Korrekter Bigtalk

Marcelo in the Real WorldWas ist die wahre Welt? Und ist die Wahrheit immer ein Geschenk? Marcelo macht sich da so seine ganz eigenen Gedanken. Das liegt zum Teil daran, dass er eine Art des Asperger-Syndroms hat. Sätze nimmt er wörtlich, übertragende Bedeutungen hat er im Kommunikationstraining gelernt. Gefühle bei anderen Menschen zu erkennen fällt ihm schwer. Lieber diskutiert er mit Rabbinerin Heschel über sein Spezialgebiet, Gott. Er hört eine wohlige innere Musik. Außerdem liebt er die Haflinger-Ponys seiner Schule, an der er so sein darf, wie er eben ist. Ein bisschen langsam, sehr korrekt und einfach liebenswert.

Sein Vater, Staranwalt in einer großen Gemeinschaftskanzlei in Boston, sieht das jedoch anders und verpflichtet Marcelo, die Sommerferien über in der Poststelle der Kanzlei zu arbeiten. Damit der Sohn das wahre Leben kennenlernt und sich weiterentwickelt.

Und das tut er – nur nicht auf die Art, wie der Vater es sich gedacht hat. Denn mit den Regeln der wahren Welt und vor allem mit denen des amerikanischen Justizsystem konfrontiert, beschließt Marcelo nach gründlichen Überlegungen, nicht mehr mitzuspielen, sondern der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen…

Was sich als Plot vielleicht nicht besonders spektakulär anhört, wird jedoch durch die Darstellung der Arbeitswelt, die wir wahrscheinlich als „normal“ bezeichnen würden, überaus beeindruckend: Der grobe, menschenverachtende und fast schon gewalttätige Umgang der Kanzlei-Mitarbeiter untereinander zog mir die Eingeweide zusammen. Gefühlskälte, Berechnung, Manipulation herrschen hier – und werden durch Marcelos Blick darauf in ihrer ganzen Grausamkeit entlarvt. Fassungslos liest man vor den Umgangsformen und Gepflogenheiten, die in der „wahren Welt“ gang und gäbe sind.

Doch zum Glück gibt es Jasmine. Sie zeigt dem Jungen die Hügel von Vermont, den Sternenhimmel und eine Welt, in der Klarheit, Ehrlichkeit und Liebe möglich sind. Das tröstet und beruhigt ganz ungemein. So möchte man sofort mit Marcelo dorthin ziehen und der inneren Musik lauschen.

Marcelo In The Real World ist eine Perle – sowohl sprachlich, dank der pointierten Übersetzung von Britta Waldhof, als auch inhaltlich, dank der genauen Beobachtung durch Autor Francisco Stork, der uns allen einen Spiegel vorhält, wie nachlässig wir im täglichen Leben mit Worten und Gefühlen umgehen. Einfach großartig.

Francisco X. Stork: Marcelo in the Real World, Übersetzung: Britta Waldhof, Fischer FJB, 2011, 363 Seiten, 17,95 Euro

Es muss nicht immer Dr. Sommer sein…

Ja, es gibt sexuelle Aufklärung jenseits des Dr.-Sommer-Teams. Mädchen ab 12, denen die Bravo zu peinlich ist, können jetzt auf den Jugend-Brockhaus „Total verknallt!“ ausweichen. Dort finden sie verständlich geschriebene Artikel zu allen Themen rund um Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln, erklären die Autoren tabulos, aber sachlich nicht nur die Basics der körperlichen Vorgänge, Sexualpraktiken oder das jugendliche Gefühlschaos, sondern plädieren auch für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Vom Quickie bis Queer ist hier alles drin, was wichtig ist, und was man vielleicht nicht zu fragen wagt …

Layout-technisch ist dieses Nachschlagewerk frech aufgemacht. Das Rosa-Lila von Schrift und Hintergrund wirkt jung und Girls-kompatibel, aber nicht kindisch – und ist auf jeden Fall keine Pink-Orgie á la Lillifee. Nur warum die Verweise und die Randbemerkungen gelb gedruckt wurden, verstehe ich nicht so richtig. Lesbarkeit ist für mich jedenfalls etwas anderes … aber vielleicht bin ich auch schon zu alt und augenschwach, um diese Entscheidung wirklich nachvollziehen zu können.

Der Jugend-Brockhaus: Total verknallt! Alles über Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Brockhaus in der Wissenmedia, 2011, 192 Seiten, ab 12, 12,95 Euro

Zum Heulen schön

Es gibt nur sehr wenige Bücher, die mich zum Weinen bringen. Patrick Ness, der in Sieben Minuten nach Mitternacht das literarische Vermächtnis der Autorin Siobhan Dowd umgesetzt hat, aber hat es geschafft, dass ich heulend im Zug von Frankfurt nach Hamburg saß. Auf äußerst berührende Weise erzählt er die Geschichte von Conor und dem Monster.

Immer um sieben Minuten nach Mitternacht taucht das Monster, das die Form einer riesigen Eibe hat, in Conors Zimmer auf und fordert den 13-Jährigen auf, sich seinen Ängsten zu stellen. Und Conor hat unglaubliche Angst. Denn seine Mutter ist todkrank. Von den Behandlungen ist sie so geschwächt, dass sie sich nicht um ihren Sohn kümmern kann. Allein macht er sich also das Frühstück und trägt den Müll hinaus. Als es der Mutter eines Tages noch schlechter geht, zieht die Großmutter im Haus ein. Conor kann sie nicht ausstehen, die Großmutter kann nichts mit dem Enkel anfangen. Doch sie müssen sich zusammenraufen, denn die Mutter muss schließlich ins Krankenhaus.

Conor ist niedergeschlagen. Alle um ihn herum behandeln ihn wie ein rohes Ei, seine Klassenkameraden ziehen sich immer mehr zurück, niemand nimmt ihn mehr wahr. Er scheint quasi zu verschwinden. Nur das Monster ist da, pünktlich um 12:07 Uhr. Es erzählt Conor drei märchenhafte Geschichten vom Leben – und er lernt sich seiner Wut, seiner Angst und seiner Trauer zu stellen.

Diese Geschichte vom Leben und Sterben ist schwere Kost und verdammt herzzerreißend – und trotzdem macht sie extrem viel Mut, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, sie wahrzunehmen und sie auszusprechen.

Die eindrucksvoll-düsteren Illustrationen von Jim Kay unterstreichen die melancholische Stimmung aufs trefflichste. Bettina Abarbanell hat den Text auf den Punkt aus dem Englischen übersetzt.

Patrick Ness (nach einer Idee von Siobhan Dowd): Sieben Minuten nach Mitternacht, cbj Verlag, Übersetzung: Bettina Abarbanell, Illustration: Jim Kay, 215 Seiten, ab 12, 16,99 Euro