[Gastrezension] Lernen aus der Vergangenheit

rafalWarum eigentlich noch ein weiteres Buch über den Holocaust? Und das 70 Jahre danach?
Die Antwort auf diese Fragen wird in dem Buch Flügel aus Papier von Marcin Szczygielski, in der Übersetzung von Thomas Weiler, selbst gegeben: „Die Zukunft ergibt sich aus der Vergangenheit. Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“

Mit dieser Antwort erklärt der Zeitreisende, eine der wichtigen Figuren im Leben von Rafał, dem Protagonisten der Geschichte, die Möglichkeiten und den Sinn von Zeitreisen. Rafał ist gerade sieben geworden und lebt mit seinem Großvater im Warschauer Ghetto. Sein Großvater ist vor dem Krieg ein berühmter Geigenspieler gewesen, jetzt verdient er mit seiner Geige den Lebensunterhalt, indem er auf den Hinterhöfen oder in Restaurants zur Unterhaltung der Gäste spielt. Rafał sorgt für den Großvater – er macht die Betten, wischt Staub, kocht und wäscht ab. Seine Eltern sind weg, nach Afrika seien sie ausgewandert, glaubt Rafał, um dort ein besseres Leben aufzubauen. Sie wollten ihn holen, aber da ist der Krieg dazwischen gekommen, nicht einmal Briefe kommen jetzt an. Rafał besitzt ein einziges Foto von den Eltern, aber darauf sind sie auch nur im Schatten verschwommen und unscharf zu sehen.

Das karge Leben im Ghetto im Jahr 1942 wird mit den Augen des siebenjährigen Jungen dargestellt, der sich in seine Bücherwelt flüchtet, um mit der unverständlichen Wirklichkeit fertig zu werden und ihr zu entfliehen. Bücher sind für ihn die „Flügel aus Papier“. Deswegen ist die noch funktionierende, öffentliche Bibliothek im Ghetto ein sehr wichtiger Ort der Normalität und der Ausflug zu ihr, um ein neues Buch auszuleihen, ein Versuch, diese mit aller Kraft zu beschwören. Es ist zugleich auch ein Beweis der Selbständigkeit, nach der sich Rafał so sehr sehnt. Auf Empfehlung der Bibliothekarin liest Rafał das Buch von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“, das ihn nicht nur begeistert und von großen Abenteuern und eigenen Erfindungen träumen lässt. Mit der Metapher von Eloi und den Morloken hilft ihm das Buch bei dem Versuch, den Krieg und seine Verfolgungssituation zu begreifen.

Die Geschichte von Rafał endet gut. Der Großvater verkauft seine kostbare Geige, um Rafałs Flucht auf die „arische“ Seite zu finanzieren. Rafał versteckt sich im ehemaligen Zoo in Warschau, lernt andere Kinder in Not kennen, meistert mit ihnen den Alltag und plant die weitere Flucht, bei der Erfindungen eine große Rolle spielen und die doch ganz anders verläuft als geplant … und Zeitreisen sind auch dabei … Die Geschichte von Rafał endet in der Gegenwart. Hier spielt auch das Abschlusskapitel, in dem der Autor die Erzählung historisch verortet.

Es ist ein großes Verdienst dieses Buches über Rafał, dass es schwierige Themen ohne nationalistische Untertöne und Verurteilungen anspricht, zugleich aber Gut und Böse klar benennt. Denn auch in dieser schwierigen Zeit sind Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe sehr wichtig.

Die Übersetzung des ursprünglich in polnischer Sprache verfassten Buches, in dem die Topographie von Warschau der Kriegsjahre eine wichtige Rolle bei der Konstituierung der erzählten Welt spielt, stellte den Übersetzter vor eine große Herausforderung. Thomas Weiler hat eine begrüßenswerte Entscheidung getroffen, indem er auch die Straßennamen unübersetzt ließ. Sie tragen nicht unerheblich zur Stimmung der dargestellten Welt bei, auch wenn sie – ebenfalls wie die Namen einiger Protagonisten – deutschen Lesern wie Zungenbrecher vorkommen könnten.

Flügel aus Papier ist insgesamt ein Buch darüber, worauf es insgesamt im Leben ankommt, wie auch immer die Zeiten sind und auch darüber, dass die Zeiten nicht zuletzt durch unser Tun und Handeln gestaltet werden, über die Verantwortung. Ein großes Thema, altersgerecht (für Kinder ab 10 Jahren) und überzeugend dargestellt und wieder mal hochaktuell.

Aneta Heinrich

Marcin Szczygielski: Flügel aus Papier, Übersetzung: Thomas Weiler, ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis. Ausgewählt von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres, Fischer Sauerländer 2015, 285 Seiten, ab 10 Jahren, 13,99 Euro

[Jugendrezension] Was für ein Mensch willst du sein?

safierWenn ich an David Safier denke, kommen mir zuerst Komödien wie Mieses Karma oder Jesus liebt mich in den Sinn. Doch sein neues Buch 28 Tage lang ist anders: eine Geschichte über junge Leute im Widerstand gegen die Nazis. Safier hat es geschrieben in Gedenken an seine Großeltern, die in Buchenwald und Lodz umgekommen sind.

Polen, 1943: Das Leben im Warschauer Ghetto ist geprägt von Armut, Hunger und Furcht. Um ihre kleine Schwester Hannah durchzubringen, schmuggelt die 16-jährige Mira unter Lebensgefahr Nahrungsmittel. Die Mutter ist am Selbstmord des Vaters zerbrochen, der Bruder Simon lässt sich nicht blicken. Kraft gibt Mira ihr Freund Daniel, der in einem Waisenhaus lebt und sich um kleine Kinder kümmert.
Dann trifft Mira Amos. Er gehört einer jüdischen Untergrundorganisation an, die Widerstand bis in den Tod gegen die Deutschen leisten will. Amos ist überzeugt davon, dass diese sie alle töten werden.
Die Ereignisse überschlagen sich. Die Bewohner des Ghettos sollen „umgesiedelt“ werden. Mira gelingt es, rechtzeitig unterzutauchen. Sie beschließt, sich Amos und den anderen anzuschließen.
Die jüdische Untergrundorganisation kann eine Weile Widerstand leisten: 28 Tage lang. 28 Tage hat Mira Zeit, ihr Leben zu leben, ihre Liebe zu finden und herauszubekommen, was für ein Mensch sie sein will.

Den Aufstand im Warschauer Ghetto hat es wirklich gegeben. Die Hauptperson des Romans, Mira Weiss, ist ausgedacht. Sie erlebt, was die Aufständischen damals erlebt haben. Junge Leute lehnen sich gegen eine Übermacht auf, obwohl sie keine Chance haben. Sie machen Schlimmes durch, müssen Kameraden zurücklassen, sehen Menschen sterben und töten selbst. Dadurch verändern sie sich. Inmitten dieses Wahnsinns erleben sie das Gefühl der Freiheit.

David Safier schreibt in einer modernen Sprache, was aber passt. Dadurch versetzt man sich gut in die Personen hinein und bekommt das Geschehen hautnah mit. Gebannt habe ich es in einem Rutsch verschlungen.

Beim Lesen stellt sich die universelle Frage: Was für ein Mensch willst du sein? Jemand, der sich wehrt? Jemand, der sein Leben für andere opfert oder der andere für sein Leben preisgibt? Wie würde man an Miras Stelle handeln?

Auch wenn das Buch vom Zweiten Weltkrieg handelt, sind seine Themen aktuell und deshalb wirklich lesenswert.

28 Tage lang ist ein Buch über Mut und Feigheit. Über Fürchten und Wünschen. Über Liebe und Hass. Über Leben und Tod. Die Geschichte ist oft traurig und schockierend. Ich las sie trotzdem gern. Sie ist spannend, und ich habe darin viel über Menschen gelernt. Es gibt in ihr großartige Stellen von Zusammenhalt und Barmherzigkeit. „Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung“, sagt ein italienisches Sprichwort.

Juliane (15)

David Safier: 28 Tage lang, Rowohlt, 2014, 416 Seiten, ab 13, 16,95 Euro