Der Maulwurf in uns

MaulwurfBehaglich haben es die Maulwürfe, unter der grünen Wiese: Plüschsessel, Streifenbettwäsche, Pünktchentapete, Bollerofen. In schwindelerregende Tiefe graben sie ihr Reich und nutzen immer ausgefeiltere Maschinen, um ihre Gänge auszubauen. Selbst legen sie keine Hand mehr an das Erdreich. Immer mehr Maulwurfshügel zieren die grüne Wiese.

Und in Moletown müssen die Maulwürfe Schlange stehen, wenn sie die Tram nehmen wollen.
Riesige Vortriebsbohrer legen neue Wege für Moletown an, immer mehr Aktenordner füllen sich mit Papieren über die Maulwurfstadt.
Die Behaglichkeit und der Luxus der Maulwürfe nimmt zu: Lautsprecher, Telefonanlagen, TV, künstliche Sonnen, Wasserklosett und Grammophon. Gemütlich haben es die Maulwürfe.
Doch die Straßen von Moletown sind voll: mit Autos, Straßenbahnen, Hüte tragenden Maulwürfen. Und um die Maulwurfshügel, oben auf der Wiese, ist keine Wiese mehr, sondern nur noch Abgasgrau und Fördertürme. Nur ein kleines Fleckchen Gras ist noch da, abgesperrt mit einem rot-weißen Flatterband  … Trist haben es die Maulwürfe.

Natürlich braucht man keine zwei Sekunden um im Maulwurf uns Menschen wiederzukennen. Aber wie Torben Kuhlmann das macht, in diesem schmalen Bilderbuch, ist ganz fein. Auf wenigen Seiten durchlaufen die Maulwürfe einen Jahrhunderte lange Entwicklung. Dabei sollte man aber ganz genau hinsehen, um all die Details und Seitenhiebe auf unsere dekadent-entartete-naturferne Gesellschaft zu entdecken.
Mit Maulwurfstadt hat Torben Kuhlmann nach Lindbergh sein zweites Bilderbuch vorgelegt. Er kommt dabei mit zwei Sätzen Text aus, den Rest erzählen seine Bilder. Die gedeckten Braun- und Sepiatöne geben der Geschichte ein wunderbar antiquiertes Aussehen, von dem man sich aber nicht täuschen lassen darf. Spätesten mit den Schwarzweißbildern auf den Umschlaginnenseiten wird klar, an wen sich diese Maulwurfiade richtet.

Mag sein, dass es für uns und die Natur um uns herum schon zu spät ist. Doch nach diesem Buch nimmt man sich vor, ganz schnell etwas zu ändern, am eigenen Leben, an der Umweltverschmutzung, am täglichen, blinden Gehetze durch die Stadt. Und den kleinen Lesern wird so schon sehr früh klar, auf wessen Kosten unsere Behaglichkeit und Bequemlichkeit geht. Vielleicht wissen die, die nach uns kommen, die Natur höher zu schätzen. Denn niemand möchte so enden wie die Maulwürfe.

Torben Kuhlmann: MaulwurfstadtNordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten,  ab 5, 14,99 Euro

Gegen das Schweigen

gensichenDie Zahlen sind erschreckend: Jedes Jahr werden in Deutschland 20.000 Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer liegt schätzungsweise bei dem zehn- bis zwanzigfachen. Viel zu oft schweigen die betroffenen Kinder und Jugendlichen, aus Scham, aus Angst, aus Abhängigkeit, aus Liebe.

Der Hamburger Psychotherapeut Simon Gensichen will mit seinem Buch Anpfiff Kindern und Eltern helfen und zwar auf doppelte Weise. Zum einen liegt es ihm am Herzen, sexuelle Gewalt zu verhindern, zum anderen zeigt er auf, wo Betroffene Hilfe finden und wie sie das quälende Schweigen überwinden können.
Gensichen nutzt dafür eine ungewöhnliche Mischung aus fiktiver Erzählung und Ratgeber.

Im ersten Teil des Buches erzählt Gensichen die Geschichte des 10-jährigen Olek und des etwa 15-jährigen Jan. Beide spielen im selben Verein Fußball.
Jan ist in Bente verliebt, kann jedoch mit seinen Emotionen nicht gut umgehen. Schnell rastet er aus, Nähe erträgt er nur schwer. Warum das so ist, weiß Jan nicht.
Olek ist neu in der Stadt, seine Mutter kommt aus der Ukraine. Freunde hat Olek noch nicht, daher ist er dankbar, dass Fußballtrainer Prott so nett zu ihm ist. Prott kümmert sich um Olek, als dieser beim Training verletzt wird, nimmt ihn mit auf die Kartbahn, lässt ihn bei sich zu Hause Computerspiele spielen, erlaubt ihm, Bier zu trinken. Dabei sucht Prott immer mehr die körperliche Nähe von Olek: Er streichelt ihn, küsst ihn auf die Wange, nötigt ihn, das nasse T-Shirt auszuziehen. Von Olek verlangt er, dass er niemandem von ihren „Geheimnissen“ erzählt. Olek hält sich daran – und gerät in Gefahr.
Gerade noch rechtzeitig können Jan und Bente ihn aus Protts Fängen retten.

In diesem Erzählteil zeigt Gensichen anschaulich, wie perfide die Täter oftmals vorgehen. Hilfsbereit und kumpelhaft auf der einen Seite, erpresserisch auf der anderen. Olek, der sich Freunde wünscht, durchschaut dieses gefährliche Spiel nicht.
Wie sich sexueller Missbrauch von kleinen Kindern auswirkt, macht die Figur Jan deutlich. Er wurde von seinem Vater missbraucht, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Vor Jahren hat die Mutter den Vater rausgeschmissen, ohne Jan die Gründe zu erklären, für die er damals einfach zu klein war. Aber Jans Emotionen, seine unzügelbare Wut, die Angst vor Nähe, deuten an, dass etwas nicht stimmt. Allein kann Jan das jedoch nicht lösen. Erst als die Mutter mit ihm über die Vorfälle in Jans Kindheit spricht, kann sich der Junge seinem Schicksal stellen.

Im zweiten Teil seines Buches, dem eigentlichen Ratgeber, erklärt Gensichen zunächst Jugendlichen, was alles zu sexueller Gewalt zählt, seien es vermeintlich harmlose Doktorspiele oder das gemeinsame Bad von Elternteil und Kind. Sobald ein Kind damit nicht einverstanden ist, aber gezwungen wird, wird die Grenze zur Gewalt überschritten. Gensichen macht den Kindern Mut, Nein zu sagen – und zwar „ohne Begründung“ –, wenn sie etwas nicht wollen oder ein Alarmgefühl sich in ihnen bemerkbar macht.
Erwachsene Leser finden anschließend Hinweise, wie sie die oftmals nonverbalen Hilferufe von Kindern und Jugendlichen erkennen und wo sie medizinisch, psychologische und rechtliche Hilfe bekommen können. Die entsprechenden Internetadressen und Telefonnummer sind im Anhang aufgelistet.

Der Mix aus fiktiver Erzählung und Ratgeber ist außergewöhnlich. Aber er funktioniert hervorragend, denn Gensichen erläutert im Sachbuchteil die psychologischen Hintergründe der fiktiven Alltagsszenen in Schule und auf dem Sportplatz. Jugendlichen Lesern bieten sich hier Identifikationsmöglichkeiten, sie können überprüfen, ob in ihrem Umfeld etwas nicht stimmt. Sie lernen, erste Gefahren zu erkennen und Schlimmeres im besten Fall abzuwenden.
Vor allem aber lernen sie, dass reden ganz wichtig ist. Nur wer einer Vertrauensperson sein Herz ausschütten und seinen Kummer erzählen kann, ohne dafür abgestraft zu werden, kann sich von seinen Peinigern befreien und anfangen, das schreckliche Geschehen zu verarbeiten.
Gensichens Buch ist ein erster, wichtiger Schritt, das schädliche Schweigen zu durchbrechen.

Simon Gensichen: Anpfiff. Gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Ein Aufklärungsbuch für Jugendliche und Erwachsene, Ellert & Richter, 2014, 192 Seiten, 12,95 Euro