Harry Potter – die nächste Generation

potterVergangene Woche hat der Carlsen Verlag mit der Harry-Potter-Lesenacht das Erscheinen der deutsche Ausgabe von Harry Potter und das verwunschene Kind, übersetzt von Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, opulent und gebührend gefeiert. Im „Drei Besen“ konnte man Vielsafttrank genießen, es gab ein Trimagisches Turnier, der sprechende Hut sortierte die Gäste in die vier Häuser Hogwarts ein und die Hauselfen von Carlsen sorgten liebevoll für das Wohl der Fans.
Gelesen wurde auch: der Epilog von Band 7, womit man sofort wieder im Geschehen rund um Harry, seine Familie und die nächste Generation der magischen Welt war und sich nun auf die achte Geschichte stürzen konnte.

Meine persönliche Harry-Potter-Leseerfahrung liegt mittlerweile lange zurück. Kurz vor der Jahrtausendwende packte es mich, und ich las mich pünktlich zum Erscheinungstermin durch die jeweiligen Bände. Ich entdeckte die Kinder- und Jugendbuchliteratur neu, ohne allerdings die HP-Geschichten bis ins kleinste zu analysieren.
Mit der Zeit kamen dann die HP-Filme hinzu, sodass aktuell die Bilder aus den Filmen meine eigenen Fantasien überlagern. Harrys Welt ist zu einem sehr speziellen Kosmos geworden. Doch in diesen bin ich mit dem neuen Buch von J.K. Rowling gleich wieder eingestiegen.

Mittlerweile dürfte allen bekannt sein, dass es sich bei Harry Potter und das verwunschene Kind nicht um einen auserzählten Roman, sondern um ein Theaterstück handelt. Dies hat bereits nach Erscheinen des englischen Originals Diskussionen in den Netzwerken und unter den Harry Potter-Fans hervorgerufen, Erwartungen geschürt und auch Enttäuschung bereitet.
Und so habe ich mich an die Lektüre gemacht, neugierig, aber doch mit einer gewissen Skepsis, ob es mich wieder so packen würde wie vor etwa 15 Jahren.

Das Stück war rasch gelesen, und ja, es hat mich gepackt. Ich sah sie wieder vor mir: Harry, Ron, Hermine, Draco und Dumbledore. Es glich einem Treffen mit lieben alten Bekannten. Dennoch hat mich die Geschichte nicht vollständig befriedigt.

Da ich mich in den vergangenen Jahren nicht ständig mit dem Harry-Potter-Universum und seinen diversen Fortentwicklungen beschäftigt habe, war ich unsicher, ob ich diese neue Werk auch richtig einschätzen kann.
Daher habe ich der Harry-Potter-Expertin Lisa Kuppler in Berlin ein paar Fragen gestellt, die bei der Einordnung dieses Werkes vielleicht weiterhelfen können. Lisa beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Harry Potter und seiner magischen Welt, sie schreibt Fanfiction und ist in diversen Fan-Communities aktiv.

Zunächst habe ich Lisa gefragt, ob es sich beim „Verwunschenen Kind“ nicht um eine Mogelpackung handelt, da der Text nicht allein von J.K. Rowling stammt, sondern auch der Drehbuchautor Jack Thorne und der Theaterregisseur John Tiffany daran mitgewirkt haben.

Lisa Kuppler: Ich finde nicht. Zumindest noch nicht bei dieser Ausgabe, die ja erst das „Special Rehearsal Edition Script“, also der Proben-Text, ist. Es soll auch noch die endgültige Skript-Fassung kommen, und das ist dann echt nur noch Geldmacherei.

Ulrike Schimming: Welchen Anteil hat Rowling an dem Stück gehabt?

LK: Nach allem, was ich gehört habe, hat Rowling mehr als nur die Grundidee geliefert. Ich denke, sie hat zumindest den Plot verfasst und Thorne hat es dann als Theaterstück ausgeschrieben. Und sie hat die endgültige Theaterfassung gelesen und abgesegnet. Deshalb ist muss man „Das verwunschene Kind“ schon als ihre Vision sehen (als Rowling-Kanon).

US: Hat dich an der Form der neuen Geschichte etwas gestört? Man ist ja relativ schnell durch damit und taucht nicht so tief in das Geschehen ein.

LK: Es ist ein Theaterstück und kein Roman, und ja, man kann es schnell weglesen und es berührt einen kaum, weil alle erzählenden Passagen und die Innensicht der Figuren fehlen. Die Regieanweisung sind ja rein behauptet, ganz im Sinne einer Regieanweisung: Schauspieler, mach das. Und der Schauspieler macht es, aber im Text steht das nicht, was der Schauspieler macht. Und auch die Welt muss man sich selbst vorstellen, weil man ja keine Bühne und Bühnenbild sieht, wie die Zuschauer und Zuschauerinnen im Theater.

US: Mir kamen die vielen Zeitreisen in dem Stück fast wie ein etwas hilfloser Trick vor, den Zuschauern die Vorgeschichte wieder näher zu bringen und sie wie in einer Rückblicksparade an die verschiedenen Figuren und Umstände zu erinnern.

LK: Ich finde es legitim, dass die Zeitreisen-Struktur verwendet wird, um bekannte und geliebte Figuren und Orte und Szenarien wieder auftauchen zu lassen. Es ist auch eine Chance, um ein „Voldemort-hat-gewonnen“-Szenario auszuprobieren bzw. uns ein Hogwarts zu zeigen, wie es im 7. Buch unter den Todessern mit Headmaster Severus Snape war, was wir im Buch ja kaum sehen.
Die Geschichte von Harry Potter wird dadurch allerdings nicht wirklich weiterentwickelt. Es gibt keine neue Geschichte. Das verwunschene Kind ist eher eine Art verlängerter und ausgeschriebener Epilog, würde ich sagen.

US: Albus und Scorpius reisen in die Vergangenheit und kämpfen letztendlich wieder einen ähnlichen Kampf wie ihre Eltern. Zwischendrin kam bei mir das Gefühl auf, als hätten die Jungs und Mädchen dieser Zauberergeneration keine eigenen Probleme, wenn man mal von dem durchgängigen Vater-Sohn-Konflikt zwischen Harry und Albus absieht.

LK: Dass die Kinder keine Probleme haben, das finde ich nicht. Ja, es gibt keinen Krieg mehr, und keinen offensichtlichen Bösen wie Voldemort, aber Scorpius und Albus haben schon echte Probleme. Vor allem Probleme, wie sie oft in Jugendbüchern verhandelt werden: wie die soziale Stellung und die Geschichte der Elterngeneration die neue Generation beeinflusst, Probleme für sie schafft und ihre Beziehungen zueinander prägt. Der einsame, schüchterne, weltfremde Scorpius; Albus, der sich an der Vaterfigur Harry Potter abkämpft; die Feindseligkeit von Rose gegenüber Scorpius, die nur in der Vergangenheit begründet ist und nichts mit Scorpius zu tun hat. Die Generation von Albus und Scorpius hat durchaus eigene Probleme, nur sind es eben ganz andere als die der Generation von Harry, Hermine und Ron.

US: Die Freundschaft von Albus und Scorpius ist einer der emotionalen Hauptpunkte im Stück, quasi ein versöhnliches Gegenstück zur Feindschaft zwischen Harry und Draco. Man entdeckt dabei natürlich sehr schnell den queeren Subtext, der am Ende jedoch wieder hetero-normativ überformt und somit negiert wird. Ist das ein halbherziger Kompromiss, die Figuren von HP vielfältiger zu machen?

LK: Der homosexuelle Subtext ist in der Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ganz klar da. Teile des Harry Potter-Fandoms sind frustriert, dass Rowling-Thorne aus Albus und Scorpius kein offen schwules Paar gemacht haben. Im Fandom wird Rowling deshalb auch Queerbaiting vorgeworfen, also, dass sie absichtlich Figuren queer anlegt, damit die queeren Leser_innen sich identifizieren, um sie am Ende doch wieder eindeutig hetero zu machen. Ich persönlich bin ich nicht enttäuscht, obwohl ich Slash (queere Fanfiction) schreibe und lese. Ich finde es vermessen, von Rowling zu erwarten, sie solle zu einer Sprecherin für LGTB*-Rechten werden. Und das würde sie, wenn sie Das verwunschene Kind als schwule Jugend- und Liebesgeschichte geplottet hätte. Rowling hat sich immer positiv für queere Menschen und Belange eingesetzt, es ist klar, wo sie in der Frage steht. Doch ihr politisches Engagement gilt Kindern in staatlichen und anderen Betreuungs-Einrichtungen (dies macht sie über ihre Stiftung „Lumos“). Aus meiner Sicht braucht sie queere Belange nicht dadurch zu unterstützen, indem sie die beiden Hauptfiguren des Theaterstücks offen schwul macht.
Ich würde mir wünschen, Rowling würde z. B in den „Fantastic Beasts“-Filme („Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“) eine queere Nebenfigur einführen, bzw. falls Albus Dumbledore tatsächlich in den Filmen auftaucht, wie gerüchteweise vermutet wird, dass er deutlich und explizit schwul ist. Rowling hat in Interviews gesagt, Dumbledore sei schwul, doch in den HP-Büchern steht es explizit nirgends. Es wäre schön, wenn Rowlings Interviewaussage wenigstens in den Filmen zu sehen wäre.
Beim Verwunschenen Kind bin ich sehr froh und erleichtert, dass Rowling-Thorne sich nicht gescheut haben, eine enge Jungenfreundschaft liebevoll und auch körperlich mit Umarmungen darzustellen, selbst wenn das Publikum dann vielleicht einen queeren Subtext in der Beziehung sehen kann. Die enge Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ist deshalb für mich kein halbherziger Kompromiss, um queere Themen zu repräsentieren. Rowling-Thorne wollten eine „ganz normale“ Jungenfreundschaft darstellen und haben nicht aus lauter Angst, man könnte Albus und Scorpius, OMG, als *queer* lesen, alle körperlichen Aspekte von Freundschaft gestrichen und eine sterile Beziehung zwischen den beiden geschrieben.

US: Anders sieht es bei den Frauenfiguren aus, die ich allesamt als ziemlich schwach und blass empfunden habe. Überspitzt gesagt, die Frauen sind entweder tot (Astoria, Scorpius Mutter), böse (Delphi) oder verschwinden als Folge der Zeitreise (Rose). Auch gibt es keine Szene, in der Ginny mit ihrem Sohn Albus redet. Wie kann das sein? Mag Rowling keine Frauenfiguren? Oder ist hier die Handschrift von Thorne und Tiffany deutlicher zu spüren?

LK: Da sehe ich gerechtfertigte Kritik am Verwunschenen Kind und stimme ich dir voll zu: Die Frauenfiguren sind blass bzw. so unsympathisch, dass man sie einfach nicht leiden mag. Ich kann mich ebenfalls an keine Szene zwischen Ginny und Albus erinnern, nur an die Szenen zwischen Ginny und Harry, wenn sie über Albus sprechen.
Aber das ist ganz klar Rowlings Handschrift. Wie weit Tiffany und Thorne Rowlings Schwäche, was Frauenfiguren betrifft, verstärkt haben, kann ich nicht sagen. Aber Rowling versagt immer dann, wenn es um Liebesbeziehungen zwischen Teenagern geht, sie macht sich dann immer über die romantisch verliebten Mädchen lustig (Lavender Brown, Cho Chang oder Ginny als ganz junges Mädchen). Deshalb gibt es weder in den Harry Potter-Büchern noch jetzt im Verwunschenen Kind eine ernst zu nehmende Hetero-Romanze, worüber ich, ehrlich gesagt, froh bin.

US: An eine Episode erinnere ich mich in den Büchern überhaupt nicht: Deutet sich da bereits an, dass Bellatrix und Voldemort ein Kind zeugen? Es kommt mir im Verwunschenen Kind ein bisschen unvermittelt vor, fast schon zu gewollt, als wäre das die einzige Lösung gewesen, um Scorpius einen Hauch von Bosheit anzuhängen. Oder übertreibe ich jetzt?

LK: In der HP-Serie war Bellatrix Lestrange Voldemort schon sehr verfallen, aber in den Büchern (im Gegensatz zu den Filmen) hatte das meines Erachtens nie eine erotische Komponente. Bellatrix zeichnete sich ja anders als die „guten“ Frauenfigur (Molly, Andromeda, Tonks) genau dadurch aus, dass sie nie Kinder wollte. Bei Rowling sind gute Frauen immer gute Mütter. Selbst Narcissa Malfoy wird im Buch dadurch zur positiven Figur, dass sie sich für Draco einsetzt und ihn retten will. So eine Motivation gibt es für Bellatrix, die ja Narcissa Schwester ist, nicht. Dass Voldemort und Bellatrix eine Tochter haben, ist für mich ziemlich absurd. Voldemorts Ziel war es ja immer, selbstsüchtig sein eigenes Leben zu verlängern, nicht, sich über Kinder fortzupflanzen.

US: Hat sich Rowling beim Verwunschenen Kind eigentlich irgendwie vom Fandom beeinflussen lassen?

LK: Ich glaube nicht, und wenn, dann nur ironisch – wie beispielsweise durch das Gerücht, Scorpius sei das Kind einer Vergewaltigung Astorias durch Voldemort. Solche Fanfiction gibt es bestimmt, und hier kann ich mir vorstellen, Rowling-Thorne haben dieses Gerücht so überspitzt und sexualisiert formuliert, um sich über die Auswüchse von Fanfiction lustig zu machen.
Aus der Sicht eines Fans und als Teil des HP-Fandoms bin ich amüsiert darüber, dass Rowling-Thorne genau über die Figuren schreiben, die auch in der Fanfic sehr populär sind: Harry und Draco, und Albus und Scorpius. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Rowling-Thorne Fanfic lesen, sondern es ergibt sich aus den HP-Büchern: Draco ist die interessanteste Figur auf der Seite der Todesser, er ist eine Art Spiegelfigur für Harry. Und Albus und Scorpius sind ja schon im Epilog als Gleichaltrige angelegt, die sich direkt mit der Vergangenheit der Eltern-Generation auseinandersetzen müssen.
Dass sich sowohl die Fanfic wie Rowling-Thorne auf Draco und seine Beziehung zum erwachsenen Harry konzentrieren, finde ich nur logisch. Und die Scorpius-Szenen am Anfang des Theaterstücks, im Hogwarts-Express, sind ja quasi Spiegelszenen der Hogwarts Express-Szenen in Harry Potter und der Stein der Weisen. Mir hat sehr gut gefallen, dass es für Draco eine Wiedergutmachung gibt: Er hat aus seinen Fehlern gelernt und geht mit den aktuellen Ereignissen sogar abgeklärter um als Harry.

US: Ja, Harry kommt im Stück manchmal doch etwas ratlos daher oder wird gar zu einem Helikopter-Vater, der Albus mit der Karte der Rumtreiber kontrollieren will. Das macht ihn nicht gerade sympathisch und kam mir fast wie ein Verrat an dem ehemaligen Helden vor.

LK: Du hast Recht, ein bisschen haben Rowling-Thorne Harry im Stich gelassen. Er kommt hier nicht gut weg, ich mochte die Figur auch nicht besonders. Und die Szenen mit Porträt-Dumbledore, in denen Rowling-Thorne sicher das schwierige Verhältnis zwischen Harry und seinem Mentor hatten klären wollen, gehören für mich zu den schwächsten des Theaterstücks. Sie sind kompletter Kitsch, finde ich, ohne wirklich eine inhaltliche Aufarbeitung.
Man hätte sich ja eine ganz andere Geschichte für das Theaterstück ausdenken können, in dem Harry vor neuen Herausforderungen als Leiter der Aurorenzentrale steht. Persönlich hätte ich die viel lieber gelesen, aber dafür gibt es ja Fanfic und wenn die Trailer von „Fantastic-Beasts“ halten, was sie versprechen, bekommen wir da die magischen Abenteuer, die ich mir für „Das Verwunschene Kind“ gewünscht hätte.

US: Hätte Rowling besser daran getan, wieder einen richtigen Roman zu schreiben? Oder hat sich die HP-Welt durch die Filme, Pottermore, die Wizarding World-Themenparks, das riesige Fandom und nun auch durch ein Theaterstück mittlerweile so von ihrer Schöpferin emanzipiert, dass sie sie gar nicht mehr beeinflussen kann (oder will)?

LK: Rowling möchte keinen neuen HP-Roman schreiben, das stand nie zur Debatte. In Interviews hat sie erklärt, sie bekomme pro Woche Hunderte von Anfragen, was sie mit Harry Potter machen könne, und als John Thorne, den sie persönlich kennt, mit der Idee eines Theaterstücks auf sie zukam, hat sie Ja gesagt. Ich bin überzeugt, dass es genau so war. Und immerhin liest jetzt eine ganze Generation mal ein Theaterstück und Leute gehen ins Theater, die noch nie ein Schauspielhaus betreten haben. Das waren die ideelen Beweggründe, glaube ich.
Dass Rowling weiterhin ihr Harry Potter-Universum ausweiten möchte, zeigen die „Fantastic-Beasts“-Filme. Rowling hat das Drehbuch zu allen drei Filmen geschrieben. Hier bin ich wirklich gespannt auf die Geschichten, die sie und das Filmteam uns erzählen werden.

US: Das sollten wir uns also im November im Kino anschauen. Liebe Lisa, ganz herzlichen Dank für diese aufschlussreichen Erläuterungen. Jetzt würde ich die Harry-Potter-Saga doch fast noch einmal von vorn lesen …

J.K. Rowling/John Tiffany/Jack Thorne: Harry Potter und das verwunschene Kind, Teil eins und zwei, Übersetzung: Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, Carlsen, 2016, 334 Seiten, 19,99 Euro

Das eigene Geschlecht

georgeDieses Buch beginnt mit einer grammatikalischen Irritation: Gleich im zweiten Satz wird der Name George mit weiblichen Pronomina („ihre“) kombiniert. Manche werden vielleicht an Enid Blytons George aus den Fünf Freunden denken und einfach weiterlesen. Doch im Grunde öffnet sich hier bereits das ganze Dilemma der 10-jährigen Protagonistin.

George wurde nämlich als Junge geboren, doch sie fühlt sich als Mädchen. Eigentlich immer schon. Mit drei hat sie die Röcke der Mutter angezogen, heimlich sammelt sie Mädchen- und Frauenzeitschriften, aber bis jetzt hat sie sich noch niemandem anvertraut. Selbst ihre beste Freundin Kelly denkt immer noch, dass George ein Junge ist. George selbst ist bei allem sehr wohl bewusst, dass sie transident ist – sie hat im Internet alles darüber gelesen und weiß, was auf sie zukommt.

Als nun in der Schule die Geschichte vom Schweinchen Wilbur und seiner Freundin Charlotte, der Spinne, aufgeführt werden soll, würde George gern die Rolle von Charlotte übernehmen. Kelly ist begeistert, begreift aber zunächst noch nicht den eigentlichen Hintergrund, nämlich dass George so ihrer Mutter beweisen will, dass sie ein Mädchen ist. Auch die Lehrerin ist nicht begeistert und verweigert George, trotz ihres perfekten Vorsprechens, die Rolle.
Doch Kelly findet schließlich eine Lösung …

Die Geschichte von Alex Gino, die Alexandra Ernst feinfühlig übersetzt hat, ist eine sehr klassische Coming-out-Story – mit transidenten Vorzeichen. George zweifelt an sich, kämpft gegen innere Widerstände und die Hindernisse von außen sowie das Mobbing ihrer Mitschüler. So weit eigentlich völlig normal. Und dennoch ist es bewegend zu lesen, wie aus George – mit Hilfe von Kelly und schließlich auch mit dem Rückhalt ihrer Familie – Melissa (diesen Mädchennamen wählt George für sich) wird.
Hierbei geht es mitnichten um die medizinische und psychologische Behandlung, der sich Transmenschen irgendwann unterziehen, sondern um den Schritt davor: Wie macht ein Mensch seiner nächsten Umgebung, der Mutter, die George immer „mein Junge“ nennt, dem Bruder, der schlüpfrige Witzchen reißt, oder der besten Freundin klar, dass er/sie nicht dem biologischen Geschlecht entspricht, mit dem er/sie zur Welt gekommen ist? Vielleicht ist dies die größte aller Hürden, die es für Transmenschen zu bewältigen gilt.
George zeigt jedoch auch, dass die dummen Sprüchen eines großen Bruders oder die vermeintliche Besorgnis der Mutter ganz schnell verschwinden, sobald sie wirklich begreifen, dass es diesem Menschen ein elementares Grundbedürfnis ist, sich von seinem biologischen Geschlecht zu trennen. Die Heldin, die man durch Alex Ginos liebevolle Darstellung vom ersten Satz an ins Herz schließt, gelingt dieser Schritt – und macht damit allen jungen Lesenden Mut, die ähnliche Überzeugungen und Gefühle in sich spüren.

Da sich die Vielfalt der Welt und somit auch die sexuellen Ausrichtungen der Menschen in Büchern eigentlich generell spiegeln sollte – was in machen Bereichen jedoch immer noch nicht der Fall ist –, kann man George als einen wunderbaren und wichtigen Gewinn bezeichnen. Selbst, wenn die jungen Lesenden nicht transident sind, bekommen sie eindrücklich und authentisch geschildert, was in Transmenschen vorgeht, welche Ängste sie haben und dass sie natürlich keine „Monster“ sind, sondern die liebenswertesten Menschen sein können, die man sich vorstellen kann. Genau dies sollte man Kindern eigentlich so früh wie möglich vermitteln und nicht die Augen davor verschließen oder damit abtun, das Ganze sei eine Phase und die Kinder seien noch viel zu jung. Sie sind es nicht. Weder die Lesenden, noch die Transkinder. Letztere wissen zum Teil schon erstaunlich früh, was für ein Geschlecht sie eigentlich haben.
In der öffentlichen Diskussion darum, wird die Transidentität oft auch als „Störung“ bezeichnet – was einer fürchterlichen Überheblichkeit von normativ geprägten Cis-Menschen gleich kommt, die in überkommenen Rollenverständnissen kleben geblieben sind. Es sollte heutzutage eigentlich möglich sein, allen Menschen zuzugestehen, dass sie in Sachen Gender sein können, was sie wollen. So viel Offenheit und Toleranz ist uns allen durchaus zuzumuten.

Der Weg, den die Transkinder einschlagen, ist nie ein leichter – auch das wissen die Kinder nur zu gut, wenn sie sich den täglichen Widerständen bewusst aussetzen – gerade deshalb sollte ihr engstes Umfeld es ihnen nicht noch schwerer machen. Denn je eher die Kinder die Sicherheit verspüren, bedingungslos geliebt zu werden, egal, als was sie sich fühlen, umso selbstbewusster werden sie heranwachsen. Alex Gino jedenfalls macht mit George allen Transkindern Mut, zu ihrem gewählten und gefühlten Geschlecht zu stehen und sich den Liebsten offen anzuvertrauen.

Alex Gino: George, Übersetzung: Alexandra Ernst, Fischer Verlag, 2016, 208 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Wer sich George vorlesen lassen möchte: Der wunderbare Julian Greis hat das Buch von Alex Gino eingelesen!