Rückkehr ins Sargassum

Als hätte jemand einen seidenen Faden an sein Herz geknüpft und würde nun unendlich behutsam daran zupfen.« Zart und fast poetisch beschreibt Dita Zipfel das rätselhafte Ziehen, das der Held ihrer Geschichte, ein Aal namens Aali, eines Tages verspürt. Ein Ziehen, ein Signal zum Aufbruch, der Anfang einer mysteriösen und faszinierenden Verwandlung und Wanderung zum Ende des Lebens.
Oder wie es der Titel des von Dita Zipfel und Finn-Ole Heinrich gemeinsam erdachten Kinderbuches es auf den Punkt bringt: Aali muss los.
Es ist eine Jahrtausende alte und wahre Geschichte: Aale durchlaufen in ihrem Leben vier verschiedene Existenzformen. Von transparenten, flachen Weidenblattlarven im Atlantik werden sie zu weiterhin durchsichtigen Glasaalen und wandern aus dem Ozean durch die Mündungen in europäische Flüsse und Seen. Dort leben sie bis zu 30 Jahren und futtern sich eine imposante Fettschicht an. Die brauchen sie auch, denn wenn sie sich schließlich zum Blankaal verwandeln, hören sie komplett auf zu essen. Zum Ende ihres Lebens sind sie nur noch in Bewegung, über tausende Kilometer, fast ein Jahr lang, zurück zu ihren Ursprüngen und den Laichplätzen folgender Generationen.

Kein Appetit auf Frühstück

Das alles weiß Aali aber noch nicht. Jahrelang hat er beschaulich im Nord-Ostsee-Kanal vor sich hingedümpelt. Doch eines Morgens ist da dieses Ziehen, das er seinem Freund Frank nicht erklären kann, weil er es selbst nicht versteht. Auf jeden Fall hat er keinen Appetit auf Frühstück. »Lass mal schwimmen«, murmelt Aali. »Einfach schwimmen.«

Mitreißender Roadmovie

Für Zipfel und Heinrich ist das mysteriöse Leben der Aale die perfekte Steilvorlage für eine sympathische Heldensaga und einen mitreißenden »Roadmovie«, Drama und Abenteuer auf Wasserstraßen bis in die Weiten des Ozeans. Getragen von Dita Zipfels einzigartigem Sound. Einer Sprache, die ebenso witzig wie wortstark und bilderreich ist:  »Wie ein Biss in den europäischen Kontinent« ist die Küste Schleswig-Holsteins. Frank ist eine »loyale Brasse«, und gleich erkennt man den den gutmütigen und verwunderten Freund und Fisch. Und fühlt den Kummer, als Aali von ihm Abschied nehmen muss, um dem Ruf ins Unbekannte zu folgen. Ein Schwan, der Aali zum Probeliegen in seinem Nest einlädt, weil er das für das Ziel aller Suchenden hält, wirkt wie ein »übereifriger Matratzenverkäufer«.

Natur ist kein Ponyhof

Der Hafen ist ein »Moloch aus Rost und Rhythmus«. Und eine Subkultur voller skurriler, schillernder und feierfreudiger Wasserbewohner. Die vielfach ausgezeichnete Autorin lässt zum Beispiel die Schönheit des Wortes Robbe auf der Zunge zergehen, weil man aus ihm alles raushören kann, »das Runde und Weiche, das Fließende, genau richtig Dicke und sogar die Freundlichkeit in ihrer ganzen Art«.
Und dann ein Satz wie dieser: »Die Natur ist kein Ponyhof, sondern ein großes Fressenwollen und Gefressenwerden.« Damit hält Aali muss los die perfekte Balance zwischen sympathischer fiktionaler Erzählung und packender, faktenreicher Sachgeschichte, einfühlend in individuelle Lebewesen und voller Respekt vor den Wundern der Natur. Das ist sogenanntes Nature Writing at it’s best.

Grün in allen Schattierungen

Nele Brönners Bilder lassen die Lesenden ganz tief eintauchen und mit Aali mitschwimmen. Allein schon die Farben: Grün in allen Schattierungen dominiert, von zartem Hellgrün über zahlreiche Abstufungen und alle möglichen Varianten, gelegentlichen Ausflügen in Türkis bis zu Nachtdunkelgrün, fast Schwarz. Akzente setzen knalliges Geld und schwarze Tupfen. Selbst die Schrift fließt in verschiedenen Farben über die Seiten.

Chor aus Kleinlebewesen

In allen Gewässern (und an Land, Aale können über Land wutschen) tummeln sich die unterschiedlichsten Wesen, riesige Welse und winzige Fischchen, muntere Mantas, quirlige Krabben, Seepferdchen, Schildkröten. Brönners Unterwasserwelten, auch der Auf-dem-Land-Mikrokosmos, also Uferböschung und Flusswiesen, sprühen allein schon durch Zusammenspiel und Auftrag der Farben vor Lebendigkeit – von ihren Bewohnern ganz zu schweigen. Ein reizender Einfall der Kinderbuch-Illustratorin sind auch die hinzugefügten Schnecken, Garnelen und andere Kleinstlebewesen, die gelegentlich wie ein mahnender oder motivierender Chor fungieren. Die Frage des naturalistischen Autors Robert Macfarlane, ob Flüsse Lebewesen sind, kann nur mit Ja! beantwortet werden.

Es bleibt ein Geheimnis

Und was hat es jetzt mit dem rätselhaften Ziehen auf sich? Mittlerweile weiß man zwar, dass Magnetismus eine Rolle spielt. Aber warum Aale in die Sargassosee im Atlantik zurückkehren, und tatsächlich alle Aale auf der Welt aus den gigantischen Algenwäldern des Sargassums stammen, bleibt ein Geheimnis.
Aali schwimmt direkt ins Herz und zieht einen auf jeden Fall magisch und unwiderstehlich an. Also, zieht alle unverzüglich los, in die Buchhandlung eures Vertrauens.

Dita Zipfel und Finn-Ole Heinrich: Aali muss los, Illus: Nele Brönner, Huckepack im Verlag mairisch, 2025, 64 Seiten, 20 Euro, ab 7

Die Spirale des Lebens

bondouxEs war ein mal ein Buch … das gibt mir Rätsel auf. Und fasziniert mich doch ganz ungemein. So jüngst geschehen nach der Lektüre von Anne-Laure Bondouxs neuem Roman Von Schatten und Licht, in der sehr gelungenen Übersetzung von Maja von Vogel.

Bondoux erzählt die Geschichte von dem Mädchen Hama und dem Jungen Bo. Beide arbeiten in einer riesigen Fabrik in einem nichtgenannten Land in einer unbestimmten, aber fast gegenwärtigen Zeit. Hama und Bo sehen sich immer beim Schichtwechsel und verlieben sich. Sie verbringen die wenige Zeit, die sie gleichzeitig frei haben, zusammen. Doch etwas Düsteres liegt über der Fabrik, ein alter weiser Mann macht dunkle Vorhersagen, bis eines Tages die Fabrik in die Luft fliegt. Hama wird schwer verletzt, Bo entkommt der Katastrophe durch einen Zufall.

Doch nun schlägt Bo der Hass der Bevölkerung entgegen, glauben doch plötzlich alle, dass er für das Unglück verantwortlich ist. Hama und Bo verlassen die Stadt, ziehen in die Einöde. Dort gebiert Hama eine Tochter, Tsell, die die Gabe besitzt, ihre Schatten in die Silhouetten von allen möglichen Tieren zu verwandeln.

So wie Tsells Schatten sich beständig verändert, so verändert sich auch die Geschichte von Seite zu Seite, Kapitel zu Kapitel. Bondoux wechselt in den Kapiteln die Perspektive, anfangs lässt sie ein unbekanntes „Wir“ erzählen, später wird Tsell zur Erzählerin. Das mag ein wenig verwirren, entwickelt aber gleichzeitig einen Sog, der einen das Buch nicht mehr weglegen lässt. Denn in allem verhandelt Bondoux nichts weniger als die menschliche Existenz in ihren Facetten und Widersprüchlichkeiten. Liebe und Hass prallen aufeinander, die Freude weicht der Angst, die Sicherheit der Unsicherheit. Aus dem Aufbruch wird ein Rückzug, die Helden erleben eine Zeit des Friedens, bis der Krieg auch sie auf ihrer paradiesischen Landzunge einholt und das Glück der Familie zerbricht. Und wieder ein Aufbruch erfolgt, der zu einer Rückkehr wird.

„Wer ständig glücklich sein will, muss sich oft verändern“, hat angeblich Konfuzius gesagt. So ähnlich vollzieht es sich in dieser Geschichte, in der nichts dauerhaft ist, und schließlich die nächste Generation, in diesem Fall Tsell und ihr Freund Vigg, den Weg wieder zurückgehen und sich auf die Suche nach den familiären Wurzeln machen. Die Geschichte mäandert und kreist, bis sich Anfang und Ende fast wieder berühren. Über allem liegt die unbeantwortete Frage: „Glaubst du, man muss immer einen Teil von sich verlieren, damit das Leben weitergeht?“

In unserer unruhigen Zeit ist dieser rätselhafte, märchengleiche Roman eine wahre Herausforderung. Und das meine ich im positiven Sinne. Denn es erschließt sich nicht sofort, was Bondoux eigentlich sagen will. Viele Szenen sind mysteriös – so treffen Bo und Hama auf eine zwergenhafte Familie, die in einem Berglabyrinth lebt –, aber genau dies bietet jedem Leser eine riesige Spielfläche für Assoziationen und eigene Interpretationen. Jeder kann in diesem Roman ein Stück des eigenen Lebens finden. Pubertierende werden sich mit den wechselnden Schatten von Tsell, die einfach noch nicht weiß, was sie eigentlich sein will, möglicherweise identifizieren können.
Man findet die Kritik an der Gesellschaft, die möglichst schnell Sündenböcke für irgendetwas braucht. Man erlebt die Sehnsucht nach dem Paradies, das jedoch schon längst verloren ist, wenn man sich doch nur mal ein paar Schritte davon entfernt und seinen Horizont erweitert. Man erfährt, wie wichtig es ist, die eigenen Wurzeln zu kennen.

Je mehr ich über Bondoux Werk nachdenke, je mehr könnte ich solcher Erkenntnisse hier niederschreiben. Doch das ist nicht der Sinn der Sache hier. Denn jeder Leser muss seine eigenen Schlüsse aus dieser merkwürdig schönen und gleichzeitig dramatisch und zutiefst menschlichen Universalgeschichte ziehen. Man wird viel und lange über Bondouxs Roman diskutieren können und sich doch, so wie es bei Märchen nun mal üblich ist, dennoch getröstet und verstanden fühlen. Eine große Geschichte mit langem Nachhall.

Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht, Übersetzung: Maja von Vogel, Carlsen Verlag, 2016, 252 Seiten, ab 14, 17,99 Euro