Pädagogische Abgründe

ludwigGibt es Kinderbücher, die keine Kinderbücher sind? Im Falle von Sabine Ludwigs neuem Roman Schwarze Häuser möchte ich fast sagen, ja. Aber ganz so einfach ist es nicht.

Ludwig erzählt die Geschichte der 12-jährigen Uli, die für sechs Wochen in ein Kinderheim an die Nordsee geschickt wird, zur Erholung. Das Ganze ist Mitte der 1960er Jahre angesiedelt.
Uli kommt aus Berlin, dort wohnt sie bei ihrer Oma. Auf der Insel lernt sie die Mädchen Fritze, Freya und die kleine Anneliese kennen. Jede von ihnen hat Probleme: Fritze kommt aus einem Künstlerhaushalt und wird von den Mitschülern gemobbt, Anneliese lutscht mit acht Jahren noch am Daumen und scheint in ihrer Entwicklung etwas zurückgeblieben zu sein, Freya meint aus einer intakten Arztfamilie zu kommen, doch auch da liegt etwas im Argen. Uli selbst ist unehelich geboren, und erst vor kurzem hat die Mutter einen Mann geheiratet, der nicht Ulis Vater ist.

Doch anstatt sich von den häuslichen Dramen erholen zu können, erwartet die Kinder im Heim das strenge Regime von Schwester Hildegard und der Heimleiterin Frau Butt. Mädchen und Jungen werden getrennt und zwar nicht nur in Sachen Schlafsäle, sondern auch beim Essen und beim Spielen. Kontakt unerwünscht. Die Jungs werden durchweg „netter“ behandelt als die Mädchen: Sie bekommen Brötchen zum Frühstück, während die Mädchen mit Milchsuppe versorgt werden. Das Essen wird zu einem beherrschenden Moment für die Mädchen, denn es ist schlecht, sehr, sehr schlecht. Es ist zu wenig, eklig, alt, verschimmelt, mit Maden durchsetzt, einfach fürchterlich. Die vier Hauptfiguren leiden regelrecht Hunger. Wagen sie es, die Qualität des Essens anzumahnen, werden sie drakonisch bestraft: Fensterputzen, Essensentzug oder umgekehrt Zwangsessen mit schrecklich fetter Butterkremtorte – die ihnen natürlich auch nicht bekommt. Dazu ist es kalt, es zieht durch die Fenster, Kuscheltiere sind nicht erlaubt, die Post wird kontrolliert. Es ist ein elender Leidensweg, den Uli und ihre Zimmergenossinnen beschreiten müssen. Sie magern ab, werden krank und die Stimmung ist alles andere als rosig oder gar erholsam. Als Freya dann noch eine schlechte Nachricht von zu Hause bekommt, reißt sie aus. Ihre Freundinnen kommen ihr zu Hilfe, doch die Rettungsaktion endet im Watt …

Sabine Ludwig beschreibt die schwarze Pädagogik, die vor einem halben Jahrhundert hier an der Tagesordnung war, sehr präzise und mit all der psychologischen Perfidität, die den Kindern immer wieder das Gefühl vermittelte, sie wären selbst an ihrem Unglück Schuld. Es ist eine ergreifende Lektüre, auch in dem Sinne, dass man als Ältere das alles so verdammt gut nachvollziehen und mitleiden kann. Dabei habe ich noch Glück gehabt und so Schlimmes nicht selbst erlebt, höchsten die Ausläufer noch mitbekommen. Was mir aber schon gereicht hat.

Vielleicht hadere ich deshalb damit, dieses Buch als Kinderbuch zu bezeichnen. Keinem Kind wünscht man solche Erlebnisse. Nie. Und schon die Lektüre kommt mir fast zu grausam vor. Dann jedoch denke ich, vielleicht sollten sie es gerade deshalb auf jeden Fall lesen, auch um zu erfahren, dass es andere Zustände gab (obwohl sich in manchen Heimen heute noch Ähnliches, wenn nicht gar Schlimmeres abspielt …). Denn auch diese Art des Umgangs mit Kindern ist ein Teil unserer Vergangenheit. Daran zu erinnern, damit es nicht wieder passiert, ist wichtig. Daran zu erinnern, was Eltern und Großeltern in der Kindheit durchgemacht haben könnten, ist ebenso wichtig, kann es doch eine mögliche Ursache für ihr heutiges Verhalten sein. Das sollten Kinder durchaus wissen. Nur sollte man sie bei der Lektüre von Schwarze Häuser nicht allein lassen, sondern ihre Fragen, die mit Sicherheit kommen werden, in aller Offenheit beantworten und ihnen so den Grusel nehmen.

Sabine Ludwig: Schwarze Häuser, Dressler, 2014, 352 Seiten,  ab 10, 14,99 Euro

 

Dingens … äh … supa!

lüftnerRecherche ist ja oft sehr hilfreich und manchmal unumgänglich. Ich recherchiere ganz gern … aber heute hat es mir das erst mal so richtig ein Bein gestellt.
Da wollte ich ganz harmlos nachschauen, warum mir das Phänomen Kai Lüftner bis jetzt entgangen ist, was ich so alles verpasst habe, weil ich tausend andere Dinge auf dem Zettel hatte. Ich also recherchiert, gelesen, gekuckt und irgendwann bei Lüftners Auftritt bei Markus Lanz gelandet. Darin erzählt er nicht nur von seinen Büchern, sondern muss die ziemlich unbeholfenen Fragen von Herrn L. zu seiner sehr traurigen Familiengeschichte beantworten.
Daraufhin musste ich erst einmal Wäsche waschen und bügeln und nachdenken, wie ich meine Begeisterung für sein Buch Das Kaff der guten Hoffnung mit diesen Infos zusammenbringe. Wahrscheinlich bringt man so etwas nie zusammen, und ich sollte das gar nicht erst versuchen, weil das nur zum Scheitern verurteilt ist und das Buch ja für sich stehen muss.

Und das Buch steht sehr gut für sich. Als eine durchgeknallt liebenswerte Geschichte um vier Außenseiter, auch Makel-Kids genannt, die im Waisenhaus „Zur guten Hoffnung“ auf dem Berg Gigantokatepetel untergebracht sind und so gut wie keine Chance haben je adoptiert zu werden, zu sehr sind sie mit Unvollkommenheiten, wie Stottern, Hässlichkeit, psychischen Dämonen geschlagen. Gemeinsam jedoch nehmen Kalle, Röschen, Theobald und Magda es mit skurrilen Gegenspielern wie der Heimleiterin Griselde Galgenstrick und Graf Arg von Hinterlist auf. Letzterer will aus dem Waisenhaus und dem auf dem Berggipfel gelegenen Fulminantolaboratorium von Professorprofessor Gunnar Gabriel Gagga ein Luxus-Hotel machen. (Was ein Fulminantolaboratorium ist, erfährt man im Buch… also: lesen!)

Lüftner, versierter Gag-Schreiber für landesweit bekannte Comedians, spart bei der Rettung des überaus miesen Zuhauses der vier Makel-Kids nicht mit Späßen, Wortwitz und -neubildungen. Er erzählt schnodderig, frech und erhebend respektlos. Für kleine und im Herzen junggebliebene Leser genau der richtige Stoff für Kurzweil und Lachanfälle.
Bei all dem greift Lüftner auf den klassischen Erzähler zurück, der sich immer wieder in das Geschehen einmischt. Damit verbrüdert dieser sich zum einen mit den Lesern, schlägt eine Brücke zwischen ihnen und der Geschichte, nimmt gleichzeitig aber auch all dem Schrecken (ein Waisenhaus! eine doofe Heimleiterin! Gauner! Schläger! Verbrecher! Gefahr!) die Spitzen, so dass sich niemand wirklich schlimm gruseln muss.
Das etwas abrupte Ende in Teil 1 vom Kaff wird mit Sicherheit im zweiten Teil aufgegriffen. Man ist hier eh schon so angefixt von Lüftners Schreibe und seinen Figuren, dass man auf jeden Fall weiterlesen wird. Zum Glück erscheint Teil 2 bereits im September – und Teil 3 ist angeblich auch schon geschrieben …

War ich vor meiner Recherche von Das Kaff der guten Hoffnung schon ziemlich begeistert, so trage ich nun allerhöchste Achtung vor Kai Lüftner, seiner Kunst und seiner ungebrochenen Lebensfreude in mir.  Seine Berliner Schnauze bringt mich zusätzlich immer zum Grinsen, so dass ich am liebsten einfach nur sagen möchte: Dit is knorke! Aber ich bin nun mal Hamburgerin und da heißt das dann: Dascha stahk!

Kai Lüftner: Das Kaff der guten Hoffnung – Jetzt erst recht! Illustration: Dominik Rupp, Fischer Sauerländer, 2. Aufl. 2014, 208 Seiten, ab 8, 9,99 Euro