[Gastrezension] Wenn Wünsche Flügel kriegen − oder Schuppen?

krokodil

Odd – der Held von Taran Bjørnstads Roman Der Krokodildieb – ist neun und eher sonderbar, feige und dick, so seine Selbsteinschätzung.
Daheim wird er als Jüngster oft übersehen, in der Schule wählt ihn keiner in seine Mannschaft, und die coole Nova nutzt jede Gelegenheit, ihn zu mobben. Da kann auch Mette, die Odd heimlich verehrt, nicht helfen. So träumt er von Superkräften und wittert eines Tages seine Chance.
Bei einem Projekttag im Aquarium präsentiert Tierpfleger Rolf den jungen Kaiman Zack – und Odd ist der Einzige, der sich traut, das Tier zu streicheln. Bewunderung allenthalben, Odd wächst über sich hinaus. Und plötzlich kann er nur noch an eins denken: Zack verleiht ihm Kraft, deshalb muss er ihn stehlen. Das Unmögliche gelingt!
Daheim klebt Krokodildieb Odd zur Abschreckung der Familie ein großes Schild an seine Tür, dann lässt er Zack frei und bewegt sich nur noch „oberirdisch“: vom Schreibtisch auf den Stuhl und hoch aufs Etagenbett, denn Zack verschlingt, was sich ihm bietet. Ein Handy beendet schließlich das Abenteuer: Der Kaiman streckt alle Viere von sich, und Odd kriegt Angst. Stirbt das Tier? Ihm bleibt nur eins: Zack muss zurück ins Aquarium …

Gleichberechtigt neben dem überzeugenden Text, in der Übersetzung von Maike Dörries, stehen die Illustrationen, meist in Schwarzgraugrün mit gezielten Ausflügen in andere Farbwelten. Das großzügige Layout und das besondere Format des Buches lassen dem Zeichner Raum, fast wie in einer Graphic Novel. Ungewöhnlich sind die Perspektiven und Bildausschnitte. Anrührend porträtiert ist Odd mit übergroßer Brille und von gestauchter Statur, der so überzeugend schwach und stark ist. Freundin Mette im Afrolook verkörpert das pralle Leben, Nova die geballte Übermacht. Großartig Tierpfleger Rolf mit Tattoos, Glatze und feinem Gespür. Fast lebensecht Kaiman Zack, dessen runzlige Haut man zu berühren meint und dessen Anatomie (samt Mageninhalt!) auf einer Doppelseite ebenso fasziniert wie das Aquarium mit riesigen Mantarochen und zehn verschiedenen Haiarten. Ein wenig skandinavisch schräg – und so gut!

Heike Brillmann-Ede

Taran Bjørnstad/Christoffer Grav (Illu): Der Krokodildieb, Übersetzung: Maike Dörries, Beltz + Gelberg, 2016, 128 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

 

 

[Gastrezension] Scheitern als Chance

stecktFür jemanden wie mich, der nach dem Motto „schlimmer geht immer“ lebt, ist Oliver Jeffers’ neues Bilderbuch Steckt sehr lustig, geradezu selbstironisch und tröstlich. Allerdings halte ich diese auf Erfahrung beruhende Lebenseinstellung (Wissenschaftler nennen das „evidenzbasiert“) für gesunden Realismus, und sehe mich weniger als Pessimistin.

Dazu passt Steckt. Selbiges tut nämlich Floyds roter Papierdrache in einem großen Baum: Das Flugobjekt hat sich im Geäst verhakt und steckt fest. Und wie man das so macht, wirft der energische, kleine Junge einen Schuh, genauer den linken von seinem Lieblingspaar hinterher, um den Drachen zu befreien. Doch der Schuh bleibt ebenso wie der hinterhergeschleuderte rechte stecken. Fragt Ihr Euch auch manchmal, wie eigentlich die vielen Schuhe auf Laternenmasten und Bäume kommen? Jetzt wisst Ihr es. Und der Ärger geht weiter: Floyd schnappt sich Mitch, die Katze, gleiches Verfahren, gleiches Ergebnis. „Katzen bleiben ja ständig auf Bäumen stecken. Aber das ging langsam zu weit.“ Also holt Floyd eine Leiter – und wirft sie ebenfalls auf den Baum, wo sie natürlich steckenbleibt.

Jetzt gibt es für den Rotschopf kein Halten mehr, schließlich hat er die Leiter nur vom Nachbarn geborgt und muss sie definitiv zurückstellen, bevor jemand merkt, dass sie weg ist. Floyd schmeißt einen Eimer rosa Farbe hinterher, was die nun leicht bekleckerte Katze vergrätzt und Jeffers’ auf das wesentliche reduzierten, in kräftigen Farben gemalten Bildern noch ein paar Akzente hinzusetzt. Floyd wird richtig sauer, eine kleine Gewitterwolke braut sich über ihm zusammen, die Augenbrauen werden zum wütenden Strich. Und er macht weiter: Eine Ente folgt der Farbe, dann das Fahrrad eines Freundes, der massive Spülstein, die extra ausgebaute Haustür, das Familienauto und der Milchmann, der verwirrt die mittlerweile entspannte Katze fragt, ob sie auch auf dem selben Weg dort oben gelandet sei.

Das ist wunderbar absurd und lustig, aber absolut konsequent. Der kleine Drachenjäger (erfrischenderweise ist damit mal keine Fantasyfigur gemeint) hat sich in etwas verrannt und kann jetzt unmöglich zurück. Das kennt jeder. Und mehr und mehr verliert man das ursprüngliche Objekt der Begierde aus den Augen. Denn es landen des weiteren ein Orang-Utan, ein kleines Boot und ein großer Ozeandampfer, ein Nashorn und das Nachbarhaus auf dem Baum.

Steckt, darin klingt auch „sitzt, passt, wackelt und hat Luft an“ und genau das passiert: Im Geäst fügt sich alles zusammen und bildet eine Welt für sich, zu der sich schließlich noch ein Sattelschlepper, ein Leuchtturm und ein „Wal, der nur zur falschen Zeit am falschen Ort war“, gesellen.
Diese Geschichte hat eine innere Logik, die Kinder sofort verstehen. Und die Erwachsene nur allzu gut kennen und fürchten, angefangen beim falschen Studium, über blöde Jobs, von denen man sich mehr versprochen hat, bis hin zu Beziehungen, die nicht funktionieren, und groß angelegten Projekten, wie Wohnung renovieren und einmal gründlich auszumisten.

Steckt versteht man auch ohne Text, der lakonische Tonfall macht das Buch aber noch witziger. Der vielfach ausgezeichnete Illustrator Oliver Jeffers hat mit Pinguin gefunden sowie dem Nachfolger Up and Down bezaubernde Bücher über Freundschaft geschaffen. Im preisgekrönten Das Herz in der Flasche erzählt der 1977 in Australien geborene, in Belfast aufgewachsene und mittlerweile in New York lebende Kinderbuchkünstler anschaulich von einem Mädchen, das aus Trauer sein Herz verschließt. Aber ohne Gefühle ist ihr Leben langweilig, fade, trist, monoton, sichtbar farblos. Erst Emotionen machen es lebenswert und Schmerz gehört dazu. Steckt zeigt nun das Scheitern als Chance: Floyd macht durch seine Sturheit zunächst alles immer noch schlimmer. Aber schließlich ergibt sich aus dem größten Chaos die Lösung – im wortwörtlichen Sinn. Oliver Jeffers’ neues Buch steckt voller kurioser Komik, charmantem Witz und kluger Philosophie.

Elke von Berkholz

Oliver Jeffers: Steckt, Übersetzung: Anna Schaub, NordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,90 Euro

[Jugendrezension] Gefährliches Spiel

panicPanic, so heißt das verbotene Spiel. Jeder Schulabgänger, der Mut hat, macht mit. Alle zahlen ein, aber nur einer kann gewinnen. Die Siegprämie beträgt diesmal 670.000 Dollar und ist die Eintrittskarte in eine bessere Zukunft.
Heather könnte von ihrer drogen- und alkoholabhängigen Mutter weg. Für sie und andere ist das Spiel die Chance auf ein unbeschwertes Leben. Doch sie ahnt nicht, worauf sie sich einlässt: Um zu gewinnen, müsste sie lebensgefährliche Aufgaben bestehen.
Bald steigern sich ihre Probleme. Heather leidet unter der Trennung von ihrem Freund und hat große Schwierigkeiten zu Hause. Kurzerhand reißt sie mit der kleinen Schwester aus und lebt obdachlos auf der Straße. Nun ist ihre einzige Hoffnung der Sieg bei Panic. Sie legt alles daran, zu gewinnen. Selbst im Angesicht des Todes.

Der andere Protagonist des Buches ist Dodge. Er lebt mit seiner behinderten Schwester Dayna und seiner Mutter in einem verfallenen Haus. Auch er will seinen Verhältnissen entfliehen, indem er an Panic teilnimmt.

Panic – Wer Angst hat, ist raus! von Lauren Oliver ist ein unglaublich fesselnder Roman. Die Geschichte ist abwechselnd aus den Erzählperspektiven von Heather und Dodge geschrieben. Dadurch bekommt man zwei Sichtweisen auf die Geschichte vermittelt, was das Ganze noch spannender macht.
Ich würde das Buch auf jeden Fall weiterempfehlen, es ist sehr aufregend. Es ist außerdem gar nicht so unrealistisch. Vielleicht gibt es oder gab es schon irgendwo einmal ein ähnliches Spiel …

Katharina (13)

Lauren Oliver: Panic – Wer Angst hat, ist raus! Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen, 2014, 368 Seiten, ab 13, 17,99 Euro