Eine Frage der Identität

Dieser Tage kann man Angie Thomas quasi im Doppelpack erleben. Im Kino läuft seit vergangener Woche die sehr gelungene Verfilmung ihres Debüt-Romans The Hate U Give, im Buchhandel ist ab heute ihr neues Werk mit dem Titel On The Come Up zu haben.
Auch Thomas‘ neuer Roman spielt im selben Viertel wie THUG, in Garden Heights, einer nicht genannten amerikanischen Großstadt. Ging es im Vorgängerroman um Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung und begann spektakulär mit den Tod eines Jungen, so ist die Gewalt in On The Come Up anders gelagert. Hier stirbt niemand, doch nett oder gar beschaulich geht es auch jetzt nicht zu. Thomas erzählt von der jungen Rapperin Bri, deren Familie kurz davor steht, obdachlos zu werden, da die Mutter ihren Job verliert und die laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können. Bris Bruder findet trotz guter Ausbildung nur eine mies bezahlte Anstellung in einem Pizza-Laden. Der Vater, der im Viertel ein angesehener Gangsta-Rapper war, ist schon vor Jahren, als Bri noch klein war, bei einer Schießerei (die hier eben nicht erzählt wird) umgekommen.

Zwischen Leidenschaft und Rollenspiel

Bri möchte ihrer Familie helfen, indem sie als Rapperin groß durchstartet. Und sie kann Talent vorweisen. In einem Battle schlägt sie den Sohn eines Rap-Managers und wird quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Allerdings mit einem Song, in dem sie sich selbst als bewaffnet und zur Gewalt bereit darstellt. Damit reagiert sie auf einen Vorfall in ihrer Schule, bei dem zwei Sicherheitsbeamte sie bei der Taschenkontrolle aus rassistischen Gründen überwältigt und zu Boden geworfen haben. Rasch wird sie als Drogendealerin verunglimpft, obwohl sie nur Süßigkeiten verkauft hat – doch als Tochter einer ehemaligen Drogenabhängigen ist so ein Urteil schnell gefällt.

Mit einem Mal muss Bri feststellen, dass sie zwar Rap-Talent und eine Botschaft hat, doch dass diese Botschaft nicht so verstanden wird, wie sie es sich gedacht hatte. Der Rap-Manager würde sie allerdings gern unter Vertrag nehmen und ködert Bri mit schicken Timberlands und einem Radio-Interview. Bri sieht sich dem Erfolg schon ganz nah – bis sie hinter die Kulissen schaut und eine Entscheidung trifft.

Die Stimme erheben

Angie Thomas ist hier erneut eine sehr komplexe und faszinierende Geschichte gelungen, in der sie zahlreiche Themen anspricht und zu einem wahren Pageturner verflechtet. Sie führt den Leser_innen vor Augen, wie schwierig es ist, sich aus alt eingesessenen Strukturen zu befreien – sei es von einer Drogenabhängigkeit, sei es von dem Vergleich mit dem Vater, sei es aus einem Problemviertel herauszukommen und die Armut zu überwinden. Überall stoßen Bri und ihre Familie auf Widerstände, Vorurteile, Missgunst oder Gier.
Bri als impulsive 16-Jährige, die durch die Vorfälle, die in THUG geschildert werden – auf den Vorläuferroman spielt Thomas immer wieder sehr geschickt an –, verstanden hat, dass sie ihre Stimme erheben muss, hält folglich nicht den Mund. Sie redet den anderen nicht nach dem Maul, sondern sagt unumwunden ihre Meinung. Und macht sich damit angreifbar.

Wer bin ich?

Über allem steht für mich fast nicht so sehr die Frage, wie man in der Gesellschaft aufsteigt (eng. the come up), sondern wer man/frau selbst sein will. Was prägt die eigene Identität? Die Herkunftsfamilie? Der eigene Kiez? Die Leidenschaft, für die man alles tun würde? Bri stellt sich diese Fragen zwar nie konkret, doch sie schwingen immer mit, bei ihr, bei ihrem schwulen Freund, bei Mutter und Tante. Für Bri ist die Verlockung groß, für ihre Leidenschaft – das Rappen – alles zu geben und, wie von ihrem gierigen Fast-Manager empfohlen, eine Rolle zu spielen. Angie Thomas beschreibt dies so unmittelbar aus Bris Perspektive, dass man ihr den Erfolg und den (finanziellen) Durchbruch eine Zeit lang durchaus wünscht. Doch schnell wird auch klar, dass darin nicht das Glück liegt.
Denn das Offensichtliche ist nicht immer das, was einen Menschen glücklich macht. Das entdeckt Bri neben all den Karriere-Aufregungen dann fast noch wie nebenbei, als sie merkt, dass ihr alter liebenswerter Kumpel Malik nicht so ein Herzklopfen und Britzeln bei ihr auslöst, wie der coole Curtis.

Das Rapper-Vokabular

Sprachlich zeichnet sich On The Come Up, wie schon THUG, durch sehr viel Slang, Ghettosprache sowie amerikanische Jugend- bzw. Hiphop-Sprache aus. Hier muss man der Übersetzerin Henriette Zeltner erneut höchsten Respekt zollen, da sie dieses spezielle Vokabular so im Text belässt, dass es sich authentisch anhört, man aber durch ihre sprachlichen Hinleitungen immer genau weiß, was die einzelnen Ausdrücke und die Rap-Texte, die komplett auf englisch belassen wurden, bedeuten. Ich glaube jedoch, dass für die Jugend, die eh schon viel intensiver mit der englischen Sprache groß wird, als meine Generation, mit all diesen Texten und Worten keine Schwierigkeiten haben wird.
Für gewisse Zweifelsfälle kann man hinten im Glossar nachschlagen und sich schlau machen.

Auch ohne den Vorgänger THUG zu kennen kann man On The Come Up sehr gut lesen. Die Anspielungen an THUG, die Thomas in die neue Geschichte einwebt, bringen den Kennern ihres Debüts die Erinnerungen daran zurück, die Thomas-Neulinge werden auf jeden Fall neugierig gemacht, diese Lektüre nachzuholen.
Und wer es schneller haben möchte, kann dieser Tage The Hate U Give im Kino anschauen – und wird von Amandla Sternberg als Starr Carter hoffentlich genauso begeistert sein wie ich.

Angie Thomas: On The Come Up, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbj, 2019, 512 Seiten, ab 14, 18 Euro

[Gastrezension] Fantastico!

mathildeAcht Geschichten versammelt dieser von Ulf K. pfiffig bebilderte Band der norwegischen Schauspielerin und Sängerin Andrea Bræin Hovig rund um die sechsjährige Wilde Mathilde und ihren Papa, den Christel Hildebrandt knackig und frech übersetzt hat.

Mathilde und Papa leben allein, wo Mama ist, spielt keine Rolle. Es geht um die Beziehung Tochter-Vater, um Mitmenschen, Ausflüge, Feste. Da wird aus dem nörgeligen Nachbarn Iversen, dem stets alles zu laut ist, plötzlich ein Rock-Fan. Weil ihn die Begeisterung der luftgitarrenspielenden Mathilde so mitreißt? Beim Arzt trifft Mathilde auf Dr. Mari Sville, die derart überarbeitet ist, dass sie alle Wörter verdreht und selbst das Bett hüten müsste. Kurzerhand assistiert die fieberkranke Patientin und zeigt Frau Doktor erst einmal, wie sie ihr Stethoskop richtig benutzt. Später begegnet sie Mari zusammen mit deren Nichte Liv im Schwimmbad. Papa meint, seine Tochter müsse schwimmen lernen, doch der graust es vorm Wasser. Als es Mathilde schließlich zu bunt wird, erklärt sie dem Schwimmlehrer mutig-laut, dass sie Angst habe und deshalb nicht weiter mitmachen werde. Der turbulente Tag endet bei heißem Kakao mit Liv, Mari und Papas gerötetem Gesicht. Ist der vielleicht verliebt?

Mathilde erkennt die Wahrheit oft fixer als Papa, auch bei ihrem Zeltausflug. Hat Papa wirklich Ahnung? Nun, das Zelt will nicht stehen, dazu regnet es in Strömen. Zum Glück entdeckt sie ein hell beleuchtetes Haus mitten im Wald, und der schrullige Besitzer gewährt Obdach. Zupacken, das kann die Wilde Mathilde auch im Osterurlaub, als Papa unbedingt Ski fahren will. Aber die Piste ist nix für sie, deshalb wird gestreikt – und es folgen lustige Tage ohne Sportgedöns. Doch nicht nur Papa lernt dazu. Als Mathilde Weihnachten mit fremden Menschen feiern soll statt mit Onkel Torstein, zieht sie aus Protest ihr Zwiebelkostüm an. Papa nimmt’s gelassen, und Mathilde erlebt ihr schönstes Fest mit Riesentanne, Geschenketausch und Scharade.

Mathilde und Papa sind ein absolutes Traumpaar – herzumgarnend, ehrlich, liebevoll. Sie probieren vieles aus, lernen voneinander, vertrauen sich, selbst wenn es manchmal Missverständnisse gibt. Und weiß Mathilde einmal keinen Rat, dann wackelt sie einfach mit dem Po und ruft: „Ich bin fantastico.“

Zum Nachahmen empfohlen!

Heike Brillmann-Ede

Andrea Bræin Hovig: Die Wilde Mathilde. Geschichten zum Vorlesen, Illustration: Ulf K., Übersetzung: Christel Hildebrandt, Gerstenberg Verlag, 2016, 120 Seiten, ab 5, 12,95 Euro