Wie Leben geht

Magali ist 13 Jahre alt und wünscht sich, möglichst bald geküsst zu werden. Herr Krekeler ist 98 Jahre alt und möchte sterben. Was das junge Mädchen und den alten Mann verbindet und wie das mit dem großen Ganzen zusammenhängt, das man Leben nennt, erzählt Nikola Huppertz sehr geistreich und berührend und umwerfend lustig im Roman Fürs Leben zu lang.

Ein Tagebuch von allen anderen

Magali ist sehr groß für ihr Alter, mit 1,82 Meter überragt sie alle Gleichaltrigen. Auf 1,89 bis 1,92 Meter wird sie mindestens noch wachsen, so die Prognosen. Ihr eigenes Leben findet die Teenagerin langweilig. Alle anderen scheinen ihr interessanter. Und deshalb beginnt sie in »das überteuerte Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen« zu schreiben, das ihre Eltern ihr etwas einfallslos zum Geburtstag geschenkt haben: »Ein Tagebuch von allen anderen ist nicht unsinnig. Und irgendjemand muss ja festhalten, was in der Welt passiert. Die echten Dinge. Die einen umhauen. Auch wenn es nicht die eigenen sind.«
Niedliche Mädchen und hübsche Jungs, die chaotische Familie ein Stockwerk tiefer, eine exzentrische Nachbarin, ihre ältere Schwester Malve, mit Hang zum Melodram, ihre Seneca zitierende Mutter und ihr schweigsamer Vater, beide Anhänger der »bewussten Elternschaft« … Magali ist eine hervorragende Beobachterin und äußerst witzige Tagebuchautorin.

Rumpelstilzchen springt von Treppenabsatz

»Guten Tag, Magali«, begrüßt Alfred R. Krekeler sie, wenn sie sich im Treppenhaus begegnen. »Ich habe schon oft überlegt, wie er es macht, dass er sogar in seinem dunkelblauen Jogginganzug schick aussieht. Wirklich schick und kein bisschen seltsam.«  Doch dann beschließt Herr Krekeler, 98 Jahre sind genug.
Und damit springt KK in Magalis Leben, wortwörtlich vom Treppenabsatz. Der Gleichaltrige begrüßt sie mit: »Wir kennen uns!« »Ich war zu Tode erschrocken. Er erinnerte mich irgendwie an das Rumpelstilzchen (1,53 Meter maximal und überaus wuselig), aber sonst an niemanden.« Kieran Krekeler ist Herrn Krekelers Enkel. Er erzählt Magali, dass sein Großvater sterben will.

Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit

Magali akzeptiert das zunächst nüchtern als die Entscheidung ihres freundlichen Nachbarn, von dem sie sonst fast gar nicht weiß. Immerhin ist der Mann 98.
Doch je länger sie drüber nachdenkt, desto klarer wird ihr: »Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit«. Besser kann man es nicht Punkt bringen.
Das macht Nikola Huppertz‘ Roman so brillant: Ihre Sprache und wie sie durch Magali die Menschen und die Welt beschreibt. Auch ihre Dialoge und Textnachrichten sprühen vor Witz, Screwballcomedy at it’s best.

Keine Anleitung, keinen Plan

In ernsten, ja todernsten Passagen schafft die Autorin eine intensive, fühlbare  Atmosphäre, als wäre man selbst dabei: »Mühle ist ein langweiliges Spiel. Wenn man es kann, gewinnt immer, der der beginnt. Trotzdem spielten KK und ich dreizehn Partien, sechs gewann er, sieben ich. Irgendwann sagte KK: ›Hättest du gedacht, dass Sterben so geht?‹ Er fragte es nur so, als handele es sich um den Wetterbericht oder darum, was es morgen zum Osterfrühstück geben sollte, fragte es mitten in die Langeweile hinein. Und auch mir rutschte die Antwort einfach über die Lippen, sie stand schon im Raum, ehe ich darüber nachdenken konnte, sagte sich selbst: ›Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, wie Leben geht.‹«
Magali und Kieran erfahren, dass niemand es weiß. Nicht die Eltern, nicht die ganz Alten, auch nicht der Philosoph, den die Kinder per Mail fragen (übrigens ein realer Philosoph, den Huppertz angeschrieben hat). Es gibt keine Anleitung, keinen Plan. Jedes Leben ist einzigartig.

Einfach grandiose Literatur

Wie Huppertz diese ebenso simple wie wertvolle Erkenntnis mit lebendiger Sprache, mit einem Sumoringer oder der Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamar, mit Worten wie Würde, Walddrama, Schuk, Struwen, Nagelfetisch, Nazimutter, Beinkind und Zusammenstoßkind erzählt, oder von der wunderbaren Magali ins Tagebuch schreiben lässt, das ist ganz große Literatur. Keine weitere Comig-of-age Geschichte, keine Sick Lit (was für eine kranke Genrebezeichnung!) und erst recht kein Kinderbuch. Einfach grandiose Literatur.

Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang, Tulipan, 200 Seiten, ab 12, 16 Euro