Die Königinnen als visuelles Feuerwerk

Königinnen

Normalerweise besprechen wir auf dieser Plattform keine Geschichte zwei Mal, doch nun muss es sein. Denn seit Kurzem liegt die Graphic Novel Die kleinen Königinnen von Magali Le Huche vor. Dabei handelt es sich um die graphische Visualisierung des Romans Die Königinnen der Würstchen von Clémentine Beauvais, der Mitte der 2010er Jahre erschienen ist und damals mit dem LUCHS ausgezeichnet wurde. Heute ist dieses Buch leider vergriffen. Umso schöner, dass diese fulminante Geschichte nun wieder zu lesen und zu bestaunen ist.

Gemeinsames Schicksal

Zur Erinnerung: Mireille, Astrid und Hakima teilen sich die zweifelhafte Ehre, in ihrer Schule von ihrem Mitschüler Malo zur »Wurst des Jahres« gekürt worden zu sein. Damit bezeichnet der Junge die hässlichsten Mädchen der Schule und postet das Ganze natürlich breitenwirksam im Internet. Es ist eine an Gehässigkeit kaum noch zu übertreffende Aktion, über die sogar die Presse berichtet, jedoch ohne die Mädchen selbst dazu zu befragen.

Doch die drei »Würste« tun sich zusammen, zunächst eigentlich nur, um sich gemeinsam auszuheulen und zu trösten. Doch schnell wird daraus ein Road-Trip der besonderen Art. Die drei radeln quer durch Frankreich nach Paris, wo am französischen Nationalpalast im Élysée-Palast das Sommerfest der Präsidentin stattfinden soll. Und jede der drei hat einen guten Grund, diese Party zu crashen. Mireille will ihren leiblichen Vater, den Ehemann der Landeschefin, kennenlernen, Astrid ihre Lieblingsband live erleben und Hakima den General zur Rede stellen, der dafür verantwortlich ist, dass ihr Bruder Kader im Krieg beide Beine verloren hat.

Ideenreichtum und Mut

Allerdings ist so eine Reise ohne Geld kaum zu machen. Die Mädels sind jedoch nicht auf den Kopf gefallen und so entwickeln sie einen Plan: Mit dem Fahrrad und einem Anhänger werden sie durchs Land radeln und während der Tour – ja, genau – Würstchen verkaufen. Hakimas Bruder wird sie als Aufsichtsperson im Rollstuhl begleiten. Ideenreichtum, Unternehmensgeist und Mut treffen hier aufeinander.
Was dann folgt, ist abgesehen von der anfänglichen Anstrengung des Radfahrens – die drei sind nicht gerade sportlich, was Mireilles Mutter ganz böse kommentiert: »Das strafft die Oberschenkel.« – ein Triumphzug. Denn das Unternehmen der Mädchen spricht sich im Netz und in den Medien herum.

Graphische Liebeserklärung an die Königinnen

In ihrer Graphic Novel hat Magali Le Huche diese drei Heldinnen in einem etwas schrägen, aber sehr passenden Stil in in Szene gesetzt. Geht es anfänglich und oberflächlich um Schönheit, so ist hier nichts wirklich schön dargestellt, sondern bunt und vielfältig wie das Leben eben so ist. Die Tiefe der Figuren findet sich in den knackigen und selbstbewussten Dialogen – aus der Übersetzung von Annette von der Weppen – wieder, ebenso wie die Dramen und Verletzungen, die bereits Kinder erleben müssen. Den Herausforderungen des Lebens, einschließlich der Loslösung von den Erziehungsberechtigten, stellen sich Mireille, Astrid und Hakima gemeinsam, was sie zu einer starken Gemeinschaft zusammenschweißt.
Die Freundschaft, die zwischen den drei Mädchen entsteht, wirkt empowernd auf junge Leserinnen, die sich in diesen harten Internet-Zeiten gegen Mobbing und Body-Shaming wehren müssen. Beauvais und Le Huche zeigen in dieser Kombination aus einer fesselnden Story und coolen Illus nonchalant, wie schnell sich die Dinge im Leben und im Netz drehen können, wie zweischneidig und vergänglich Ruhm sein kann und wie viel wichtiger wahre Freunde im Leben sind, mit denen man Höhen und Tiefen teilen kann.

Vielleicht wäre dies der richtige Moment für den Carlsen Verlag eine Neuauflage des Romans von Beauvais herauszubringen, denn diese Geschichte hat nichts an ihrem Biss und ihrer Message verloren, sondern ist aktueller denn je.

Magali Le Huche: Die kleinen Königinnen, nach dem gleichnamigen Buch von Clémentine Beauvais, Übersetzung: Annette von der Weppen, reprodukt, 2025, 156 Seiten, ab 13, 29 Euro

Vier Schutzheilige namens John, Paul, George und Ringo

Wo auf der Schwelle vom Kind zum Teenager sich das Mädchen Magali befindet, kann sie nicht so genau sagen. Aber wo sie definitiv auf keinen Fall sein möchte, weiß das Nowhere Girl absolut und ohne Zweifel: In der neuen Schule.
Das sagt der Elfjährigen sogar ziemlich bald ihr Körper ganz unmissverständlich: Erst fällt sie vor der versammelten Klasse in Ohnmacht. Dann kotzt sie jeden Morgen, wenn sie auch nur in die Nähe der gefürchteten Schule kommt.

Vom Ranzen erdrückt

So beginnt Magali Le Huche ihren umwerfenden, autobiografischen Comic Nowhere Girl. Paris in den 1990er Jahren, die junge Magali kommt auf die weiterführende Schule, wo auch ihre große Schwester ist. Schon bald wird das verspielte Mädchen mit den Pippi-Langstrumpf-orangeroten Haaren von selbstauferlegtem Perfektionismus und den Leistungsforderungen unsensibler Lehrkörper zunehmend erdrückt. Immer größer und schwerer wird der Ranzen auf ihrem Rücken. Sie verschwindet fast unter der übermenschlich schweren Last, die sie auf dem geradezu höhnisch sanftrosa kolorierten Schulweg schleppt. Flächiges Rosa ist neben Magalis roten Haaren die einzigen Farben auf den schwarz-weiß gezeichneten Panels der ersten Seiten. Die gestalterisch wahrscheinlich nicht ganz zufällig an ein anderes, allerdings ungleich unbekümmerteres und lebenslustigeres Mädchen ihres Alters erinnern – Kay Thompsons fabelhafte Eloise in Paris, ein Klassiker aus den 1950er Jahren.

Diagnose: Schulphobie

Magalis Eltern sind beide Experten für kranke Seelen, die Mutter Psychoanalytikerin, der Vater Phonetiker, der Stotternden und anderweitig Sprachgehemmten das Sprechen beibringt. Doch bei der eigenen Tochter sind sie ratlos. Zumal doch die Ältere die Schule problemlos, sogar mit Bravour und Spaß wuppt. Was tut man mit einem Mädchen, das unerklärliche Angst vor der Schule hat. Eine Schulpsychologin gibt der Sache sogar eine solide wissenschaftliche Diagnose: Schulphobie. Allerdings ohne eine wirkliche Lösung anbieten zu können, außer – Vorteil des französischen Schulsystems – der Schulpflicht per Fernunterricht von zu Hause nachzukommen, was per zugeschicktem Material funktioniert.

Schockverliebt in nie zuvor gehörte Musik

Und dann, eines Tages, entdeckt Magali ganz andere, bisher noch nie gehörte Musik: die der Beatles. Und ein psychedelisches Feuerwerk an Farben und fantastischen Figuren fließt über die Seiten. Magali ist schockverliebt in die Melodien und Stimmen. Eine Liebe, die ihr ganzes Leben verändern wird. Sie flüchtet sich in wohlklingenden Harmoniegesang und schräge Parallelwelten, geht mit dem Yellow Submarine auf Tauchstation und entflieht ihren Ängsten. Nebenbei wird sie zur Expertin, liest alles über die Fab Four. Und fällt ihrer Umgebung auch ein bisschen auf die Nerven mit ihrem unerschöpflichem kuriosen Wissen, das sie leidenschaftlich jedem kundtut.

Die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer

John, Paul, George und Ringo werden zu Magalis Schutzheiligen. Wobei sie alle vier gleich wertschätzt, den einen wegen seiner bodenständigen Art, den anderen wegen der frechen, unbekümmerten oder auch zurückhaltenden Natur. Die klassische Frage Beatles oder Stones stellt sich für sie nie, ebenso wenig die, ob man John oder Paul lieber mag.
Ihr Körper verändert sich, sie bekommt ihre erste Periode, die behütete Zeit des Fernunterrichts zu Hause endet nach zwei Jahren – doch die Beatles bleiben ihre treuen Beschützer. Durch die Bilder in ihrem Kopf entdeckt die junge Magali für sich auch das Zeichnen – eine Leidenschaft und Berufung, die die französische Comickünstlerin schließlich zu ihrem Beruf macht.

Nowhere Girl ist eine zauberhafte Geschichte vom Ende der Kindheit – und wie man sich trotzdem Fantasie und das Spielerische bewahrt. Von den Beatles lernen, heißt nicht nur richtig gut Englisch lernen, die Songtexte haben sich bei vielen unvergesslich ins Gedächtnis gegraben.
Von den Beatles lernen heißt manchmal auch fürs Leben lernen.

Magali Le Huche: Nowhere Girl, Übersetzung: Silv Bannenberg, Reprodukt, 120 Seiten, ab 11, 24 Euro