwimmenden Wasservögeln wird das nur als schlechter Witz abgetan.

Mit Taschenuhr und verrücktem Zylinder

Bei genauerem Hinsehen – und das tut Erik – sieht dieses türkise Ungetüm aber ziemlich entspannt, sogar sehr freundlich aus. Ein bisschen wie das Yellow Submarine als Lebewesen. Nette Accessoires aus Alice im Wunderland baumeln an ihm, die Taschenuhr des hektischen Kaninchens und ein bunter Miniaturzylinder, direkt aus der Manufaktur des verrückten Hutmachers.

Aberwitzige Wesen im Breitbandpanorama

Als eben dieses Monster Erik wortlos einlädt, ihm zu folgen, überwiegt Eriks Neugier seine Angst. Er taucht ab unter die Oberfläche. Dort wird der Abenteurer wider Willen mehr als belohnt für seinen echten Mut. Über ein aufklappbares Breitbandpanorama erstreckt sich gleich über ganze vier Seiten eine fröhliche und kunterbunte Subkultur am Seegrund. Leo Timmers malt eine sehr lustige und kuriose Straßenverkehrsszene, in der sich die aberwitzigsten Wesen in allen Größen und Formen tummeln. Eine Kreuzung in New York wirkt dagegen wie ein lahmer Abklatsch. Erik hat einen Monsterspaß im fantastischen Schwarm.

Echte Abenteuer warten unter der Oberfläche

Bis die anderen drei Enten ihn vermissen. Also taucht Erik wieder auf und beweist, wie cool er wirklich ist: Er behält das wahre Geheimnis des Monstersees für sich. Man muss gar nicht so mutig sein, um ein Abenteurer zu sein. Aber offen und neugierig unter die Oberfläche sehen. Dann entdeckt man die tollsten Welten. Das zeigt Leo Timmers mit wenigen Worten (die von Eva Schweikart übersetzt wurden). Dafür mit umso vielsagenderen Bildern.

Leo Timmers: Monstersee, Übersetzung: Eva Schweikart, aracari Verlag, 2023, 44 Seiten, ab 6, 18 Euro

Belo Horizonte

Der Horizont  – die Begrenzungslinie zwischen Himmel und Erde – ist das Zentrum in Carolina Celas‘ grandiosen Bilderbuch Bis zum Horizont. Begleitet werden ihre raumgreifenden, wunderschön farbigen Illustrationen von wenigen hingetupften Zeilen pro Seite:
»Du bist immer da.
Da drüben. 
Oder dort hinten.
Manchmal scheinst du weit weg.
Dann wieder nah.«
Der Horizont, der sowohl Grenzlinie als auch Gesichtskreis ist, ist nämlich nicht immer gleich. Manchmal ist er auch ganz eng. Oder sogar verschwunden. Zum Beispiel wenn man eingesperrt ist. Oder aus anderen Gründen die Sicht blockiert ist. Auch wenn man die Position und damit die Perspektive ändert: »Wenn ich mich hinlege, verschwindest du.«
Stimmt, darauf muss man erstmal kommen. Wenn man sich hinlegt (zumindest im Freien) sieht man nur noch den grenzenlosen Himmel über sich.

Bezauberndes Gedicht über eine Linie

Es ist wie so oft und vieles eine Frage der Perspektive. Das veranschaulicht die portugiesische Illustratorin auch durch die horizontale Linie, die sich über alle Seiten durch das ganze Buch zieht. Sie ist nicht immer der Horizont. Manchmal ist sie auch ein Brückengeländer aus der Vogelperspektive, eine Dachkante, die Fußbodenleiste oder die Mittellinie eines Tennisplatzes. Oder der bildliche Durchschnitt einer Menschenmenge.
Die Figuren sind bei Celas weich konturierte Kompositionen aus Farbflächen. Sie bieten Bezugspunkte, man sieht aus ihrer Perspektive, sie relativieren Weite, Ferne und Nähe.
Mal gibt es Knicke in der Optik, etwa wenn ein Kind die parallelen Lamellen der Jalousie auseinanderzieht, um das Gesichtsfeld zu erweitern. Oder wenn die quere Weite durch runde Strukturen eingerahmt und fokussiert wird.
Carolina Celas Bis zum Horizont ist ein Gedicht auf eine vermeintlich so klare, einfache und doch so wandelbare und vielfältige Linie.

In die Horizontale begeben sich auch die verschiedensten Tiere in Henriette Boerendans‘ Bilderbuch Auch Affen wollen schlafen. Ob tagaktiv oder Nachschwärmer, ob winzigmäuseklein oder riesengroß wie ein Wal – alle brauchen Schlaf und müssen mal abschalten.
Wie unterschiedlich Tiere zur Ruhe kommen, beschreibt Boerendans in ebenso pointierten wie informativen Texten. Schimpansen bauen sich komfortable Hängematten, sicher hoch oben in den Baumwipfeln, aus zurechtgebogenen Ästen. Orang Utans toppen das ganze sogar noch mit einem Palmblattdach gegen Regen.

Schillernde Schönheit in vielen Schichten

Dachse kuscheln sich symbiotisch aneinander. Eichhörnchen bauen mehrere Behausungen, Kobel, und wechseln den Schlafplatz nach Gusto. Seeotter täuen sich mit Seegras fest, sodass sie nicht abtreiben.
Wale müssen zwischendurch Luft holen und schlafen nur mit einer Hirnhälfte. Das mit der Horizontalen stimmt natürlich nicht für alle Tiere. Man kennt es von senkreicht kopfüber schlafenden Fledermäusen. Und auch Spechte hängen in ihren hölzernen Höhlen ab.
Illustriert hat die Niederländerin die sympathischen Schläfer mit ihren faszinierenden, vielfach ausgezeichneten Holzschnitten. In mehreren Farbschichten gedruckt entstehen Kunstwerke, die die Fauna in ihrer schillernden Schönheit und Vielfalt zeigt.

Optisch ebenso bezaubernd ist das Alphabetbilderbuch Affe Bär Zebra, das Henriette Boerendans mit der Dichterin Bette Westera geschaffen hat. Schrift läuft in unserem Kulturkreis auch über die Horizontale. Und wenn man lesen kann, kann man auch ganz viel über die unterschiedlichsten Lebewesen erfahren. Die Tiere sind puristisch naturalistisch wiedergegeben, in opulente Farben getaucht und mit gewitzten dekorativen Details versehen. Das R illustriert ein Rotkehlweibchen, ihr Spiegelbild ist versehen mit einem anspielungsreihen Tapetenmuster. Das Besondere: Sie singt ebenso gut wie ein männliches Rotkehlchen.

Wissenswertes Zeile für Zeile

Das erfährt man unter anderem aus Westeras Versen. Manchmal etwas gestelzt (aber eigentlich ist es unmöglich, Lyrik zu übersetzen) erzählt sie Wissenswertes zu jedem einzelnen Tier und Buchstaben. Zum Beispiel Q wie Quetzal:
»Wetten, du kannst nicht ermessen,
was wir Quetzals meistens fressen?
Lorbeerfrüchte, reif und grün.«
Was diese merkwürdigen Früchte sind, wird im angehängten Index noch mal erklärt, eine kluge Form der Repetition.

Manchmal ist der Horizont auch zu weit: Wenn man Schiffbruch auf dem offenen Ozean erleidet und weit und breit nichts ist, um sich festzuhalten. Gerettet werden Vater, Tochter und Hund in Mark Janssens Ich bin eine Insel.
Das klingt eigentlich egozentrisch, solitär und isoliert. Nicht umsonst wird sonst immer betont, dass niemand eine Insel sei und alle sozial interagierende Wesen sind. Hier ist das Inselhafte aber überlebenswichtig.
Eine Insel zu sein bedeutet: Beschützen, behüten, altruistisch und geduldig zu sein.
Das Buch des niederländischen Künstlers ist ein überwältigender Farbrausch. Es erinnert an Marc Chagalls Traumwelten mit fantastischen Elementen von Miró und Paul Klee. Vor allem ist es aber ein neues Bilderbuchkunstwerk von Mark Janssen. Das mit einer reizenden Überraschung und Belohnung für seine besondere Heldin endet.

Es gibt mehr von dieser Grenzlinie zwischen Himmel und Erde zu erzählen, als man sich träumen lässt.

Carolina Celas: Bis zum Horizont, Übersetzung: Claudia Stein, Verlag Kleine Gestalten, 2020, 40 Seiten, ab 3, 14,90 Euro

Henriette Boerendans (Text und Illustration): Auch Affen wollen schlafen, Übersetzung: Wolf Erdorf, aracari Verlag, 40 Seiten, ab 4, 17 Euro

Bette Westera, Henriette Boerendans (Illus.): Affe Bär Zebra, Übersetzung: Wolf Erdorf, aracari Verlag, 64 Seiten, ab 4, 18 Euro

Mark Janssen: Ich bin eine Insel, Übersetzung: Eva Schweikart, Fischer Sauerländer, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Nichts zu teilen

Das nennt man Understatement: Als Sara Nick fragt, ob er heute was Spannendes erlebt hat, antwortet der: „Nein. Ich hab ein paar Sachen gemacht. Aber richtig spannend waren die nicht.“ Nick erzählt, dass er Handstand gemacht hat, ein bisschen geschwommen ist, sich ausgeruht und ein paar Mäuse gesehen hat.

Also tatsächlich Nichts passiert, wie der niederländische Kinderbuchillustrator Mark Janssen sein erstes Bilderbuch nennt? Von wegen: Was Nick verschweigt, sehen wir auf seinen wunderschönen Aquarellbildern: Den Handstand hat Nick auf dem Kopf eines riesigen, sehr freundlichen Tigers gemacht. Geschwommen ist er mit Walen, inmitten eines Schwarms bunter Fische. Ausgeruht hat er auf dem vor spitzen Zähnen strotzenden Maul eines Drachen. Und die paar Mäuse waren eher ein paar Hundert.

Die doppelseitigen Bilder lassen den Betrachter eintauchen in eine betörende Phantasiewelt und stehen in größtmöglichem Kontrast zu den von Nick und Sarah angegebenen Tätigkeiten.

Wenn Sarah sagt, „heute morgen hab ich einen Apfel gepflückt“, verschweigt sie, dass sie hoch oben auf einer Räuberleiter aus wie schwerelose Wolken wirkenden Elefanten, auf der Rüsselspitze eines kleinen Elefanten balancierte, um an den himmelhoch hängenden Apfel zu gelangen. Und während sie auf der Flöte eine Melodie gespielt hat, war sie von in allen Farben schillernden Paradiesvögeln umgeben und sitzt bei einem von ihnen auf dem Schnabel.

Und der Betrachter fragt sich: Fanden die Kinder ihren Tag tatsächlich so langweilig? Oder verschweigen sie absichtlich, was sie wirklich erlebt haben? Warum?

Eine Erklärung könnte sein, dass es ihnen allein keinen Spaß macht, egal was sie tun. Am Schluss schlägt Nick Sarah etwas vor: „Ich hab eine Idee. Wie wär’s, wenn wir morgen zusammen …? Einfach mal zu zweit …?“ Eine vorsichtige Einladung zum gemeinsamen Nichtstun, auf die Sarah begeistert eingeht: „Das wär echt toll, Nick!“ Und während die Kinder in Vorfreude auf den gemeinsamen Tag einschlafen, verwandelt sich der neutrale, weiße Untergrund in ein das kuschelige Fell eines gigantischen Eisbären, auf dem auch noch drei winzige Eisbärbabies schlummern und ein paar Mäuse rumtoben.

Vielleicht muss man aber auch nicht immer alles erzählen, sondern kann seine Phantasiewelten und die eigenen Erlebnisse auch mal für sich behalten. Im Zeitalter, in dem alles ständig mit allen geteilt, fotografiert, festgehalten und ausgeplaudert wird, ist das ebenso ungewöhnlich wie angenehm. Die ganzen nur in der virtuellen Realität existierenden Leute halten Normalität gar nicht mehr aus, alles muss immer hammermäßig und mehr als überlebensgroß sein, und durch das permanente Geplapper in den sozialen Medien vergewissern sie sich ständig dessen. Und doch ist jeder für sich allein in seiner aufgeblähten Welt.

Und dann kommt dieses faszinierende und farbenprächtige Bilderbuch, in dem nichts passiert. Und lässt die ganzen Selbstdarsteller vor Neid erblassen.

Mark Janssen: Nichts passiert, Übersetzung: Eva Schweikart, Sauerländer, 2018, 36 Seiten, ab 4, 14,99 Euro