Die Krux mit den Geheimnissen

battutQuadratisch, knallig rot und mit einer kleinen Maus in einem strahlend weißen Spot! — Mein kleines großes Geheimnis ist gedichtet und illustriert von Éric Battut. Reduziert in Text und Bild, zieht uns sogleich der apfelrote Vorsatz hinein. Zum Begucken und zum Zählen. Ich komme auf über 200 Früchtchen allein auf einer Seite …

Aber hier geht es nicht ums Zählen. Hier geht es um ein wichtiges Geheimnis, nur für mich allein. Denkt die Maus, die Heldin dieses Bilderbuchs. Denn was findet sie? Einen Apfel. Und der ist soooo schön. Den will sie behalten. Auf keinen Fall teilen. Oder verlieren? Was liegt da näher, als den Fund zu vergraben. Tief in der Erde soll er nur ihr gehören. Ihr ganz allein.

Doch die Welt ist neugierig. Ein jeder, der vorbeikommt, erkundigt sich: „Was hast du da?“ Das rotbraune Eichhörnchen, der hellblaue Vogel, die grasgrüne Schildkröte, der braune Stacheligel, der braune Hase, der knallgrüne Frosch … Sie alle wollen´s wissen, die Maus aber bleibt stur: „Das ist mein Geheimnis und ich verrat´ es nicht.“

Und den Tieren scheint das zu genügen, sie trollen sich. Keines hakt nach, keines bedrängt die Maus. Voller Stolz steht sie da, mit roten Wangen, die Fäuste in die Taille gedrückt. Ha! Doch dann passiert etwas, das hat die graue Heldin nicht mehr in ihren Händen. Der Minisprößling neben ihr hat sich nämlich verwandelt. In einen immer größeren Baum mit kräftigem Stamm und wunderbarer Krone. Und inmitten grüner Blätterpracht werden Knospen zu Blüten. Blüten zu Früchten. Die der Baum nicht mehr lange halten kann …

Bass erstaunt guckt sich die kleine Maus um. Plötzlich ist alles voller Äpfel. Herrlich rot, kugelrund und bildschön. Oje, was wird denn jetzt aus ihrem großen Geheimnis? — Die allerletzte Sequenz soll hier nicht verraten werden. Die Auflösung, die Éric Battut anbietet, ist zu schön und auf jeden Fall gemeinsam zu genießen. In aller Eintracht.

Da steckt viel Stoff in dieser Geschichte, die nicht nur zum Betrachten einlädt. Groß und Klein sind schnell dabei. Fiebern mit der Maus. Beobachten aufmerksam die Gespräche mit den Tieren. Gönnen der Heldin ihren Triumph. Unser Blick ist fokussiert, die Handlung in Maushöhe nimmt uns gefangen. Wir sind ganz bei ihr, teilen still ihr Geheimnis — und ihre Überraschung. Und dann? Wandert unser Blick ein Stück zur Seite und staunend nach oben. Wie das? Wir blättern zurück …

Die Gestaltung ist so einfach wie überzeugend, die Maus charmant, das übrige Personal höchst liebenswert, das farbige Spiel mit dem Text gelungen. Ein Bilderbuch mit Mehrwert, wunderbar!

Éric Battut: Mein kleines großes Geheimnis, Übersetzung: Christiane Lawall, Annette Betz 2018, 32 Seiten, ab 3 (und für alle!), 14,95 Euro

Art Spiegelman packt aus…

metamaus art spiegelmanLange ist es her, dass ich den Comic Maus  von Art Spiegelman in den Händen hatte. Doch jetzt musste ich die beiden Bände (ich habe noch die „Originalausgaben“ aus den 90er Jahren) aus dem Regal ziehen und mich erneut in diese schreckliche Geschichte versenken. Wieder war ich gebannt und erschüttert, genau wie vor 20 Jahren, als ich zum ersten Mal von den Erlebnissen von Spiegelmans Eltern in Auschwitz  gelesen habe. Auslöser für die Neulektüre ist das Buch MetaMaus, ebenfalls von Spiegelman, das jüngst auf Deutsch (in der Übersetzung von Andreas Heckmann) erschienen ist.

Hierin gibt Spiegelman Einblicke in die Entstehung von Maus und seine Arbeitsweise, denn mittlerweile hat er es wohl satt, die immergleichen Fragen zu seinem Opus Magnum zu beantworten. Daher hat er Hillary Chute, Professorin an der Universität von Chicago, in langen Gesprächen die die drei wichtigsten Fragen beantwortet: Warum der Holocaust? Warum Mäuse? Warum Comics?

Spiegelman holt dafür ausführlichst aus – man wird dabei ständig auf die Parallele zu den Gesprächen mit seinem Vater Wladek gestoßen, die er für Maus geführt hat. Zugleich hat er sein Archiv mit Familienfotos, ersten Maus-Skizzen, Entwürfen, Bildern, Büchern und Zeichnungen geöffnet, die ihn selbst bei seiner Arbeit inspirierten. So hat man mit MetaMaus nun beides vor sich: ein Bilderbuch, zum Blättern und Schauen, mit z.T. in Deutschland unveröffentlichten Comic-Strips von Spiegelman, und eine Dokumentation, wie Maus in 13 Jahren Arbeit aus einer kleinen dreiseitigen Urfassung zu einem der wichtigsten Bücher über die Judenverfolgung und den Holocaust geworden ist.

maus art spiegelmanDer Comiczeichner, der weiterhin von Maus als Comic spricht und sich nicht der Umetikettierung auf Graphic Novel anschließt, ja diese Begrifflichkeit eher verabscheut, berichtet von seinem Hadern, nicht nur mit dem Vater, sondern viel mehr auch mit den zeitgeschichtlichen Widrigkeiten der 70er- und 80er-Jahre, als die Aufarbeitung des Holocaust noch keine Selbstverständlichkeit war. Er fürchtete sich vor der Banalisierung des eigentlich Unaussprechlichen und vor der Verkitschung des Genozids. Dass er diesen Fallstricken gekonnt ausgewichen ist, erkennt man nun beim dem wissenden Neu-Lesen noch deutlicher.

Aber MetaMaus ist mehr als ein Werkstattbericht. Es ist eine Hommage an die amerikanische Comic-Geschichte, in der Spiegelman Krazy Kat, Little Nemo und Disneys Kreaturen seine Aufwartung macht. Zudem zeigt sich im Laufe von Spiegelmans Berichten und Erklärungen, dass sich ein Werk irgendwann von seinem Schöpfer emanzipiert und Deutung anderer Leser und Kritiker zulässt und sogar bestätigt. Hat Scott McCloud 1993 mit Comics richtig lesen die formale Entstehung eines Comics genauesten erklärt und analysiert, so entwickelt Art Spiegelman hier quasi ein Lehrbuch, wie man einen Comic inhaltlich erarbeitet und daraus formale Entscheidungen fällt.

MetaMaus liegt eine DVD, die neben der digitalisierten Form von Maus mit weiterem umfangreichen Material ausgestattet ist. Beeindruckend sind die englischen Tonbandaufnahmen von Spiegelmans Gesprächen mit seinem Vater (im Buch sind die übersetzten Transkripte abgedruckt). Wladeks Stimme bringt dem Hörer sein Schicksal und die Schrecken des Holocaust ganz nah. Man ist geschockt und berührt: Geschockt von dem Horror, den Spiegelmans Eltern überlebt haben; berührt von Art Spiegelmans Leistung, sich über lange Jahre mit seinem Vater so intensiv auseinandergesetzt zu haben. Man fragt sich, was heldenhafter war – seinen Vater auszufragen, zum Reden zu bringen, sich seine Geschichte in aller Ausführlichkeit anzuhören – oder die anschließende Auseinander- und Umsetzung in zutiefst bewegende Bilder. Eins ist ohne das andere nicht denkbar, so wie ab jetzt Maus ohne MetaMaus nicht mehr lesbar ist.

Mit MetaMaus hat Art Spiegelman ein Grundlagenwerk geschaffen – und das nicht nur für die Comic-Forschung, sondern auch für den Umgang mit dem Holocaust und seine Aufarbeitung. Ein Muss also nicht nur für Maus-Fans …

Art Spiegelman: MetaMaus. Einblicke in Maus, ein moderner Klassiker. Übersetzung: Andreas Heckmann, Fischer Verlag, 2012, 298 Seiten mit DVD, 34,00 Euro

Art Spiegelman: Die vollständige Maus. Die Geschichte eines Überlebenden. Mein Vater kotzt Geschichte aus; Und hier begann mein Unglück. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 1992, Fischer Verlag, 2010, 293 Seiten, 14,95 Euro