Aufs Schönste stranden

Strand. Ein kurzes Wort, nur eine Silbe. Doch so verheißungsvoll. Strand – das löst ein Feuerwerk an Assoziationen und Erinnerungen aus. Wie der Duft von Sonnencreme. Erstaunlicherweise sind das Adjektiv und das Verb dazu eher negativ konnotiert: gestrandet, stranden. Merkwürdig.
Strand ist auf jeden Fall ein hervorragender Buchtitel. Deshalb hat Ximo Abadia sein wunderschönes Bilderbuch so genannt. Strand steht auf dem Cover in Weiß auf blauem Grund über einer zunächst abstrakt scheinenden Anhäufung von Kreisen in Rot, Grün und Weiß auf sattem Gelb. Mit schwarzen Strichen in Achtel unterteilt, sehen sie aus wie Orangen-, Zitronen- und Limettenscheiben.

Sonne, Möwen und Frühaufsteher

Die Farben sind programmatisch und eine gute Einstimmung: Abadia verwendet sattes Sonnengelb, Rot in Variationen von Orange über Magenta bis Ziegel, sowie Blau, akzentuiert die Farben, kontrastiert und konfiguriert mit Weiß und Schwarz. So erzählt der katalanische Illustrator von allem, was zum Strand gehört. Wie die Umgebung aus Bergen und Feldern. Die Fischerboote. Auch die Anreise und wie man zum Strand gelangt, zeigt er. Erstes Highlight ist eine Doppelseite mit zwei Himmelskörpern und zentralen Protagonisten, Sonne und Möwen, für die eine einzelne stellvertretend auf einem Sonnenschirm steht.

So abstrakt, so lebendig

Gleich kommt die nächste faszinierende Doppelseite mit flächigem Farbauftrag und kräftigem Pinselstrich: Ein breites Stück Sandstrand, ein schmaler Streifen Wasser, dazwischen noch schmaler ein Saum weißer Gischt. Auf der rechten Seite eine einzelne Orangenscheibe wie auf dem Titelbild. »Manche Menschen stehen sehr früh auf, um sich den besten Platz am Strand zu sichern«, steht darunter. Die einzelne Orangenscheibe auf der rechten Seite ist der Sonnenschirm der Frühaufsteher und früh an den Strand Geher, aus der Vogelperspektive.
Auf dem nächsten Panoramabild gesellen sich ganz viele Schirme dazu. So reduziert das Bild ist, so lebendig wirkt die Szenerie. Unter den abstrakten Schirmen meint man das Stimmengewirr zu hören, Rufen, Plaudern, Lachen, auch das Meeresrauschen und Möwenkreischen.

Der Cousin der Daltons verkauft buntes Eis

Abadias Humor dagegen ist ganz leise. Liebevoll deutet er die unterschiedlichsten Typen an, abenteuerlustige und zögerliche, wild umhertobende und ruhig abtauchende, sich treibenlassende und lesende Leute. Menschen aller Hautfarben – und Sonnenbrandgrade, wie es scheint. Der Eisverkäufer mit seinem imposanten Schnurrbart sieht aus, als hätte es einen Cousin der Daltons aus Lucky Luke an die See verschlagen, mit einer bunten Eispalette wie ein Farbkasten. Es gibt FKK-Anhänger, Schatzsucherinnen und einen erstaunlich geduldigen Großvater.
Strand ist ein Ort auf der Landkarte und im Herzen. Strand steht für Vielfalt, für ein friedliches Nebeneinander, gemeinsame Freude, und, vielleicht könnte man auch sagen, gelebte Demokratie.

Mark Rothko, David Hockney, Ximo Abadia

Und dazwischen immer wieder diese großformatigen, bezaubernden Bilder aus dem Laufe eines typischen Strandtages vom Sonnenaufgang bis zum nächtlichen Sternenhimmel, in die man eintauchen möchte. Mit einem Farbzusammenspiel wie von Mark Rothko. Und einer Feier von Sonnenlicht und blauem Himmel, erfrischendem Wasser und sommerlicher Leichtigkeit wie bei David Hockney. Statt an kleinen Pools spielt sich hier das Leben am richtigen Meer mit Wellen und Sand ab.

Ein Wort, eine fantastische Reise und ein grandioses Vergnügen. Mit diesem Buch lässt es sich aufs Schönste stranden.

Ximo Abadia: Strand, Übersetzung: Sophie Zeitz, Gerstenberg, 32 Seiten, 16 Euro, ab 3 Jahre

rüm hart, klaar kiming*

felsNeulich verbrachte ich eine Woche an der Nordsee. Weiter Strand, immer wiederkehrende Wellen, klarer Horizont, frischer Wind. Herrlich.

Wenig später fiel mir das passende Buch dazu in die Hände: Der Fels und der Vogel der jungen Chinesin Chew Chia Shao Wei. 

Ein Fels liegt am Strand, seit Urzeiten bereits. Tagein, tagaus wird er von den Wellen umspült. Jedes Mal verliert er ein Körnchen, wird langsam, aber sicher zu Sand. Der Fels ist sich dieser Entwicklung bewusst und blickt seiner Zukunft gelassen entgegen.
Eines Tages lässt sich eine Möwe auf ihm nieder. Die beiden schließen Freundschaft. Der Vogel, mit seinem großen Herzen, ist entsetzt, als er erfährt, dass der Fels zu Sand wird. Er beschließt ihn zu retten …

Die Kombination aus Fels und Vogel als Protagonisten ist ungewöhnlich, und doch schafft es Chew Chia, die großen Themen wie Leben, Vergänglichkeit, Freundschaft und Hilfsbereitschaft anrührend zu verbinden. Sie erzählt keine fröhliche Geschichte, von Anfang ist klar, dass der Tod der ständige Begleiter im Leben ist. Es geht um die Haltung, mit der man dieser Erkenntnis begegnet und mit der man die Zeit, die einem bleibt, füllt.
Der Vogel, der bei weitem nicht so viel Zeit wie der Fels hat, gibt mit seinem großen Herzen alles, um dem Freund zu helfen. Auch wenn ihm kein Erfolg beschieden ist und er vor dem Fels stirbt, so zeigt er eindrücklich, dass Freundschaft das Leben bereichert, es mit Sinn füllt und Freude schenkt.
Der Fels hingegen bleibt unerschütterlich, auch im Bewusstsein seiner Vergänglichkeit.
Diese Kombination hat etwas Tröstliches. Für große, wie für kleine Leser.
Die zarten türkisfarbenen, poetisch-reduzierten Illustrationen von Anngee Neo tragen zudem das Ihre dazu bei, dass man noch lange nach der Lektüre über diese kleine, aber feine Geschichte nachdenkt, in der die Essenz unserer Existenz steckt.

Chew Chia Shao Wei: Der Fels und der VogelIllustration: Anngee Neo, Übersetzung: Nicola T. Stuart, Jacoby & Stuart,2014, 48 Seiten, ab 5,  12,95 Euro

*rüm hart, klaar kiming – ist friesisch und bedeutet so viel wie „weites Herz, klarer Horizont“.