Zeit ist relativ

Zeit ist entscheidend, Zeit ist das wesentliche Element der Interpretation. Ich starte die Uhr. Jedoch bleibt anders als die Uhr meine zweite Hand manchmal stehen, das heißt, die Zeit bleibt stehen. Erst wenn ich mich entscheide, die Hand zu heben, hat die Zeit die Erlaubnis fortzufahren in ihrem leichten, heiteren Lauf«, sagt Cate Blanchett als Tár im gleichnamigen Film über den tiefen Fall einer Stardirigentin. Es ist auch die Vermessenheit, über die Zeit bestimmen zu können, die zum ihrem Absturz führt.

Das Wesen der Zeit ist Interpretation

Einen viel spielerischen, ja leichten, heiteren Umgang mit dem Phänomen der Zeit hat das entzückende Bilderbuch Zeit ist eine Blume der Kanadierin Julie Morstad. Mit bunten Zeichnungen voller Witz und Verstand zeigt die Illustratorin, dass umgekehrt das Wesen der Zeit Interpretation ist: Mal scheint sie schier endlos gedehnt und zäh wie eingetrockneter Sirup. Dann wieder verfliegt sie viel zu schnell, zerrinnt und ist nicht greifbar wie einzelne Schneeflocken oder am Himmel dahintreibende Wolken.

Manchmal ist sie so schön, dass man sie anhalten möchte

Mal bewegt sie sich im Kreis und man steckt in einer Zeitschleife, in bekannten Mustern, endlosen Wiederholungen und Déjà vus. Die Zeit rast oder schleicht. Sie fehlt, wenn man verspätet zum Bahnhof hetzt und der Zug pünktlich abfährt. Oder die Schicht beginnt. Oder die Arbeit fristgerecht abgeliefert werden muss. Dann hat man viel zu viel Zeit, wenn das Flugzeug nicht startet oder wenn man im Wartezimmer hockt und kein gutes Buch dabeihat. Die Zeit hat Risse und Lücken. Und manchmal ist sie so schön, dass man sie tatsächlich anhalten möchte.

Der Kiesel war einmal ein Berg

Morstad macht in ihren Zeichnungen und Collagen Zeit aufs Allerschönste sichtbar. Wie aus einem Samen eine Blume wird. Und diese Blume verwelkt und ihre Blätter verliert. Wie ein Baum wächst und immer größer wird und irgendwann den kleinen Menschen, der ihn gepflanzt hat, um Längen überragt. Ein kleiner Kiesel, der einmal ein riesiger Berg war. Haare, die langsam lang werden und mit einem schnellen Schnippschnapp fällt die gewachsene Zeit ab.

Fühlbar gemacht

Farblich konzentrieren sich die klaren Illustrationen auf ein samtiges Fuchsiarot oder warmes  Brombeerrosa, dazu gedeckte Grünvarianten, ein paar Erdtöne, etwas Orange. Morstads Bilder machen die Zeit auch fühlbar. Ein über Nacht perfekt gewebtes Spinnennetz ist kaum sichtbar, doch sein filigranes Muster ist in zarten, weißen Linien auf das weiße Papier aufgetragen. Auch der Einband fühlt sich pfirsichhautweich an.
Julie Morstad ist eine hinreißende Reflexion über das Wesen der Zeit in allen Spielarten gelungen.

Zeit lässt sich auch der Troll im neuen Buch von Mac Barnett und Jon Klassen. Aber nicht aus Gelassenheit, sondern blanker Gier. Drei Ziegenböcke namens Zack können ihn deshalb sehr raffiniert austricksen. »Der Troll saß im Schlamm, dem Schutt und dem Müll, lauschte und wartete und hoffte, jemand werde die Brücke überqueren.« Der Troll ist echt ne fiese Möpp, fast könnte er einem leid tun, in all diesem ekligem Dreck. Und tatsächlich kommt ein kleiner Ziegenbock daher. Gerade als der Troll seine Zähne in das niedliche Tier schlagen will, verrät dieses ihm ein Geheimnis: »Bald kommt mein großer Bruder hier vorbei und der ist viel dicker als ich und schmeckt auch besser.«

Geschichte über die Gier nach immer mehr

Tatsächlich lässt der Troll den kleinen Zack laufen. Und auch den zweiten Ziegenbock mit Namen Zack. Weil der ihm wiederrum den noch größeren Bruder schmackhaft macht. Mac Barnett erzählt eine norwegische Sage neu, als moderne Geschichte über Gier und die Sucht nach immer größeren Happen. Dabei ist die so geschickt von den schlauen Ziegen ausgenutzte Schwäche des Trolls eher ungewöhnlich: Nicht nur kleine Kinder, auch die meisten Erwachsenen nehmen lieber sofort, was sie kriegen können, anstatt sich auf größere Summen oder mehr Schokolade zu gedulden, wie man aus Versuchen weiß. Sprichwörtlich lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Eigentlich schön, nur manchmal ist ein Troll im Weg

Mit feinem felligem Strich und viel Spaß an schmutzigen Details hat Jon Klassen die kluge Fabel in Szene gesetzt. Aus den für den kanadischen Illustrator typischen nur aus einem flachen, weißen Oval mit schwarzer Pupille bestehenden Augen blitzt mal der schlaue Schalk und die vermeintliche Arglosigkeit, mal blicken sie hinterlistig und schließlich echt verblüfft.
Klassens Vorliebe für Brauntöne und Schwarz passt zum schmuddeligem Ambiente und dem ollen Gierschlund. Darüber zeichnet sich aber am Himmel ein ganz zartes Rosa und Hellblau ab. Eigentlich ist die Welt ganz schön und die Wiesen saftig. Nur manchmal ist ein Troll im Weg.

Julie Morstad: Zeit ist eine Blume, Übersetzung: Kathrin Bögelsack, Bohem, 56 Seiten, 24 Euro, ab 4

Mac Barnett, Jon Klassen: Drei Ziegenböcke namens Zack, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd, 48 Seiten, 18 Euro, ab 5

Die Eleganz des Stinktiers

51jaiKqgejL„Als ich mein Haus verließ, saß ein Stinktier vor der Tür.“ Ebenso überrascht wie der Erzähler gerät man in die skurrile, zunehmend gruselige und doch ganz bezaubernde Geschichte einer grotesken Verfolgungsjagd. Gleichzeitig beginnt so eines der schönsten Bilderbücher dieses Jahres. Und das obwohl es überhaupt nicht kunstvoll, großspurig und auf den ersten Blick pädagogisch wertvoll daherkommt.

Das Stinktier heftet sich dem befrackten, mit seiner Brille und Frisur an den jungen Woody Allen erinnernden Helden an die Fersen; egal wo er langgeht, ob er rennt oder trödelt, es ist immer da, mal hinter oder auch neben ihm. Das ist anfangs noch spaßig, wird aber immer unheimlicher. Es hilft auch nicht, den Verfolger zur Rede zu stellen: „Ich drehte mich zu dem Stinktier um. Ich fragte: ,Was willst du von mir?’ Das Stinktier antwortete nicht. Das Stinktier war ein Stinktier.“

Natürlich ist das Stinktier viel kleiner als der Verfolgte, und es tut nichts, es stinkt auch gar nicht. Und doch kriecht die Paranoia in die Geschichte, Hitchcock lässt grüßen, bei den Vögeln fing auch alles ganz harmlos an. Schließlich treibt blanke Panik den Helden auf seiner surreal-slapstickhaften Flucht durch die Oper, über Friedhöfe und Rummelplätze, in Sackgassen und schließlich in die Kanalisation. Unter der Stadt hetzt er ohne Pause weiter, schüttelt den Verfolger ab, bezieht ein neues Haus, beginnt ein neues Leben …

Das ambivalente Ende der wunderbar absurden Geschichte, das der Anfang einer anderen sein könnte, sei hier nicht verraten. Der amerikanische Kinderbuchautor Mac Barnett ist keiner der definitiven happy endings. Wie zum Beispiel in seinem actiongeladenen Comic mit dem selbstredenden Titel Oh No! Or How My Science Project Destroyed The World: Darin erfindet ein nerdiges Mädchens einen tollen Roboter, der leider die ganze Welt in Schutt und Asche legt – das kann man nicht mehr heil machen. Mac Barnett erzählt in kurzen, präzisen Sätzen, seine Worte sind klar und auf den Punkt gebracht – und von Barbara Küper ebenso prägnant ins Deutsche übersetzt.

In Patrick McDonnell hat Barnett einen kongenialen Illustrator gefunden: Die größtenteils in schwarz-weiß gehaltenen Bilder, nur vereinzelt mit roten Farbtupfern versehen, wie zum Beispiel der Nase des Stinktiers und Fliege des Helden, wirken wie aus der Zeit gefallen und doch zeitlos schön. McDonnells Stil, den einige vielleicht von seinen Comicstrips Mutts kennen, erinnert an einen anderen, vor einigen Jahren vom Berlin Verlag wiederentdeckten Klassiker: Eloise in Paris. Mit leicht anarchistischem Charme erobert hier eine kleine New Yorkerin die Stadt der Lichter. Und in beiden Büchern spielt die Urbanität, das Großstadtleben eine wichtige Rolle.

McDonnells gibt vor allem dem ursprünglich nicht großstädtischen Stinktier wahre Eleganz. Von wegen die befrackten Pinguine, sein Stinktier hat wirklich Klasse: in stilvollem schwarz-weißen Streifenlook, den buschigen Schwanz wie eine lässig getragene Pelzstola hinter ihm herwehend. Blöd, dass es im Deutschen nur ein Wort gibt, das die unangenehme Seite des hübschen Tiers betont. Das englische „skunk“ klingt natürlich nicht besser,„Gestank“ schwingt auch hier mit. In Frankreich heißt das Buch lustigerweise „Das Stinktier, das mich liebte“. Nur „Stinktier“ als Titel verfängt im Land der Parfümeure wohl nicht; dann lieber ein scheinbares James-Bond-Zitat.

Die stilvoll schwarz-weißen Bilder kippen nur einmal ins grell Bunte. Und zwar während der vermeintlich besseren, weil wieder stinktierlosen Zeit. Instinktiv merkt man, dass in der schicken Wohnung, zwischen den aufgekratzt feiernden Partygästen in all ihrer Farbigkeit etwas – oder jemand – fehlt.

Was oder wer? Das kann jeder für sich interpretieren. Ist es das anhängliche, jüngere Geschwisterkind? Oder etwas Abstraktes wie Träume oder eine Sehnsucht, die man sich nicht traut auszuleben, die einen aber nicht loslässt, weil ohne sie das Leben hohl und sinnlos ist. Oder steht das Stinktier für den  Freund aus Kindertagen, der einem mittlerweile peinlich ist, weil er nicht zu den neuen coolen, hippen Freunden passt und sich nicht für die Modetrends und den nächsten heißen Scheiß interessiert. Stattdessen ist er verlässlich, treu und bodenständig, und nicht zuletzt von subtiler, erst auf den zweiten Blick erkennbarer Eleganz.

Das Stinktier von Mac Barnett und Patrick McDonnell ist für Leser jeden Alters eine Entdeckung und hat das Zeug zum modernen Klassiker, mit der Betonung auf Klasse!

Elke von Berkholz

Mac Barnett: Das Stinktier, Illustration: Patrick McDonnell, Übersetzung: Barbara Küper, Tulipan 2016, 44 Seiten, jedes Alter, 13 Euro