Grandiose Geschichten aus kleinen Klumpen

„Ich kann euch ganz in Ruhe meine Geschichte erzählen. Davon, wie eines Tages eine drangsalöse Misere über mich hereinbrach, die mein ganzes Leben durcheinanderbringen sollte. Hätte ich damals geahnt, was für Kalamitäten auf mich zukommen würden, ich wäre an jenem Morgen unter der Bettdecke geblieben …“

Mit diesen hübsch altmodischen Wörten beginnt der Erzähler seine Geschichte. Und während sich der eine oder andere Leser angesichts gelegentlich komplett verkorkster Tage denkt, dass es manchmal sicher die bessere Idee ist, morgens einfach liegen zu bleiben, schlägt einen Kirsten Reinhardts neuer Roman Der Kaugummigraf schon in seinen Bann: Es ist ein in vielfacher Hinsicht verblüffendes Buch. Nicht nur weil der Erzähler und Titelgeber ein alter Knorz ist, genauer der 81-jährige Eberhart von Eberharthausen. Es ist eine erstaunlich komplexe und vielschichtige Erzählung, wie man hinter dem für Reinhardts Standards sehr schlichten Titel nicht vermuten würde (frühere Titel waren Fennymores Reise oder wie man Dackel im Salzmantel macht und Die haarige Geschichte von Olga, Henrike und dem Austauschfranzosen).

Die Kalamitäten verursachende Misere tritt in Gestalt der struppigen, frechen und enorm hungrigen Ausreißerin Eli in das Leben des komischen Kauzes. Sie bringt ihn nach einigen Anlaufschwierigkeiten zum Erzählen. Und vielleicht zum ersten Mal am Ende seines langen Lebens öffnet sich Eberhart, stellt sich seinen Verletzungen, alter Schuld und lebenslanger Reue, Gedanken und Gefühlen, die er seit 20 Jahren mithilfe eines selbst auferlegten, strengen Zeitplans verdrängt und eingesperrt hat. Und natürlich sind das keine uralten Geschichten, „solche Dinge wie damals gibt es bestimmt nicht mehr“; da hofft Eberhart leider vergebens.

Aber warum nennt Eli ihn Kaugummigraf? Das hängt mit der höchst kuriosen Sammlung des betagten Helden zusammen, ein jahrelang verschlossener Raum in dem alten, vom Abriss bedrohten Bahnhof, in dem der Graf wohnt – und auch in seinem Herzen. Hier verwahrt er hunderte Kaugummis auf, die er seit seiner Kindheit gesammelt hat – gekaute, versteht sich. Denn „ein Kaugummi ist besser als ein Fingerabdruck“, wie der Graf sagt. Ein Fingerabdruck verrät nichts über seinen „Besitzer“. Ein ausgespuckter Kaugummiklumpen dagegen gibt erstaunlich viel preis: durch seine Form, die Zahnabdrücke, den Auffindeort, den Geruch, die Geschmacksrichtung, die Farbe. Und natürlich durch die präzise Erinnerung an all die kauenden Menschen, denen der Sammler begegnet ist und die sein Leben geprägt haben.

Es sind spannende, fantastische, erschütternde und rührende Geschichten, zeitlos gut und ewig wahr, Geschichten von abgeschobenen, missverstandenen Kindern, von Grausamkeit und Feigheit, von Wut und Mut. Davon, dass man stärker ist als man denkt und es nie zu spät ist, sein Leben in die Hand zu nehmen. Von der Suche nach Freundschaft, Liebe, Glück. Wahrheiten, gelassen ausgesprochen: Seine Verwandschaft kann man sich nicht aussuchen. Und es ist gar nicht so einfach, nichts zu tun. Die Freiheit, alles (oder nichts) tun zu können ist beängstigend, das muss man erst mal aushalten. Trotzdem ist sie das Beste am Leben, weil sie grenzenlose Möglichkeiten birgt.

Hat sich schon mal jemand beim Anblick der Flecken auf dem Pflaster überlegt, dass hier gelebte Geschichten kleben? Das entschuldigt natürlich nicht die Unsitte, Kaugummis in die Gegend zu spucken! Inzwischen haben Künstler die Sprengsel als winzige Leinwände entdeckt, um darauf grandiose Miniaturmeisterwerke zu schaffen, zu sehen unter anderem auf der Millenium Bridge in London.

Der Kaugummigraf ist ein Buch, so wie man sich das weltbeste Kaugummi wünscht, das es aber nie geben wird: Eine Wundertüte, ein Feuerwerk an unterschiedlichsten Geschmackerlebnissen, schönste, raumgreifende Blasen bildend, ein Genuss, sich damit zu beschäftigen und ganz lang anhaltend.

Elke von Berkholz

Kirsten Reinhardt: Der Kaugummigraf, mit Vignetten von Marie Geißler, Carlsen, 2017, 224 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

 

P.S. Es gab schon mal ein besonderes Buch mit Kaumasse im Titel: Der quergestreifte Kaugummi von Ephraim Kishon, von 1977, eine unvergessene Erzählungssammlung.

Wichtiges ohne Worte erzählt

IMG_20160419_141151Kommt es nur mir so vor, oder leben wir in einer unglaublichen geschwätzigen Zeit. War das schon immer so? Gehört das zum Menschsein dazu? An manchen Tagen habe ich so meine Zweifel und möchten gewissen Menschen sagen: „Öfter mal die Klappe halten und einfach nur zuhören, könnte helfen.“
Man verpasst doch etliches, wenn man immer nur selbst quatscht. Dabei gibt es so viel zu entdecken, wie diese drei Bilderbücher beweisen, die ganz ohne Gequatsche, also ohne Text auskommen.

Den Anfang macht das comicartige Buch Überall Blumen des Kanadiers Jon A. Lawson. In schwarz-weißen Panels geht ein kleines Mädchen an der Hand des Vaters durch eine graue Stadt. Der Vater scheint sich nicht besonders für die Lütte zu interessieren, zerrt sie fast hinter sich her. Doch das hindert das rotgekleidete Mädchen nicht, mit offenen Augen durch die Welt zu laufen. Und dabei entdeckt sie an allen Ecken und Enden Schönes: das Vogeltattoo auf dem Arm eines Mannes, eine gelbe Hundeblume am Fuß eines Pfahls, ein rosanes Blümchen zwischen irgendwelchen Metallstreben, ein geblümtes Kleid einer Frau an der Haltestelle, noch mehr Blumen. Einen ganzen Strauß pflückt das Mädchen zusammen. Sie werden zu einem letzten Gruß an einen toten Sperling, der im Park auf dem Weg liegt. Das Mädchen verteilt die gepflückten Blumen, an einen schlafenden Mann auf der Parkbank, an den Hund der Nachbarn, an die Geschwister, die im heimischen Garten spielen.
Und auf einmal sieht der Betrachter überall Blumen. Immer mehr Farben dringen in die grauen Panels. Der Blick von Rotkäppchen überträgt sich auf den Betrachter, macht ihm ohne ein einziges Wort klar, das man mehr sieht, wenn man auch die Kleinigkeiten beachtet und nicht ständig mit dem Handy am Ohr oder vor der Nase durch die Welt läuft. Zudem zeigen ihre liebevolle Gesten gegenüber den anderen, sei es ein Mann auf der Bank, ein Hund oder ein toter Vogel, dass das Leben zu kurz ist für Unfreundlichkeit und Gehässigkeit.

Dass man sich bestens verstehen kann, selbst wenn man ganz unterschiedlichen Spezies angehört, zeigt hingegen die Französin Anne-Caroline Pandolfo in ihrem Büchlein Die Tinten Spinner. Die Geschichte könnte beginnen mit den Worten: „Treffen sich ein Tintenfisch und eine Spinne …“ Aber auch in diesem Buch gibt es keine Worte.
Dafür verbindet den roten Kopffüßler und das schwarze Insekt etwas Außergewöhnliches: ihre acht Beine bzw. Arme. Die beiden schauen sich mit großen Augen an, und schon geht der Wettbewerb los: Wer kann was am besten?
Der Tintenfisch protzt mit seinem Tintenvorrat, die Spinne webt ein wildes Chaos zusammen. Doch Konkurrenz macht erfinderisch und Wettkampf stachelt zu Höchstleistungen an, so wird aus dem Tintengeklekse ein entzückendes Seepferdchen, das Spinnennetz nimmt die Form eines Pferdes an. Und wenn diese Gesellen schon keine Selfies von sich machen, so schaffen sie schließlich doch jeweils das Portrait des anderen.
Und auf einmal sind aus zwei ganz verschiedenen Wesen Freunde geworden, die begriffen haben, dass der eine genauso gut ist wie der andere – und dass man gemeinsam einfach mehr Spaß hat.

Gemeinsam kann man sich zudem auch viel besser gegen die vermeintlich Stärkeren durchsetzen. Die katalanische Illustratorin Inma Pla, genannt Imapla, beweist dies mit wenigen einfachen schwarz-weißen Bildern in Der König der Meere: der kleine Fisch schwimmt durchs Wasser und hält sich für den König der Meere. Es kommt, wie es kommen muss: Groß frisst klein, größer frisst groß, und die Fische sammeln sich wie eine Matroschka im Bauch des Wals. Doch wenn der Größte meint, er sei tatsächlich der Größte, hat er die Rechnung ohne die Macht der Masse gemacht. Und so tun sich kleine blaue Fische zusammen und verweisen den Wal auf seinen Platz.
„Blubb“, „Zzzisch“ und „Happs“ sind die einzigen Worte auf den wenigen Seiten. Ich zähle sie nicht. Doch die Botschaft ist auch für die kleinen Betrachter dieses Pappbuches eindeutig: Die Gemeinschaft siegt, egal wie groß der Gegner auch sein mag, vorausgesetzt, sie tut solidarisiert sich.

Auch ohne Worte schaffen diese drei Bilderbücher es, ganz große Geschichten über das Leben zu erzählen. So unterschiedlich sie auch sind, sie zeigen, dass Gemeinschaft, Freundschaft und der offene Blick für seine Umwelt uns weiter bringen, als so manches leeres, angeberisches Geschwätz. Gleichzeitig kann man den jungen Betrachtern schon sehr früh klar machen, dass nicht immer die Worte zählen, sondern die Taten. Diese Erkenntnis hat so mancher Erwachsener, welch einflussreiche Position er auch bekleiden mag, leider immer noch nicht durchgeleitet. Man möchte ihnen diese Bücher ans Herz legen. Denn zum Lernen ist es ja bekanntlich nie zu spät.

PS: Die Geschichte von Imapla ist vielleicht nicht neu. Im Mai 2012 jedenfalls gab es in Berlin-Mitte folgenden Stencil, der genau das zeigt … Allerdings kann man diese Botschaft nicht oft genug zum Ausdruck bringen.

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Jon A. Lawson: Überall BlumenIllustration: Sydney Smith, Fischer Sauerländer, 2016, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Anne-Caroline Pandolfo: Die Tintenspinner, mixtvision, 2016, 32 Seiten, ab 3, 12 Euro

Imapla: Der König der Meere, Fischer Sauerländer, 2016,
20 Seiten, ab 3, 12,99 Euro