Kann man zu Erich Kästner noch etwas sagen, was nicht längst schon gesagt wurde? Wahrscheinlich nicht. Aber man kann und sollte immer wieder an ihn erinnern. Und das will ich heute tun, denn vor 40 Jahren starb Kästner in München, 75-jährig. In memoriam habe ich kurzerhand noch einmal Das fliegende Klassenzimmer und Das doppelte Lottchen gelesen.
Das Mutmacher-Buch über Johnny Trotz, Uli, Matze, Justus und den Nichtraucher stammt aus dem Jahr 1933. Kästner verpackt darin nicht nur die damals herrschende Armut in der Arbeiterschaft, sondern auch die Macht der Freundschaft und den Mut zu gesunden Menschenverstand. Gerade dieser Mut liegt Kästner am Herzen. Denn ohne Mut und Klugheit lässt sich das Leben nicht gut bewältigen. Das versucht er, den Kindern eindrucksvoll begreiflich zu machen. Mutig ist es demnach nicht, mit einem Regenschirm vom Turngerüst zu springen und sich dabei ein Bein zu brechen, nur weil man sonst als feige angesehen wird. Viel mutiger – und klüger – ist es, sich dem Druck der Mitschüler zu entziehen und sich im rechten Moment den Erwachsenen anzuvertrauen. Dieses Anti-Mobbing-Konzept gilt im Grunde auch heute noch. Womit man wieder bei dem unschlagbaren Punkt von Kästners Büchern ist: Selbst wenn sie über 80 Jahre alt sind, steckt in ihnen eine Aktualität, die immer wieder neu verblüfft.
Ähnliches gilt für Das doppelte Lottchen. 1949 geschrieben ist das Lottchen vielleicht nicht ganz so „Problem belastet“. Hier erzählt Kästner die unterhaltsame Zwillings-Tausch-Geschichte um Luise und Lotte. Hinter der oberflächlich lustigen Verwechslungskomödie steckt das Drama von Scheidungskindern. Ist Scheidung per se schon meist eine unschöne Angelegenheit, so toppt Kästner das Elend noch, indem er die Zwillingsschwestern auseinander reißt, etwas, das uns heute unvorstellbar erscheint.
Auch hier hat Kästner ein Phänomen vorweggenommen, das heute immer mehr Familien betrifft, wird doch jede dritte Ehe geschieden. Jährlich stehen so in Deutschland über 130 000 Kinder vor zerbrochenen Familienverhältnissen. Kästner, der Moralist, der immer auf der Seite der Kinder steht, nimmt in seinem Roman die Eltern in die Pflicht. Das Wohl der Kinder hat bei ihm Vorrang vor den (Künstler)Wünschen der Eltern. So schenkt er Luise und Lotte ein herzerwärmendes Happy End.
Gibt es für die Scheidungskinder unserer Zeit meist nicht so einen glücklichen Ausgang, so können sie doch immer noch ein bisschen Trost und Rückhalt bei Erich Kästner finden. Und ohne das sollte kein Kind aufwachsen.
Erich Kästner:
Das fliegende Klassenzimmer, Illustrationen: Walter Trier, Dressler, 169. Aufl. 2012, 174 Seiten, ab 10, 12 Euro
Das doppelte Lottchen, Illustrationen: Walter Trier, Dressler, 156. Aufl. 2006, 175 Seiten, ab 10, 12 Euro