Nach langer Zeit habe ich – der Buchmesse und den anregenden Kontakten dort sei Dank – mal wieder ein richtig gutes und vor allem wichtiges Jugendbuch gelesen. Im Roman Alle Farben Grau erzählt Martin Schäuble von Paul.
Der 16-Jährige ist ein ganz besonderer Typ: Er hält Vorträge über Bowie, liebt Mangas und Japan, lernt dementsprechend Japanisch und Aikido, er zockt wie seine Altersgenossen Computerspiele und wächst in einem behüteten Heim mit zwei Schwestern auf. Alles perfekt, könnte man meinen.
Die Leserschaft lernt Paul über die Ich-Erzählungen verschiedener Figuren kennen: Da sind Alina, das Mädchen aus der Akutstation der Jugendpsychiatrie, Lien, seine chinesische Mitbewohnerin im Internat, sein bester Freund Noah oder Riku, der Japanisch-Lehrer. Auch seine Familie erzählt von Paul – nachdem er sich das Leben genommen hat.
Nach einer wahren Geschichte
Dieses Buch, das nach einer wahren Geschichte entstanden ist, dreht sich um den Suizid eines psychisch erkrankten Jugendlichen und ist somit kein leichter Stoff. Reflexartig denkt man zunächst: »Muss das sein? Ist das nicht etwas zu viel? Regt es womöglich zur Nachahmung an?«
Nein, tut es nicht. Aber ja, es ist viel. Ja, es ist traurig. Und ja, es muss sein.
Denn gerade in Zeiten, in denen Jugendliche immer noch mit den Nachwirkungen der Pandemie zu tun haben und die Weltlage eh nicht zum Besten steht, müssen wir auch in Bezug auf psychische Gesundheit genau hinsehen, wie es um die Menschen um uns herum steht. Denn nicht immer ist es ihnen – jungen wie alten – anzumerken, ob es ihnen schlecht geht. Das Sprechen über psychische Erkrankungen wird dabei zu einem Schlüssel, der in unserer Gesellschaft viel zu wenig genutzt wird. Denn noch immer kommt es einer Stigmatisierung gleich, wenn man öffentlich zugibt, psychisch krank zu sein.
Unerkannte psychische Erkrankung
Pauls depressive Erkrankung wird lange nicht erkannt, auch weil bei ihm zu spät festgestellt wird, dass er das Asperger-Syndrom hat. Er nimmt die Welt also generell anders wahr, leidet dadurch aber noch stärker an seiner Umwelt und unter der Depression. So verkriecht er sich im Internat schon mal im Schrank, um zumindest dem nervigen Mitbewohner zu entgehen. Seiner eigenen inneren Stimme, die ihn ständig fertig macht, entkommt er leider nicht.
Die verschiedenen, nicht zeitlich geordneten Perspektiven – zu denen auch Pauls eigene Ich-Erzählung gehört – bilden die unterschiedlichsten Puzzleteile zu einem Menschen, der sich nach und nach den Lesenden offenbart. Dabei wird deutlich, wie wenig Außenstehende vom anderen, also von Paul wissen, ja, wissen können, und wie er im Gegenzug seine Umgebung und sich selbst wahrnimmt. Dass dabei enorme Lücken klaffen, ist so normal wie erschreckend.
Feinfühlig und offen
Martin Schäuble gelingt das große Kunststück, offen und feinfühlig über das heikle und tabuisierte Thema Suizid zu schreiben (wie Paul sich das Leben nimmt, wird nicht geschildert, denn das ist überhaupt nicht notwendig). Der Autor moralisiert nicht, er macht auch keine Hoffnungen was Paul angeht, er klagt nicht an. Die Eltern, die quasi wie in einem Interview von Paul berichten, machen sich selbst schon genug Vorwürfe. Es gib in diesem Fall keine Lösung, kein Happy End, nur ein Weiterleben für die, die zurückbleiben. Und das Sprechen mit all denen, die ebenso einen Verlust erlitten haben – das haben sich Pauls Eltern seit dem auf die Fahnen geschrieben.
Und dennoch gibt es bei allem Traurigen, das in diesen Seiten steckt, diesen Funken Hoffnung, dass sich möglicherweise für Lesende, die mit diesem Gedanken spielen, etwas ändern könnte, wenn sie nur die Kraft aufbringen, über ihre Seelenqualen und ihre selbstzerstörerischen Absichten zu sprechen. Die wichtigen Hinweise, wo Betroffene Hilfen und Gesprächsangebote finden, sind vor und nach der Geschichte aufgeführt, doch es ist im besten Fall Paul selbst, dieser eindrückliche Junge, der andere animieren könnte, sich solche Hilfe auch zu suchen.
Martin Schäuble: Alle Farben grau, Fischer Verlag, 2023, ab 14, 15 Euro