Eigentlich glaube ich ja nicht an Liebe auf den ersten Blick. Doch jetzt ist es mir passiert. Und zwar mit einem Buch. Das auserwählte trägt den unglaublich langen Titel Die erstaunlichen Abenteuer der einzigartigen, ungewöhnlich spektakulären, grenzenlos mirakulösen Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich. Der Einfachheit halber werde ich hier aber nur von Maulina sprechen. Entsprungen ist die etwa zehnjährige Heldin dem fantastischen Genius von Finn-Ole Heinrich.
Um mich war es geschehen, als ich das Buch aufschlug und die Aufforderung im Innendeckel fand, mit wachen Augen 84 Topfpflanzen in der Geschichte auszumachen und hier anzukreuzen. Bei den vielen großen und kleinen, geraden und krummen, üppigen und kümmerlichen Gewächsen ging mir einfach das Herz auf. Beim Lesen habe ich an die Topfpflanzen dann zwar erst wieder gedacht, als ich das Buch zugeschlagen wollte und im hinteren Innendeckel die restlichen Ankreuz-Blumentöpfe sah. Doch das war gar nicht schlimm, denn in der Zwischenzeit war ich aufs Großartigste zum Lachen und Weinen gebracht worden.
Denn Maulina, die ein großes Talent zum Maulen hat, erzählt von den Unbill in ihrem jungen Leben. Sie wurde aus ihrem Paradies Mauldawien, in dem sie die Prinzessin ist, vertrieben, nachdem die Eltern sich getrennt haben. Statt im Altbau mit allesfressenden Holzdielenfugen, einem blau-weißen Turnsofa und großem Garten mit Maulhöhle muss sie nun mit der Mutter in einer winzigen Wohnung namens Plastikhausen leben. Dort sind überall Plastikgriffe angebracht, Fenster und Boden sind aus Plastik, der Garten vor der Tür ist so winzig, dass Maulina fast alle vier Ecken berührt, wenn sie sich auf den Rasen legt. Platz für die beiden Schildkröten gibt es kaum. Es ist einfach nur schrecklich. Da helfen auch der Super-Zimt-Kakao von Mama oder der Bienenstich-Kaffee-Klatsch mit dem Großvater nichts. Maulina will zurück nach Mauldawien, obwohl sie mit „dem Mann“, wie sie ihren Vater nur noch nennt, kein Wort mehr redet.
Glücklicherweise lernt sie in der neuen Schule Paul kennen. Auch bei Paul ist die Familie zerrüttet, jedoch auf eine ganz andere Art, die in ihren Einzelheiten jedoch noch im Dunkeln bleiben. Er erzählt Maulina, dass vor ihnen eine Frau im Rollstuhl in Plastikhausen gewohnt hat. Und dieses Wissen wird für Maulina ein paar Tage später plötzlich sehr wichtig.
Aha, Trennungsgeschichte, könnte man jetzt denken. Doch Maulina ist viel mehr. Maulina ist ein Wirbelwind, der einen von der ersten Seite an mitreißt und nicht mehr loslässt. Finn-Ole Heinrich gelingt das zusammen mit der Illustratorin Rán Flygenring in einer kongenialen Mischung aus Poesie und Schnodderigkeit, Drama und Tragödie kombiniert mit Witz und Humor. Bilder und Texte verweben zu einer Einheit, in der Comic-Elemente und „Lexikalische Einschübe“ die Geschichte auf der visuellen Ebene anreichern.
Die Heldin Maulina nimmt den Leser mit ihrer unnachahmlichen Art über sich selbst zu reflektieren, die zwischen Größenwahn und echter Selbsterkenntnis changiert, sofort gefangen. In Momenten der größten Not bekommt sie meist einen Maulanfall, der zu Stimmverlust und Erschöpfung führt. Daneben backt Maulina den besten Maulwurfskuchen und schenkt der Mutter all ihre Liebe und Wärme. Und regt zum Nachdenken über Beziehungen, Krankheit und das Leben in seiner ganzen Wucht an. Bei alldem kann man, muss man Maulina einfach nur lieb haben, etwas anderes geht gar nicht. Zumal sie sich mit einer ungeheueren Kraft und einem ungebrochenen Optimismus gegen die Schicksalsschläge des Lebens stellt, die da auf sie niedergehen.
Und als ob Maulina an sich nicht schon Geschenk genug wäre, schafft es Finn-Ole Heinrich mit seinem Sprachkönnen, dass man endgültig vor Verehrung auf die Knie fällt. Zwischen die locker leichte Umgangssprache mit Dialogen, die den Ton auf den Punkt treffen, mischen sich zutiefst poetische Wendungen und Wortneuschöpfungen. Da „brummeln und grummeln die Hummeln“, Paul ist aufgeregt wie ein „Kolibri auf Koffein“, da gibt es die „Fleischwurststrumpfhose“. Es ist eine Wonne, auf allen Ebenen: inhaltlich, erzählerisch, sprachlich, bildlich – ein ebenso großes Kompliment gebührt Rán Flygenring, die eine liebenswert-lockige Maulina von großer Ausdruckskraft erschaffen hat, samt dieser 84 Topfpflanzen.
Mag Maulina auch aus ihrem Paradies Mauldawien vertrieben worden sein, für große und kleine Leser ist dieses Buch trotz all der traurigen Ereignisse das Paradies. Was für ein Glück, dass zwei bis drei paradiesische Fortsetzungen geplant sind…
Finn-Ole Heinrich/Rán Flygenring: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich, Hanser, 2013, 176 Seiten, ab 10, 12,90 Euro