Genug der hyggen Heimeligkeit im trauten Kreis der Familie. Nach mehreren Tagen volle verwandtschaftliche Breitseite spielt man zumindest mit dem Gedanken, wie es wohl in einer ganz anderen Familie wäre? Mit mehr Action? Amanda Black allerdings hat im Moment keine Zeit über ihre soeben entdeckte Familie nachzudenken: »Mein größtes Problem ist, dass die Bank meine Tante Paula und mich noch vor dem Wochenende aus der Villa Black werfen wird. Zumindest war das mein größtes Problem – bis vor drei Sekunden. Dann wurde das Seil durchgeschnitten. Jetzt stürze ich aus 477 Metern Höhe, mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 55 Metern pro Sekunde. Aber das ist nicht mein größtes Problem. Mein größtes Problem ist, dass derjenige, der das Seil durchgeschnitten hat, mein bester Freund ist. Oder zumindest dachte ich, dass er das ist.«
Perfekte Superheldinnenlandung statt Hackbällchen
Juan Gómez-Jurado und Barbara Montes beginnen den Auftakt ihrer Serie Amanda Black furios mit einem packenden Cliffhanger. Doch zunächst ein kurzer Rückblick: Amanda lebt mit ihrer fürsorglichen und liebevollen Großtante Paula in einer winzigen Einzimmerwohnung. Ihre Eltern sind kurz nach ihrer Geburt gestorben. Amanda und Tante Paula sind einander die ganze Familie und sie sind sehr arm. Amanda kennt es nicht anders. Bis kurz vor ihrem zwölften Geburtstag.
Da springt sie, nur um dem meckernden Vermieter auszuweichen, als wäre es das Normalste der Welt, zum Nachbarhaus und von da in die Tiefe: »Ich fiel durch den Regen, das rechte Bein unter meinem Körper angewinkelt, das linke zur Seite ausgestreckt, sodass sie ein Dreieck bildeten. Meinen linken Arm hatte ich über die Schulter nach hinten gebogen und die rechte Hand mit der Handfläche nach unten gerichtet, um mich abzufangen. Ich dachte ja, ich würde mir ein Bein brechen oder wie ein Hackbällchen, das aus dem Topf entkommen war, über den Boden kullern. Aber nein: keine Knochenbrüche, und auch kein kullerndes Hackbällchen. Nur eine perfekte Landung und ein merkwürdig surreales Gefühl.«
Das hätte den Jedis Darth Vader und etliche Problem erspart
Das spanische Autor-Autorin-Gespann spielt virtuos mit den klassischen Versatzstücken des Action- und Agentinnen-Genres: Die liebe Großtante, ein bisschen wie Peter Parkers Tante May, arm wie Aschenputtel, merkwürdige Veränderungen, unbekannte Herkunft, ein loyaler, altmodischer Typ mit ausgefeilten Techniktricks, wie bei Batman oder James Bonds Q. Und plötzlich eine Superheldinnenbewegung, wie man sie von Scarlett Johansson als Black Widow kennt. Über die sich im gleichnamigen Film ihre kleine Schwester lustig macht. Gleich auf den ersten Seiten von Amanda Black gibt’s reichlich Assoziationen.
Das macht auch den charmanten, von Tamara Reisinger flott übersetzten Tonfall des ersten Abenteuers von Amanda Black als frisch gebackene Schatzjägerin und Superheldin aus. Es ist ungeheuer spannend, ein bisschen surreal, doch immer auch mit einer raffinierten, humorvollen und sehr zeitgemäßen Brechung. Die Familie Black hat es sich nämlich seit Generationen zur Aufgabe gemacht, alle möglichen schrecklichen Waffen zu stehlen und wegzusperren, um Konflikte zu befrieden. Ihre Fähigkeiten und Superkräfte dürfen sie aber nur für Gutes nutzen, nicht zu persönlichen Bereicherung und für Böses, sonst kehrt ihr Talent sich gegen sie.
Sehr schlau, das hätten die Jedis auch mal so festlegen sollen, es hätte ihnen Darth Vader und etliche Probleme erspart.
Unfassbarer Reichtum ist eine supergefährliche Waffe
Schon im ersten Band deutet sich an, dass eine der gefährlichsten Waffe unfassbarer Reichtum und die damit einhergehende Macht ist. Eine kluge und zeitgemäße Interpretation, siehe die derzeit unheilvollste Symbiose des Bösen in den USA. Im bereits erschienenen zweiten Band geht es auf Geheimoperation im Untergrund. Mehr davon!
Mehr gibt es auch demnächst von den Geisterhelfern. Das sind Leo und Antonia. Leo wurde angeblich mitten auf einem Friedhof in einem Sarg geboren. Weshalb sein zweiter Vorname Helsing ist, nach dem Vampirjäger. Seine Eltern finden das lustig, Leo weniger. Er ist nämlich eher ein ängstlicher Typ, vor allem Dunkelheit kann er nicht ertragen.
Er würde also nie auf die Idee kommen, im Dunkeln auf einen Friedhof zu gehen. Doch genau das passiert. Dort begegnet er drei Gespenstern, grün wabernden Wesen. Nur er kann sie sehen, ausgerechnet. Sie sehen aus »als würde man eine Kerze unter eine Schüssel Wackelpudding stellen, Sorte Waldmeister.« Und nur er kann verstehen, was sie sagen und was sie umtreibt. Und deshalb bitten sie ihn um Hilfe, einen dauernd jammernden Quälgeist zu vertreiben.
Queere Geister
Tatsächlich wird Leo, zusammen mit Antonia, der leicht morbiden, konsequent schwarz gewandeten Enkelin der Nachbarin, den Gespenstern helfen. Aber ganz anders als gedacht. Es kommen Ex-Fußballprofis und uralte Lederbälle, meterlange Häkelschlangen und alte Blumentöpfe ins Spiel. Dabei macht Tina Blase ganz nebenbei ein paar Klischees den Garaus: Warum sollen Geister nicht queer sein, also einst queer gelebt haben. »Alte Menschen sind nicht automatisch dumm«, bringt Antonia es auf den Punkt. Später merkt Leo über das Mädchen anerkennend »verrücktes Gefasel und Häkelgardine bedeutet nicht automatisch unsportlich.« Kapitalismuskritisch ist sie auch: »Wie langweilig, immer geht es nur ums Geld.«
Deshalb geht es in diesem Buch um mehr. Tina Blase macht ihre schräge Geistergeschichte zur turbulenten Schatzjagd. Und erzählt so von Freundschaft, Solidarität und Vertrauen. Von Feigheit und schlechtem Gewissen. Von nachvollziehbaren Ängsten und irrationalen Phobien. Und von wahrem Mut – nämlich über seinen eigenen Schatten zu springen.
Lebende sind manchmal wirklich gruselig
Das ist auch sprachlich ein Lesevergnügen: »Solche Jungs sind mir ehrlich gesagt suspekt. Niemand ist in echt so cool. Ich sehe es an meinem Bruder«, sagt Leo über den Star seiner neuen Schulklasse. Überhaupt spielt Leos älterer, schwer pubertierender Bruder Valentin eine wichtige Rolle wegen seiner egozentrischen und gruselig gemeinen Prophezeiung: »Wenn du dich nicht änderst, wirst du ein schlimmes Ende nehmen! Als einsamer Nerd, der seine Tage unter der Bettdecke fristet, während anderer ihr Leben leben. Du wirst nie Freunde haben, nie eine Familie gründen, vermutlich auch nie arbeiten und am Ende jämmerlich – « Die Lebenden, besonders die in nächster Umgebung, sind manchmal die wirklich Unheimlichen. Doch manche werden auch unheimlich gute Freundinnen und Freunde.
Juan Gómez-Jurado, Barbara Montes: Amanda Black – Die Mission beginnt, Ü: Tamara Reisinger, cbj, 2024, 208 Seiten, 14 Euro, ab 9
Tina Blase: Die Geisterhelfer – Traue sich, wer kann!, cbj, 2024, 224 Seiten, 13 Euro, ab 8