Der hellsichtige Meister

terzaniVor Jahren, als ich noch ziemlich neu im Übersetzer-Geschäft war, schlug mir meine italienische Freundin M. vor, doch die Bücher von Tiziano Terzani zu übersetzen. Ich hatte keine Ahnung, wer der Mann war, stellte aber ganz schnell fest, dass seine Bücher bereits alle übersetzt waren. Terzani verschwand wieder aus meinem Bewusstsein, hatte ich doch anderes zu tun – und diese Journalistengröße Terzani war damals eh eine Nummer zu groß für mich.
Aber wie es im Leben so ist, man begegnet sich irgendwie doch immer zweimal, und so bekam ich in diesem Sommer die Anfrage, ob ich die Tagebücher von Tiziano Terzani lektorieren könnte.

Trotz der sportlichen Vorgabe mehr als 700 Manuskriptseiten in zwei Monaten zu bearbeiten, habe ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen. Und einen so intensiven Sommer der gedanklichen Reise in Raum und Zeit erlebt, wie noch nie zuvor.

Terzanis Aufzeichnungen setzen 1981 ein, als er gerade für den SPIEGEL ein Büro in Peking eröffnet hat. Auf diesen Seiten offenbart er seine Betrachtungen, die nicht in seine bereits veröffentlichten Büchern eingeflossen sind. Kürzere und längere Einträge wechseln sich ab, nicht jeden Tag schreibt TT – wie er später die Briefe an seine Frau Angela signiert –, doch als Leser taucht man fast augenblicklich in seinen Kosmos und seine Zeit ein. Man erlebt seine Ausweisung aus China, sein Unbehagen in Japan, seine Kritik an Konsum und Anpassung, sein unermüdliches Streben im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Mehr und mehr hadert Terzani jedoch mit der Welt, dem raschen Wandel, der Globalisierung, der Gleichgültigkeit. Er möchte sich zurückziehen, als Namenloser irgendwo unerkannt leben. Immer wieder jedoch schimmert der eitle Journalist durch, der sein Business genau kennt, nach Aufmerksamkeit heischt und gleichzeitig abgestoßen ist von der Oberflächlichkeit dieser Medienwelt.

Terzani ist ständig unterwegs. Hongkong, Bangkok, Ban Phe in Thailand, dazwischen immer wieder nach Hause, nach Florenz und Orsigna zur Familie, dann schnell wieder zurück nach Asien, nach Islamabad, Neu Dehli oder Dharamsala. Er schreibt, er hadert und zieht sich in den Himalaja zurück, meditiert, versucht, dem weltlichen Leben zu entsagen, nicht immer mit Erfolg. Die Ereignisse vom September 2001 holen ihn vom Berg zurück. Obwohl er da schon an Krebs erkrankt ist, wirft er sich noch mal mitten ins Weltgeschehen, beobachtet die Vorgänge in Pakistan. Unzählige Geschichten erzählt er, sehr persönlich, sehr offen. Jede Zeile zeugt von seiner unbändigen Lebenslust und Lebenssucht. Terzanis Aufzeichnungen enden im April 2003, im Juli 2004 erliegt er seinem Leiden. Für alle Kenner von Terzanis Werken sind diese Tagebücher quasi der Blick hinter die Kulissen, der Blick auf den Journalisten Terzani, den Ehemann, den Vater, den Reisenden, den Krebspatienten, den Weisen, den Namenlosen.

Ich hatte vor diesem Auftrag noch nie viel mit Tagebüchern zu tun gehabt oder viele gelesen. Doch hier hat sich mir die ganze Faszination dieses Genres erschlossen. Das ist mehreren Faktoren zu verdanken: der schillernden Persönlichkeit von Terzani, seinem extrem umtriebigem Leben, seiner klaren Sprache, seiner kurzweilige Erzählart, seiner Widersprüchlichkeit, aber auch seiner Hellsichtigkeit, mit der er gesellschaftliche Zustände vorausgesehen und beurteilt hat, mit denen wir heutzutage kämpfen. Seine Sicht auf unseren heutigen Irrsinn hätte mich brennend interessiert. Ein wenig ahnt man, was er davon gehalten hätte. Ich habe es während des Lektorierens bedauert, seine Reportagen nicht schon zu seinen Lebzeiten gelesen zu haben, und habe mir vorgenommen, die Lektüre seiner anderen Bücher, so schnell es geht, nachzuholen.

Auch die Arbeit an diesem Text an sich war auf den unterschiedlichsten Ebenen ein Vergnügen. Zur inhaltlichen Bereicherung kam die vorzügliche Übersetzung von Barbara Kleiner, die mir das Lektorieren sehr erleichtert hat. Eine wertvolle Erfahrung war für mich darüber hinaus, dass ich auch den Auftrag hatte, den Anmerkungsapparat für die deutschen Leser anzupassen. Da ich dabei  quasi freie Hand hatte, konnte ich für die Anmerkungen etliche Punkte neu recherchieren und erweitern und so noch ein Quentchen mehr zu dem Buch beitragen.

Wenn mich TT jetzt also vom Buchcover mit diesem irgendwie verschmitzt-weisen und selbstbewussten Blick anschaut, freue ich mich noch einmal extra, dass ich diesen Sommer auf eine ganz eigene Weise mit dem Mann verbracht habe, den mir vor so vielen Jahren M. aus Florenz ans Herz gelegt hat.

Tiziano Terzani: Spiel mit dem Schicksal. Tagebücher eines außergewöhnlichen Lebens, Übersetzung: Barbara Kleiner, DVA, 2015, 576 Seiten, 22,99 Euro

Cinemascope-Reise

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Es gibt Reisebücher, die punkten mit genauen Infos zu Sehenswürdigkeiten, Unterkünften, Klima und landestypischen Sitten. Das ist wichtig, und das möchte ich auf gar keinen Fall missen. Aber es gibt auch Reisebücher, die überraschen mit ganz anderen Dingen – mit Atmosphäre, genialen Bildern und charmanten Details. Wenn sich das dann auch noch in einem Comic wiederfindet, bin ich hin und weg. Geschafft hat das der Reise-Comic Was kostet ein Yak? von Philipp Cassirer. Am liebsten hätte ich jetzt geschrieben: „Nach Lektüre verreist …“ In diesem Fall Richtung Nepal, Indien, Himalaya … Doch da das gerade nicht geht, erfreue ich mich an Cassirers Bildern. Und beschränke mich darauf, dieses Buch am 60. Jahrestag der Erstbesteigung des Mount Everest durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay vorzustellen.

Der Grafiker hat nach seinem Studium mit zwei Freunden eine dreimonatige Reise unternommen – auf der Suche nach einem Diplomthema und natürlich, um ein bisschen zu chillen. Im ligne-claire-Stil mit schwarzen Konturen und realistischen Details erzählt Cassirer von seinen Reiseerlebnissen in der Himalaya-Region. Angefangen bei unbequemen Schlafpositionen in Flugzeugen, über allgegenwärtige Taxi-Unternehmer an den Zielorten, Verstopfung am Berg, notgeile Italiener, einheimische Menschentypen und Freelancer, Kamikaze-Busfahrer, Dealer und Bartmoden.
Und so laufen die drei Helden schließlich mit den abgefreaktesten Bärten durch den Himalaya, die sie eher wie Porno-Darsteller aus den 1970er Jahren erscheinen lassen, als neugierige Studenten aus Hamburg. Das kommt alles sehr cool daher. Cassirer erzählt seine Geschichte auf Deutsch und Englisch, was die Authentizität der Erlebnis noch erhöht, vom Leser allerdings einigermaßen ordentliche Englischkenntnisse abverlangt (was durchaus vertretbar ist).

Bei den Panels wechselt Cassirer zwischen Einzelpanels mit abgerundeten Ecken (konsequent 70er Jahre) oder aber mit querformatigen, ganzseitigen Bildern. Dort gehen manche Szenen in einander über oder zeigen eine einzige Ansicht von atemberaubender Landschaft. Schneebedeckte Bergspitzen vor tiefblauem Himmel. Man bekommt sofort Sehnsucht.
Umgekehrt überkommt den Betrachter bei den Darstellungen von Verkehrsregelung und Rushhour Beklemmung in Anbetracht des Chaoses auf dem Subkontinent. Das man in der Detailfülle dann jede Menge Dinge entdecken kann, fällt einem spätestens nach dem zweiten Lesen auf.

Cassirer liefert einen Reisebericht mit allen Höhen und Tiefen, voller Anekdoten und Skurrilitäten, kaputten Mountainbikes, Gewaltmärschen, dubiosen Drogen. Im Nachwort berichtet er, dass er noch mal soviel hätte erzählen können, den Leser jedoch nicht langweilen wollte. Hätte er nicht. Manche Szenen hätte man eventuell weiter auserzählen können und die schlechte Tranceparty hätte sicherlich lustiges Bildmaterial hergegeben …

Zum Comic wird ein Internet-Code mitgeliefert, über den man sich die Geschichte bei Carlsen als PDF herunterladen kann. Auf Tablets oder farbigen E-Book-Readern kann man dann der Reise durch den Himalaya auch auf elektronische Art sehr gut folgen.

Auf jeden Fall ist dieser unverstellte Blick auf Indien, Nepal und Bangladesh ein Augenschmaus und die Selbstironie des Erzählers sehr charmant. Auf die nächste Geschichte aus der Feder bzw. dem Computer von Philipp Cassirer bin ich jedenfalls schon sehr gespannt – je mehr Seiten, desto besser…

Philip Cassirer: Was kostet ein Yak?  Von heiligen Kühen und heiligen Bergen, Carlsen Comics, 2013, 64 Seiten, 14,90 Euro

Indien hautnah

Wanderbücher haben sich in den vergangenen Jahren zu einer ganz eigenen Gattung entwickelt, dank … na, Sie wissen schon … Ich finde das ganz wunderbar, weil es mich selbst immer wieder anregt, wo ich demnächst langlaufen könnte. Eine ziemlich extreme Tour hat jetzt der Indologe und Journalist Oliver Schulz veröffentlicht.

Auf knapp 3000 Kilometern hat er Indien von Süden nach Norden durchquert, immer entlang des 78. Längengrads. 2007 und 2008 wanderte er in zwei Abschnitten von Kanyakumari bis nach Dehra Dun im Himalaya und folgte dabei den Spuren der Geodäten William Lambton und George Everest. Schulz schildert in seinem Buch neben den Leiden und Wonnen des Wanderers überaus bunt die Alltagsgeschichten eines entmystifizierten Indiens sowie die Historie der Landvermessung durch den Briten Lambton und den Waliser Everest Anfang des 19. Jahrhunderts.

Dabei erlebt Oliver Schulz Armut, Gastfreundschaft, Korruption, Affen im Hotelzimmer, besichtigte ein Open-Air-Gefängnis und wird als sonderbarer Exot um ein Autogramm gebeten – er unterschreibt mit H.P. Kerkeling

Ich habe Oliver Schulz ein paar Fragen zu seiner abenteuerlichen Tour gestellt (die ich sehr faszinierend finde, aber nie im Leben nachahmen werde …).

Bist du vor deiner Indientour schon mal weitgewandert und wusstest du, was körperlich auf dich zukommt? Vor 20 Jahren bin ich mehrfach lange Touren von Süd nach Nord durch den Himalaya und zurück gelaufen. Aber in den Jahren vor Indien zu Fuß war ich dann nur noch in den Alpen und Pyrenäen unterwegs. Ich kenne die Materie also gut, das Extreme allerdings nur aus weit zurückliegender Erfahrung.

Wie hast du dich fitnesstechnisch auf die langen Touren vorbereitet? 45 km am Tag bedeuten ca. 10 Stunden wandern, wie hast du das trainiert? Wie verrückt: Joggen, wandern, schwimmen, Rad fahren, Sauna. Das volle Fitness-Programm. Es war dann schlimmer als erwartet, aber das lag wesentlich am Klima.

Warum hast du die Tour allein gemacht? Wie hat sich das auf den knapp 3000 Kilometern angefühlt? Ich komme ganz gut mit mir selbst klar. Tagsüber war es angenehm: Niemand, auf den ich warten muss, niemand, der mir davonläuft. Abends war es oft … einsam.

Was für Kartenmaterial hattest du dabei? Ich hatte einen dicken Stapel sehr genauer amerikanischer Fliegerkarten dabei, die sich aber als nutzlos, weil veraltet erwiesen. Viele Orte trugen veränderte Namen. Siedlungen waren gewachsen oder aufgegeben worden. Ich bin dann auf eine handelsübliche Nelles-Straßenkarte in großem Maßstab umgestiegen und habe die mit den Informationen der Einheimischen kombiniert. Damit habe mich nicht weniger oder öfter verlaufen als mit den Fliegerkarten.

Um dir all die Einzelheiten deiner Erlebnisse so genau zu merken, wie viele Blöcke hast du vollgeschrieben? Wann hast du die Notizen gemacht?  Abends. Auf’m Bett, wenn’s eins gab. 14 Notizblöcke. Bruce Chatwin, den ich hier bemühen möchte, ohne zu wissen, ob es mir zusteht, hat einmal gesagt: „To lose a passport was the least of one’s worries: to lose a notebook was a catastrophe.“ Stimmt: Ich habe ich besser auf meine Notizblöcke aufgepasst als auf Portmonee und Pass.

Wusstest du auf der Tour schon, dass du ein Buch darüberschreiben würdest? Ja, es war von Anfang an ein professionelles Projekt. Auch wenn ich noch keinen Verlag hatte.

Hat die Wanderung dich verändert? Hm, im Kern nicht. Man wird nicht weicher davon. Aber das ist eine graduelle Veränderung, die das Leben mit sich bringt …

Hat sich dein Blick auf Indien verändert? Im Herzen Indiens war es noch trister, als ich befürchtet hatte. Andererseits haben manche Besuche – etwa bei der Nehru-Nichte, Frau Sahgal, oder bei der Familie von Mohammed Khuddus in Hyderabad – meine Hoffnung bestärkt, dass Indien bei allen Extremen eine langfristig stabile gesellschaftliche und politische Entwicklung vor sich haben dürfte.

Was hat dich am meisten schockiert? Die Armut im Süden (Tamil Nadu) war fürchterlich. Und der Grad, in dem die Hindu-Fundamentalisten inmitten der Gesellschaft agieren, hat mich schockiert.

An welchem Ort der Wanderung wärst du gern länger geblieben? Am vorletzten: Dehra Dun. Vielleicht ziehe ich dahin, wenn ich alt bin. Das ist die richtige Mischung aus Moderne und Tradition, aus Stadt und Land.

Du warst die ganze Zeit von mehr oder minder extremer Religiosität umgeben, hat dich das irgendwie in deiner eigenen (Nicht-)Religiosität beeinflusst? Es hat mich darin bestärkt, dass Religion weit häufiger dafür benutzt wird, um Menschen gegeneinander aufzubringen – als um sie zu einen.

Indien wird in wenigen Jahren das bevölkerungsreichste Land der Erde sein, was hat der Westen davon zu erwarten? Indien ist mir von allen Schwellenländern der liebste Partner. Es gibt wenig Grund, Angst vor diesem Land zu haben.

Gibt es etwas, dass wir – außer Yoga und Ayurveda – von den Indern lernen können? Gleichmut, Demut, das Leben nicht so ernst zu nehmen.

Vermisst du irgendetwas von dem Subkontinent? Das Chaos, das einen lehrt, sich durchzukämpfen. Das Essen. Eine gewisse Schlafmützigkeit (wir nennen das hier: Gemütlichkeit). Den allgegenwärtigen, leichten Geruch von Mottenkugeln.

Planst du neue Indien-Projekte? Ja, einen historischen Indien-Tibet Roman.

Und, gehst du weiter weitwandern? Immer wieder. Zuletzt in Südtirol.

Oliver Schulz: Indien zu Fuß. Eine Reise auf dem 78. Längengrad, DVA, 2011, 287 Seiten, 19,99 Euro