Einer von tausend Toden

1000TodeZur Frankfurter Buchmesse im Oktober wird die finale Fassung von Christiane Frohmanns Mega-E-Book-Projekt Tausend Tode schreiben erscheinen. In der Version, die im März erschienen ist, ist auch ein Text von mir zu finden. Für mich ist das jetzt Anlass genug, meinen Text hier noch einmal lesbar zu machen.

Der ICE fuhr pünktlich in München ab. Ich wollte nach Hause, nach Berlin, in die Stadt des Bling-Bling. So schnell wie möglich. Keine Zeit für Zwischenstationen. Nach Seminar-Besuch, viel Input, viel Wein, viel von allem, wollte ich wieder Alltag. Berlin war nur ein paar Zugstunden entfernt. Ich hatte zwei Sitze für mich allein. Alles gut.

Hinter Nürnberg nahm der ICE Fahrt auf, Franken sauste vorbei, als es plötzlich rumpelte, schepperte, ein Ruck durch den Zug ging. Vollbremsung. Halt auf freier Strecke. Fahrgäste stöhnten, tuschelten, Zugbegleiter zogen sich grellorange Warnwesten an. Noch bevor die Durchsage kam, war klar, dass es nicht schnell nach Berlin gehen würde.

Unfall mit Personenschaden, so die Umschreibung für das, was den Zug zum Halten gebracht hatte. Ein Mensch war zu Tode gekommen, ob freiwillig oder unfreiwillig wusste in diesem Moment niemand. Die Fahrgäste im Großraumabteil bedauerten den Zugführer, nicht schön so was, der Arme.

Ich schaute aus dem Fenster. Felder, am Horizont sanfte Hügel, ein Kirchturm, ein Dorf. Der Anblick kam mir bekannt vor. Mein langjähriger Freund T. wohnte mit Frau und zwei kleinen Kindern im schicken, neugebauten Haus hier. In diesem Dorf. Wäre ich in Nürnberg ausgestiegen, hätte ich noch einen Abstecher zu ihnen machen können. Jetzt saß ich in diesem Zug, auf freiem Feld, konnte nicht aussteigen. Ein Notfallseelsorger, in grellorangener Weste, ging durch den Zug, bot an zu reden, wenn Redebedarf bestünde. Ich schüttelte den Kopf, schaute aus dem Fenster. T. litt an Depressionen. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen. Hätte mich mal melden sollen.

Das Zugpersonal informierte über Lautsprecher, man erwäge eine Evakuierung in Busse. Auf der Landstraße reihten sich Polizei- an Krankenwagen. Es blieb ruhig im Abteil. In meinem Kopf schossen die Gedanken quer. Depression und Suizid lagen dicht beieinander. T.’s Haus lag gleich hinter dem Feld. Nein. Das konnte nicht sein. Er würde seine beiden Kinder nicht im Stich lassen. Nie. Er war bei der Arbeit, ganz sicher. Seine Frau auch. Da war bestimmt alles in bester Ordnung.

Die nächste Durchsage verkündete, die Staatsanwaltschaft habe den Zug freigegeben, der Ersatz-Zugführer sei eingetroffen, man würde nicht evakuieren, nur noch säubern und dann die Fahrt fortsetzen. Zu viel der Information, danke. Nach anderthalb Stunden fuhr der ICE weiter. Neunzig Minuten für einen toten Menschen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die restliche Fahrtzeit überstanden habe. In Berlin am Hauptbahnhof, zwischen all dem Bling-Bling, war mir schlecht. Der Zug, in dem ich gesessen hatte, hatte einen Menschen getötet. Zum ersten Mal im Leben kaufte ich einen Flachmann, leerte ihn, schwankte nach Hause. Hatte ich den Menschen also mitgetötet? War ich schuldig? Wieso fielen mir solche Fragen immer erst so spät ein. Ich hätte sie gern dem Notfallseelsorger gestellt. Hätte, hätte.

Ich traute mich nicht bei T. anzurufen. Suchte stattdessen im Netz nach Zeitungsnachrichten über den Vorfall. Ich fand nichts. Es gibt ein Schweigeabkommen zwischen Bahn und Presse, um Nachahmungstaten zu verhindern.

Zwei Tage später klingelte mein Handy, T.’s Name auf dem Display. Ich antwortete fröhlich, erleichtert, und hörte von einer unbekannten, schluchzenden Stimme, dass T. sich zwei Tage zuvor das Leben genommen hätte. Depressiver Schub. ICE aus Nürnberg. T. hatte sich mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln auf dem Gesicht auf die Gleise gestellt.

Die genauen Infos zu dem Projekt und die Downloadmöglichkeiten gibt es hier:

Christiane Frohmann (Hg.): Tausend Tode schreiben, EUR 4,99; FR 6,00

Die Facetten des Todes

1000TodeSeit ein paar Wochen tauchen in meinen sozialen Netzwerk-Accounts immer wieder Posts und Tweets zu einem E-Book-Projekt auf, das unter dem Namen Tausend Tode schreiben steht. Wochenlang habe ich die Hinweise immer wieder weggeklickt – was sollte ich mit so einem E-Book schon zu tun haben? – bis ich an einem freien Nachmittag mal genau nachgelesen und nachgedacht habe. Dann hat es Klick in meinem Hirn gemacht.

Hinter diesem Projekt von Verlegerin Christiane Frohmann steht die Idee, ein Bild vom Tod zu vermitteln, so wie er in unserer Gesellschaft in mannigfaltiger Art vorkommt und wahrgenommen wird. Tausend kurze Texte über persönliche Ansichten und Erlebnisse mit dem Tod sollen dafür gesammelt werden. In der aktuellen Ausgabe sind 350 zutiefst subjektive Geschichten, mal länger, mal kürzer, vereint.
Noch habe ich nicht alle gelesen. Man kann sie auch gar nicht alle in einem Rutsch lesen, zu anrührend und bewegend, zu traurig sind diese Texte oftmals. Da sterben Lebenspartner, Eltern, Verwandte, Freunde, am Alter, an schlimmen Krankheiten, gefallenen Kameraden wird die letzte Ehre erwiesen, man reist zu letzten Begegnungen, erlebt Unfälle und tödliche Zufälle, da kämpft man mit bürokratischem Wahnsinn beim Abmelden eines Telefonanschlusses, kämpft gegen Depressionen, macht sich auf den eigenen Tod gefasst.
Manchmal bleibt man als Leser sprachlos zurück, mit einem Kloß im Hals. Man kommt unwillkürlich ins Grübeln und ist doch irgendwie getröstet, weil diese Anthologie einem zwar mit aller Wucht das Unvermeidliche vor Augen führt, dabei aber zeigt, dass man nicht allein ist.

Tausend Tode schreiben gleicht einem anwachsenden Requiem. Es gibt den Zurückgebliebenen einen Raum, ihre Erinnerungen, ihren Schmerz zu teilen. Den Lesern liefert es ein facettenreiches Puzzle, das jenseits von theoretischem Philosophieren und religiösen Hilfskonstruktionen den Tod zeigt, wie er im Alltag vorkommt, wie er Teil unseres Leben ist.

Meine Geschichte habe ich nach einer schlaflosen Nacht schließlich auch hinzugefügt. Sie hat die Nummer 349.

Christiane Frohmann (Hg.): Tausend Tode schreiben, Frohmann Verlag, e-book, 2015, 4,99 Euro

Die Autoren- und Herausgeberanteile am Erlös gehen als Spende an das Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow.