Kein schöner Land

schäubleHerr Böhmermann twitterte in den vergangenen Tagen, kurz nach dem TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz, dass nach 60 Jahren nun bald wieder Nazis im Bundestag sitzen werden. Und wir haben es nicht verhindert.

Ein bitterer Tweet. Denn es geht schon nicht mehr darum, ob die AfD in den Bundestag einzieht, sondern nur noch die Frage bleibt, mit viel Prozent. Können wir wirklich nichts mehr dagegen tun? Ich weiß es nicht, ich hoffe, doch.

Was jedoch passieren könnte, wenn eine Partei wie die AfD tatsächlich die Macht in unserem Land übernehmen würde, hat Autor Martin Schäuble weiter gedacht und daraus einen packenden Roman gemacht.
Darin regiert in einer nicht allzu fernen Zukunft die Nationale Alternative, die EU ist abgeschafft, der Euro ebenso, man zahlt wieder mit Mark. Die Atomkraftwerke laufen weiter, erneuerbare Energien werden nicht mehr unterstützt. Die Rentenversicherung ist privatisiert worden, an den Grenzen wurden Mauern hochgezogen. Die Gesellschaft ist überaltert, aber in den Altenheimen fehlen die Pflegekräfte. In diesem düsteren Szenario leisten die Protagonisten Anton und Noah ihren Wehrdienst. Mitten in der Nacht sollen sie sogenannte Invasoren, also Flüchtlinge, an der Grenze abfangen.
Anton steht hinter der Politik der Nationalen Alternative, Noah ist kritisch und sabotiert eine dieser Abfangaktionen.

In einem weiteren Strang lässt Schäuble die jung Äthiopierin Fana von ihrem Leben in Addis Abeba erzählen. Dort ist sie auf eine deutsche Schule gegangen, arbeitet in einem Krankenhaus und muss ihre Eltern unterstützen. Im Land herrscht eine fürchterliche Hungersnot, sodass Fana von einer befreundeten Deutschen schließlich dazu überredet wird, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen.

Fana schafft es tatsächlich bis nach Deutschland, das Noah nur noch „Endland“ nennt, und im Flüchtlingsheim kreuzt sich ihr Weg mit dem von Anton. Der ist von seinem Offizier auf eine geheime Mission geschickt worden, deren ganze Dimension dem Jungen erst vor Ort wirklich aufgeht …

Schäuble schafft es, jugendlichen Leser_innen ein Gespür zu vermitteln, dass das, was heute von Politikern und Populisten diskutiert wird, ganz schnell bittere Wahrheit werden kann und unser aller Leben prägen würde. Die drei Protagonisten, die jeweils als Ich-Erzähler berichten, stehen für die verschiedenen Standpunkte, die man in Sachen Flüchtlingsproblematik einnehmen kann. Durch die rasanten Wendungen im Plot wird deutlich, wie schnell man zum Ausgestoßenen oder Helden, zum Spielball oder Macher der Geschichte werden kann.

Autor Martin Schäuble ist mit dieser Geschichte ganz dicht an den bewegenden Themen unserer Zeit und schärft den Blick für die Ungerechtigkeiten, die sich auf leisen Sohlen immer mehr in unsere Gesellschaft einschleichen. Zudem führt er noch einmal sehr drastisch vor Augen, wie grausam eine Flucht in ein vermeintlich sicheres Land wie Deutschland ist und welche Gefahren die Flüchtenden dafür auf sich nehmen. Das macht die Stärke dieses Buches aus.

Erzähltechnisch geht Schäuble dabei ziemlich zackig vor. In einer nüchternen, fast spröden Sprache treibt er den Plot so rasant voran, dass mir manche Sprünge fast zu schnell gehen. Da tauchen dann die ein oder anderen Fragen auf (wie kommt Fana von Libyen nach Polen?) und manche Nebenfiguren werden so flott eingeführt, dass man sie kaum registriert.
Schäuble zeigt viele Dinge nicht, sondern lässt sie die Figuren erzählen. Das mindert für mich ein wenig das eigene Erkunden und Nach-Denken der Geschichte und wirkt in manchen Momenten ziemlich moralisch (wenn Anton über gewisse Zustände nachdenkt, spürt man den erhobenen Zeigefinger). Das hätte man sicher so darstellen können, dass es die Leser_innen stärker fordert, dann wäre der Roman jedoch wohl doppelt so lang geworden.

So aber ist Schäuble ein rasanter Zeitgeist-Roman gelungen, der junge Leser_innen für Politik und Populismus sensibilisiert. Und ihnen klar macht, dass man von Anfang an wachsam sein muss, damit es nicht so weit kommt. Bleibt nur zu hoffen, dass die Volljährigen unter ihnen auch ihr Wahlrecht wahrnehmen und auf diese doch so einfache Art ein Zeichen setzen!

Martin Schäuble: Endland, Hanser, 2017, 220 Seiten, ab 14, 15 Euro

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Rettung durch Schönheit

meurisseSo schwer es uns fällt, wir werden uns gewöhnen müssen. An den Terror, an unsinnige Anschläge. Nicht nur in anderen Ländern, weit weg von uns, sondern auch vor unserer Haustür, Ansbach und neulich Berlin haben es auf schreckliche Art gezeigt. In diesen Tagen jährt sich nun der Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo zum zweiten Mal. Die Zeichnerin arbeitet in ihrer Graphic Novel Die Leichtigkeit die schrecklichen Ereignisse auf.

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei Brüder, die zu Al-Qaida gehörten, die Redaktionsräume von Charlie Hebdo und töteten zehn Menschen. Catherine Meurisse, die seit langem für das Blatt arbeitete, verschlief an diesem Tag, verpasste den Bus und entging durch diesen Zufall dem Massaker. Sie kam mit dem Leben davon, doch ihr Leben war nicht mehr ihres. Die geschätzten Kollegen waren tot. Trauer und Schock paarten sich mit der Unfähigkeit zu arbeiten. Meurisse bekam keinen Strich mehr hin, verlor das Gedächtnis und fand sich nicht mehr zurecht. Der Arzt diagnostizierte einen dissoziativen Schock, einen körperlichen Schutzmechanismus, der zwar das Überleben sichert, den Betroffenen jedoch völlig aus der Bahn wirft.
Catherine Meurisse sucht Hilfe in der Natur, bei Freunden und in der Therapie. Nichts scheint zu helfen. Überall sieht sie „Je suis Charlie“-Schilder. Alle sind Charlie, nur sie ist es nicht mehr.

Die Anschläge vom 13. November 2015 auf das Bataclan und andere Orte in Paris versetzen ihr dann einen erneuten Schlag, alles beginnt von vorn. Sie will fort aus der Stadt, will all das Schlimme nicht mehr sehen, sondern die Schönheit suchen und sich wie seinerzeit Stendhal von der Kunst bis zur Besinnungslosigkeit überfluten lassen.
Für einige Wochen kommt sie in der Villa Medici in Rom unter. Und dort taucht sie ein in die Schönheit antiker Ruinen, barocker Gemälde, marmorner Statuen. Im Atelier Ingres zeichnet sie schließlich wieder Comics.

In dieser Graphic Novel, übersetzt von Ulrich Pröfrock, verarbeitet Catherine Meurisse ihre Geschichte auf ganz persönliche Art. In einer Mischung aus Aquarellen und Federzeichnungen schildert sie, in was für ein tiefes, dunkles Loch sie als Überlebende bzw. Entgangene fällt. Sie gerät in ein Labyrinth aus Trauer, Wut, Zorn und Hilflosigkeit. Sie schildert, wie sehr ihre Sprache unter dem Anschlag leidet, wie sehr aber doch immer wieder in den scheinbar unmöglichsten Momenten der freche, oft auch selbstironische Charlie-Hebdo-Humor bei ihr durchschlägt. Ihre persönliche Suche nach Schönheit führt sie schließlich aus diesem Labyrinth heraus und gibt ihr die Leichtigkeit zurück.

Wir, die solche Anschläge zum größten, glücklicheren Teil nur über die Medien mitgekommen, können vielleicht zweierlei aus dieser extrem persönlichen Geschichte mitnehmen: Wir sind zwar schnell dabei zu sagen „Je suis Irgendwas“ und tun auf allen möglichen Kanälen unsere Betroffenheit kund – was zutiefst menschlich, nachvollziehbar und unbestreitbar wichtig ist – doch wir müssen uns auch klar sein, dass wir es nie wirklich nachvollziehen können, wie es sich für die direkt Betroffenen – und dazu gehört Catherine Meurisse, obwohl sie dem Anschlag auf Charlie Hebdo entgangen ist – anfühlt. Da kein ein zu rasch herausgehauenes „Je suis“ schon mal wie eine Anmaßung erscheinen. So vermittelt es jedenfalls Meurisse. Hier täte etwas Zurückhaltung unsererseits vielleicht gut.

Die zweite Ahnung mag sein, dass es für die Betroffenen vielleicht auch wieder einen Weg aus dem Trauer-und-Schock-Labyrinth gibt. Manche finden ihn schneller, andere brauchen länger. Manchen hilft die Natur, anderen, wie Meurisse, öffnet die Schönheit der Kunst wieder eine Tür zu einem leichteren Leben. Das ist tröstlich. Für alle.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Carlsen, 2016, 144 Seiten, 19,99 Euro

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Congratulations!

malalaWährend der Frankfurter Buchmesse werden immer jede Menge Preise vergeben. Angefangen beim Deutschen Buchpreis (dieses Jahr für Kruso von Lutz Seiler), über den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (Jargon Lanier), den Melusine-Huss-Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage (an den Aviva Verlag für Mädchenhimmel von Lili Grün), den Virenschleuderpreis und die Nobelpreise. Bei den letzteren brennen auf der Buchmesse immer alle auf den Literaturnobelpreisträger. In diesem Jahr ist es der Franzose Patrick Modiano – einen Autor, den ich erst noch entdecken muss. Ich habe jetzt bestimmt noch ein paar andere Preise vergessen.

Das Highlight war für mich der Freitag. Da wurde mittags verkündet, dass Malala Yousafzai zusammen mit Kailash Satyarthi den Friedensnobelpreis bekommt. Echtes Gänsehautfeeling im Messetrubel. Denn gerade habe ich Malalas Geschichte in der Fischer-Ausgabe gelesen. Zusammen mit Patricia McCormick, der Jugendbuchautorin von Cut und Versehrt, erzählt Malala noch einmal von ihrem Leben im pakistanischen Swat-Tal, ihrem Wunsch nach Bildung und dem Schrecken der Taliban und ihrem Widerstand – und zwar für jugendliche Leser. So ist man ganz dicht bei Malala, erfährt, dass sich sich durchaus mit ihren Brüder streitet oder ihre Nase zu groß findet, dass sie gerne Badminton spielt – und wie sie schließlich 2012 als 15-Jährige niedergeschossen wurde und in Birmingham wieder gesund wird. Bilder aus ihrem Leben zeigen das wache Mädchen während einer Schulaufführung, als Klassenvorsteherin, mit Auszeichnungen für gute Leistungen. Es waren nur die ersten von einer ganzen Reihe, die ihr nach dem Attentat verliehen wurden.
Mit ihrer Malala-Stiftung kämpft sie weiterhin für das Recht von Mädchen auf Bildung. Vor all dem, ihrem Schicksal, ihrem Mut, ihrer Unverdrossenheit, ihrer Lebensfreude kann man sich nur respektvoll verneigen und ihr wünschen, dass sie durchhält und ihre Ideen möglichst viele Früchte tragen.

garlandFreitagabend wurde dann in Frankfurt zudem der Deutsche Jugendliteraturpreis vergeben. Aus Termingründen konnte ich nicht bei der Veranstaltung teilnehmen und erfuhr dann am späten Abend, dass Inés Garland und ihre Übersetzerin Ilse Layer in der Kategorie Jugendbuch gewonnen haben. Welche Freude! Ihren Roman Wie ein unsichtbares Band hatte ich bereits im vergangenen Jahr besprochen und ein Interview mit Inés Garland geführt. Nachzulesen hier.

Die anderen Preisträger sind Claude K. Dubois mit Akim rennt, in der Übersetzung von Tobias Scheffel, in der Kategorie Bilderbuch. Der Kinderbuchpreis ging an Martina Wildners Roman Königin des Sprungturms. Heidi Trpak (Text) und Laura Momo Aufderhaar (Illustration) bekamen den Preis für das beste Sachbuch, Gerda Gelse, Allgemeine Weisheiten über Stechmücke. Die Jugendjury entschied sich für Raquel J. Palacio Roman Wunder (übersetzt von André Mumot). Der Sonderpreis schließlich ging an die Übersetzerin Angelika Kutsch, die Kinderbücher aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen ins Deutsche bringt.

Also, ein echt preiswürdiger Messe-Freitag. Allen Gewinnern ganz herzlichen Glückwunsch! Congratulations! Felicitaciones!

Malala Yousafzai/Patricia McCormickMalala. Meine GeschichteAusgezeichnet mit dem Internationalen Friedenspreis für Kinder 2013 und Specsavers National Book Awards, Non-Fiction Book of the Year 2013, Übersetzung: Maren Illinger, Fischer KJB, 2014,  272 Seiten, 12,99 Euro