Lasst uns die Regeln brechen

Bushnell

Ich betrachtete Deannas steinerne Miene. Ich wüsste nicht, dass ich mir je große Gedanken darüber gemacht hätte, warum eigentlich alle sagen, sie wäre eine Schlampe – abgesehen davon, dass sie viel Busen hat und schon in der Siebten mit einem Jungen zusammen war. Und selbst wenn sie mit einer Million Typen zusammen gewesen wäre, denke ich plötzlich, selbst wenn sie mit ihrer Kleidung Aufmerksamkeit erregen will, dann ist das doch einzig und allein ihre Sache?!«
Es ist etwas passiert im Leben der 17-jährigen Highschool-Schülerin Marin. Seitdem sieht sie ihr Umfeld anders. Sie denkt anders. Und sie schreibt anders – einen wütenden Leitartikel für die Schülerzeitung. Die ungeschriebenen Regeln für junge Mädchen, die Rules for being a Girl, wie Candace Bushnells erstes Jugendbuch heißt, das sie zusammen mit Katie Cotugno geschrieben hat.

Ausgerechnet die Autorin von Sex and the City

Candace Bushnell, ist das nicht die Autorin der 90er Jahre Kultserie Sex and the City? Wo es für vier erwachsene Freundinnen in New York vor allem um teure Klamotten, coole Partys, Genuss und Luxus ging – und letztendlich doch auch darum, den einen, den Mr. Big, zu finden.
Genau so fängt es an: Marin und ihre beste Freundin Chloe sind im letzten Jahr der Highschool, hängen mit den coolen Lacrosse-Spielern ab, freuen sich aufs College, tauschen Schminktipps, sind quasi die Redaktion des Bridgewater-Schulblättchens, zuständig für euphorische Spielberichte, Kursneuigkeiten, Klatsch und Tratsch. Und schwärmen beide für den jungen, lässigen Englischlehrer Mr. Beckett, genannt Bex.
Nebenbei ein bisschen Namedropping zu Kleidungs- und Getränkefirmen, Neckereien mit Jungs und die große Frage, wer mit wem und ob und wann. Hanni und Nanni der 2010er Jahre also?

Du kannst tun, was du willst! Solange du dich bloß an die Regeln hältst

Geschickte Täuschung. So wie Marin 17 Jahre in ihrer Heile-Welt-Blase gelebt hat, lullen Bushnell und die routinierte Frauenromanautorin Cotugno die Leser:innen zunächst ein. Es ist noch keine Feministin vom Himmel gefallen.
»Denk dran, Mädchen: Du zu sein, das war in der Geschichte der Menschheit noch nie so toll wie gerade jetzt. Du kannst tun, was du willst! Du kannst so sein, wie du willst! Dir ist alles erlaubt! Solange du dich bloß an die Regeln hältst.«
Diese ungeschriebenen Gesetze hat Marin ihr bisheriges Leben unbewusst befolgt. Süß, lieb, nett, kumpelhaft, später sexy, souverän, lässig, selbstbewusst – aber eben nicht zu sehr. Alles zwischen Mädchen zum Pferdestehlen (mit dem entsprechenden Appetit, trotzdem magischerweise natürlich gertenschlank), kluge Schülerin (die ihre Intelligenz nicht zu sehr raushängen lassen), gewitzte Gefährtin und Vamp – aber immer kontrolliert, immer antizipierend, dass sie keine falschen Signale aussendet, nicht falsch verstanden wird, keine scheinbar eindeutigen Angebote macht. Immer vor allem für die Jungs mitdenkend.

Den alltäglichen Sexismus längst verinnerlicht

Doch nun wird Marin der alltägliche, allgemeine Sexismus überdeutlich. Angefangen bei Frotzeleien über Übervorteilungen bis zu massiven Grenzüberschreitungen. Ein Sexismus, den sie selbst längst verinnerlicht hat. Oder warum hat sie sich noch nie für das sehr erfolgreiche Volleyballteam der Mädchen interessiert, die erneut kurz vor der Meisterschaft stehen? Und stattdessen die klägliche Jungen-Footballmannschaft angefeuert? Warum geht sie davon aus, dass ein Junge nicht wirklich ein Buch, noch dazu das einer Autorin über Frauen, gelesen haben kann?
Dabei lebt sie doch in einer vermeintlich toleranten, diversen Umgebung. Wo ein Mitschüler selbstverständlich von seinen zwei Müttern spricht (in der Übersetzung heißt es leider immer ausnahmslos »Mom«). Ein anderer datet einen »supersüßen Typen«. Auch die Hautfarbe der Interviewerin am College spielt keine Rolle – bis sie von ihr selbst thematisiert wird (»das ist hier schon ein ziemlich weißer Campus«).

Darüber würde ein Kerl sich gar keine Gedanken machen

Marin und mit ihr die Leser:innen werden immer sensibler für und vor allem immer wütender über die tagtäglichen verbalen Attacken und die allgegenwärtige Doppelmoral (»Hast du deine Tage, oder was?« »Du schreibst irgendeinen seltsamen Artikel und benimmst dich wie ein totaler Psycho … entwickelst dich zu irgendeiner verrückten Feministin?«): »Weil …«, überlege ich, weil sein beiläufiger Sexismus auf einmal anfing mich zu nerven …« denkt Marin zwar, spricht es aber nicht mal gegenüber ihrer Freundin aus, weil es ihr nicht mehr logisch erscheint.
Beim Bewerbungsgespräch ermahnt Marin sich selbst, nicht zu souverän auf ein ernstgemeintes Kompliment für ihren Leitartikel zu reagieren: »Ich lächle und senke erfreut den Kopf, aber ich will nicht zu großspurig wirken – worüber, denke ich urplötzlich, ich mir wahrscheinlich als Kerl gar keine Gedanken machen würde.«

Das ist schlicht die Realität, oder?

Später wird Marin richtig zornig: »Ich habe die Nase voll davon, euch alle einfach davonkommen zu lassen, wenn ihr so einen Scheiß redet.«
Sie gründet einen feministischen Buchclub, als Reaktion auf die männlich dominierte Literatur im Unterricht, und reagiert lautstark und handfest auf auch nur beiläufige, viel zu lange hingenommene Ungerechtigkeiten. Schließlich meldet Marin der Schulleitung, was ausgerechnet Bex ihr angetan hat, und hat fortan die ganze Schule gegen sich – fast …
Als später die Zeitungen über die Ereignisse an Marins Schule berichten und alle sich wundern, wie »so etwas heutzutage noch geschehen konnte«, konstatiert Marin trocken: »[…] ich schätze, das ist schlicht die Realität, oder?«
Dass der Kampf gegen die ungeschriebenen und ungerechten Regeln, gegen Sexismus und Diskriminierung, noch lange nicht ausgefochten ist – auch nicht in unserer ach so toleranten, aufgeklärten westlichen Welt – das schreiben Bushnell und Cotugno mitreißend und spannend in Rules for being a Girl. Bis auf einige unnötige Anglizismen und die inflationären »Moms« und »Grams« haben Sylvia Bieker und Martina Tichy auch frisch, eloquent und authentisch übersetzt. Mit einem sehr schönem Schluss: »Sorry, dass ich zu spät bin«, sagt er und zuckt ein wenig schüchtern mit den Schultern. »Ich musste erst das Buch zu Ende lesen.«

Nonchalant feministisch

Und von wegen Vorurteile: Wer hätte der Sex-and-the-City-Autorin so viel absolut überzeugenden, kenntnisreichen Feminismus zugetraut? Tatsächlich hat sie ihre Figuren nonchalant feministisch entworfen: »Diese Frauen nehmen sich einfach das, was für Männer völlig normal ist. Sie sind selbstbewusst, dominant, genießen Geld und Statussymbole – und sie haben Sex, wann und mit wem und mit wie vielen sie wollen«, sagt Bushnell. Richtig so, lasst uns die Regeln brechen!

Candace Bushnell & Katie Cotugno: Rules for being a Girl, Übersetzung: Sylvia Bieker und Martina Tichy, Dragonfly 2020, 287 Seiten, ab 14, 15 Euro

Schluss mit der Selbstverleugnung

spinsterDie Pubertät kann die Hölle sein. Alles am eigenen Körper verändert sich, Hormone verzerren den Blick auf die Welt, plötzlich werden Jungs/Mädchen auf sexuelle Art interessant. Das eigentlich reicht schon, um eine Leidensgeschichte erzählen zu können, doch Holly Bourne setzt im ersten Teil ihrer Spinster Girls-Reihe noch einen drauf.

Ihre 16-jährige Heldin Evie leidet nämlich zudem an einer Angst- und Zwangsstörung. Sie fürchtet sich vor Schmutz, Bakterien, Ausscheidungen, Essen, eigentlich vor allem, was sie ihrer Meinung nach krank machen und letztendlich umbringen kann. Sie ist deshalb in Behandlung und nun auf dem Weg der Besserung. Peu à peu darf sie ihre Medikamentendosis verringern. Evie ist erleichtert, fürchtet sich aber auch vor einem Rückfall. Doch vor allem möchte sie eigentlich nur eins: normal sein. Und dazu gehört in ihrem Alter bekanntlich auch ein Freund.

Allerdings gestaltet sich dieses Unterfangen etwas schwierig. Typ Nummer 1 kommt völlig betrunken zu ihrem ersten Date, Typ Nummer 2 bringt seine Eltern mit ins Kino, Typ Nummer 3 ist Kiffer und nicht an einer ernsthaften Beziehung interessiert. Zudem hat ihre beste Freundin, die einzige, die von ihrer Krankheit weiß, sie für einen Typen hängen lassen. Ein Elend, was Evie so durcheinanderbringt, dass sich ihre Angstsymptome wieder verstärken, sie zwanghafte Handlungen vornimmt und sich die Hände beim Waschen wund schrubbt.

Glücklicherweise begegnet Evie Amber und Lottie, die mit ähnlichen „Männerproblemen“ zu kämpfen haben, aber auch eine glasklare feministische Haltung propagieren. Die drei gründen den Club der „Spinster Girls“, um zum einen den Begriff „Spinster“ (alte Jungfrau) neu zu besetzen und zum anderen um sich gegenseitig zu stärken, sich Mut zu machen und gemeinsam dafür zu kämpfen, dass es völlig okay ist, wie sie als Mädchen sind, ohne sich für irgendeinen Jungen zum Affen zu machen.

Holly Bourne holt mit ihren Spinster Girls die Leserinnen genau in ihrem Gefühlschaos ab, das die Pubertät so mit sich bringt. Schon das allein ist zu begrüßen. Doch sie schafft es darüber hinaus eine grundsätzlich feministische Haltung einzuflechten, die heute vielleicht mehr denn je jedem Mädchen in Fleisch und Blut übergehen müsste. So klären Amber und Lottie die Heldin über benevolenten Sexismus, den Bechdel-Test und Maniac Pixie Dream Girls auf und diskutieren über das Tabuthema Menstruation – Themen, die man eher im Missy Magazin vermutet als in einem Jugendroman.

Doch genau in den Jugendroman gehören sie. Und Bourne verhandelt nicht weniger als das Selbstverständnis von jungen Frauen, die zwischen all den Ansprüchen der Gesellschaft – sei schön, sei schlank, sei schlau, sei charmant, sei nicht aufmüpfig, sei still, sei dankbar, sei lieb – nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind und wer sie sein wollen. Zu omnipräsent sind immer noch werbe- und modegeprägte Bilder von Frauen, die durchaus erfolgreich sind, aber dafür einen hohen Preis zahlen. Noch bestimmen viel zu viele Männer, wo der Platz der Frauen angeblich sein soll. Und das ist ein Unding.

Doch damit das nicht weiter passiert und die Mädchen es nicht mit sich machen lassen, brauchen sie früh – sehr früh – Vorbilder, die aus den gesellschaftlichen Korsetts ausbrechen und sich nicht von Jungs und Männern korrumpieren lassen. Dazu jedoch benötigt man Offenheit und Mut, mit anderen – in diesem Fall sind es die besten Freundinnen – über die eigenen Befindlichkeiten zu reden. Evie ist in diesem Buch nur bedingt ein Vorbild, da es in Bezug auf mentale Erkrankungen in unserer Gesellschaft immer noch unzählige Tabus gibt, weshalb Evie ihre Angstzustände und Zwänge verschweigt. Der Wunsch nach Normalität, die jedoch immer eine Illusion ist – denn: Was ist schon normal? –, treibt sie dazu ein Bild von sich in der Öffentlichkeit zu produzieren, das ihrem Wesen jedoch so gar nicht entspricht.

Diese Tragik, die Bourne in einem schmerzhaften Rückfall in die Krankheit fesselnd entwickelt, unterstreicht so doppelt und dreifach ihr Anliegen: Mädels, lasst euch nicht verbiegen. Von niemandem, selbst wenn der Typ den süßesten Blick der Welt drauf hat. Denn erst, wenn man sich selbst liebt, seine guten wie seine schlechten Seiten, wenn man aus eigenem Antrieb um seiner selbst willen etwas angehen oder verändern will, erst dann klappt’s vielleicht auch mit …  [hier bitte all das ergänzen, was frau gern erreichen würde].

Bücher wie die Spinster Girls sind jedoch nur eine Seite der Medaille, denn sie sprechen die Jungs (die in diesem Roman ziemlich stereotyp und mies wegkommen) nicht frei, einfach so weiterzumachen, wie sie es von Hause (?) aus gewöhnt sind. Ich kenne vermutlich viel zu wenige Jugendromane, denn ich kann mich grade nicht erinnern, dass es schon mal einen Roman mit Jungen als Protagonisten gab, die sich um feministische Belange gekümmert haben. Nennt mich naiv, aber wäre das nicht mal ein Romanstoff, der heranwachsende Jungs und Mädchen gleichermaßen neugierig machen sollte? Falls es so eine Geschichte bereits gibt, schreibt mir das bitte in den Kommentar – falls nicht … vielleicht findet sich ja eine_r, die das Thema mal klischeefrei umsetzt.

Auf jeden Fall aber ist Holly Bournes Serien-Auftakt Spinster Girls – Was ist schon normal? vielversprechend und macht Hoffnung, dass die jungen Leserinnen ihre feministische Botschaft so verinnerlichen, dass in Zukunft keine von ihnen je den Hashtag #metoo benutzen muss.

Holly Bourne: Spinster Girls – Was ist schon normal?, Übersetzung: Nina Frey, dtv, 2018, 416 Seiten, ab 14, 10,95 Euro