Pinocchio faszinierend düster illustriert

Pinocchio

Auch mehr als 140 nach dem ersten Erscheinen der Geschichten von Pinocchio in Italien, regt die flunkernde Holzpuppe immer noch zu neuen Veröffentlichungen an. Die neueste auf dem deutschen Markt ist nun das opulente Bilderbuch aus dem Bohem Verlag, gestaltet von dem großartigen Carll Cneut.

Hier liegt allerdings keine Übersetzung des italienischen Originals von Carlo Collodi zugrunde, derer es in Deutschland seit 1905 ja bereits mehr als 50 Varianten gibt, siehe auch hier. Übersetzungstechnisch scheint Pinocchio auserzählt zu sein. Stattdessen liegt den Bildern die Nacherzählung der niederländischen Autorin Imme Dros, übersetzt von Rolf Erdorf, zugrunde.

Nacherzählung mit den wichtigsten Episoden

Dros hat die Abenteuer von Pinocchio auf die Kernepisoden zusammengedampft und leicht verändert. Der Holzjunge gehorcht immer noch nicht, geht Betrügern auf den Leim, trifft die Sprechende Grille und die Blaue Fee, landet im Bauch des Hais und wandelt sich zum braven Sohn. Soweit nichts Neues. Allen Veränderungen nachzuspüren, wäre eine rein akademische Aufgabe und langweilig. Denn hier liegt der Fokus woanders.

Bestiarium in den Illustrationen

Denn neu sind die Illustration von Carll Cneut. Hier gibt es keine niedlichen Figuren und hübschen Feen. Ganz in seinem unverwechselbaren Stil, der schon die Bilderbücher Der goldene Käfig und Hexenfee geprägt haben, versammelt Cneut hier ein wahres Bestiarium. Neben den Pinocchio-immanenten Tieren wie Grille, Katze, Fuchs, Hai, Kaninchen, Eule und Rabe finden sich in den dunkel gehaltenen Waldszenen zudem Frösche, Papageien, Elefanten, Seepferdchen und Clownsfische. Manchmal muss man sehr genau hinsehen, um sie zu entdecken.
Pinocchio selbst erinnert mit roter Jacke und spitzer roter Mütze an die typischen Holzfiguren, die man in Italien vor allem in der Toskana als Souvenir bekommt. Sein pausbackiges Gesicht mit langer Nase gleicht jedoch kaum einer Marionette, sondern hier sieht man eigentlich schon immer den menschlichen Jungen durchschimmern. Lediglich die Stricharme und -beine lassen die nichtmenschliche Natur des Protagonisten erahnen.
Neben den ganz- und doppelseitigen Gemälden in gedeckten Farben gibt es auf den Textseiten immer wieder schwarzweiße Strichzeichnungen von Pinocchio, Geppetto und den anderen Figuren.

Typische Cneut-Männerfiguren

Bei den menschlichen Figuren, die auf manchen Panels massenhaft die Szenen bevölkern, wechselt Cneut zwischen seinen Signature-Profilen von identischen Jungen mit Seitenscheitelfrisuren und ganz einfachen Punkt-Punkt-Komma-Strich-Gesichtern. Sogar die Blaue Fee wird nur im Profil dargestellt, was eher männlich wirkt. Mädchen und Frauen habe ich nicht entdecken können. Selbst die Marionette Gretel könnte als Mann durchgehen. Doch das passt zur Pinocchio-Geschichte, in dessen Original es bis auf die Blaue Fee keine Frauenfiguren gibt.

Herausforderndes Kunstwerk

Dieser Pinocchio also ist von den Illustrationen her ein absolutes Kunstwerk. Viele Details entdeckt man zum Teil erst auf den zweiten oder dritten Blick. Ob die dunklen Bilder Kindern gefallen oder ihnen womöglich Albträume bescheren, ist die große Frage. Ich werde das Buch bei Gelegenheit mal meiner jüngsten Nichte zeigen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Fantasie auf jeden Fall angeregt wird.
Einziger Wermutstropfen bei dieser wunderschönen Ausgabe mit rotem Leinenrücken ist, dass dem guten Carll auf dem Cover ein L seines Vornamens abhanden gekommen ist. Das ist gerade an dieser prominenten Stelle extrem ärgerlich, weil so eine teure Ausgabe nicht einfach eingestampft und neugedruckt werden kann. Aber solche Dinge sind auch zutiefst menschlich und kommen im stressigen Verlagsalltag eben vor.
Nichtsdestotrotz wurde das Pinocchio-Universum mit dieser großartigen Ausgabe um sehr beeindruckende und herausfordernde Illustrationen bereichert, die für jede:n Pinocchio-Liebhaber:in ein Muss ist.

Carlo Collodi: Pinocchio, nacherzählt von Imme Dros, Illus: Carll Cneut, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem Verlag, 2025, 64 Seiten, ab 5, 28 Euro

Klassischer Grusel in kindgerechtem Gewand

Sandmann

Dieser Tage habe ich eine literarische Zeitreise in meine Studienzeit gemacht, als ich vor mehr als 30 Jahren im germanistischen Seminar in Hamburg E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann analysiert habe. Das gelbe Reclam-Heftchen mit meinen Anmerkungen und Anstreichungen ist fast ein kleines Kunstwerk.
Auslöser für diese Wiederlektüre ist die Neuerzählung der romantischen Geschichte durch Anna Kindermann, passend zum 200. Todestag des Schriftstellers am 25. Juni. In ihrem gleichnamigen Verlag wird seit Jahren Weltliteratur für Kinder aufs Schönste aufbereitet. Beim Sandmann allerdings habe ich mich anfangs erstaunt gefragt, ob so eine düster-gruselige Geschichte für Kids überhaupt sinnvoll ist.

Tiefenpsychologische Romantik

Im Sandmann kämpft die Hauptfigur Nathanael nämlich im Grunde gegen eine frühkindliche Traumatisierung, verliebt sich in einen Automatenfrau und wird von unerklärlichen Figuren in seinem Umfeld in den Wahnsinn getrieben. Die Sache geht bekanntermaßen nicht gut aus.
Kindermann schafft es jedoch, die komplexe Geschichte, an der sich Heerscharen von Literaturwissenschaftler ihre grauen Interpretationshirnzellen zermartern, in eine rasant lesbare Story zu bringen, deren Knalleffekte und Twists fast mehr an großes Actionkino erinnern, denn an ein tiefenpsychologisches Drama. Überspitzt gesagt.

Unzählige Deutungsmöglichkeiten

Natürlich ist der Sandmann zutiefst psychologisch und überaus rätselhaft: Sind die Figuren vom Advokaten Coppelius und dem Wetterglashändler Coppola identisch? Gibt es den Sandmann vielleicht doch wirklich? Warum spielen die Augen so eine große Rolle? Warum liebt Nathanael Olimpia mehr als Clara? Und wieso merkt er nicht, dass Olimpia ein Automat ist?
Letzteres lässt mich heute aus Frauenperspektive aufhorchen: Männer mögen wortkarge Frauen also lieber, die ihren Kerlen aufmerksam zuhören, ohne zu stricken oder mit dem Schoßhündchen zu spielen, und nur mit »Ach, ach!« antworten. Die handfeste, hellsichtige Clara mit ihrer klaren Deutung von Nathanaels Zuständen ist schon damals (in Hoffmanns Original) viel zu selbstbewusst, um den tragischen Helden dauerhaft an sich binden zu können. Ziemlich hellsichtig, dieser E. T. A., schon vor mehr als 200 Jahren.

Kindgerecht neuerzählt

Kindermann lässt plot-technisch nichts aus, doch sie glättet gar zu gruselige Szenen – beispielsweise wenn die alte Kinderfrau im Original, den Sandmann, der so gar nichts mit dem TV-Sandmännchen zu tun hat, drastisch schildert: »Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.« Die in Kindermanns genutzten Originalzitate sind kursiv gedruckt und in diesem Fall endet es nach den »Händevoll Sand in die Augen«. Das macht die Lektüre für junge Leser ab zehn Jahren erträglich – und trotzdem gruselig-spannend.

Heimelige Illus

Zu dem Wohlfühl-Gruseln tragen dann die Illustrationen von Dorota Wünsch ihren Teil bei: Sie sind farblich eher abgetönt und erdig gehalten, versprühen also nicht gerade Fröhlichkeit, verstören aber auch nicht. Frackschöße und Krinolinenkleider versetzen das Publikum viel mehr in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, als Alchemie und Automaten der letzte Schrei waren, aber auch damals schon der Kampf ums Urheberrecht (wer ist der eigentliche Schöpfer von Olimpia: Coppola oder Spalanzani?) im Gang war.

Verführung zur Weltliteratur

Okay, die Interpretationsansätze für den Sandmann sind vielfältig, und jede:r von uns wird sich bei der Lektüre etwas Eigenes denken. Für lesebegeisterte Kinder ist die Version von Anna Kindermann ein gelungener Einstieg in die Gruselliteratur der schwarzen Romantik und regt so vielleicht die Neugierde auf die Klassiker der Weltliteratur.

E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann, neu erzählt von Anna Kindermann, Illustrationen: Dorota Wünsch, Kindermann Verlag, 2022, 40 Seiten, 18 Euro