„Das sind Kühe, keine Krokodile“, sagt Cowgirl spöttisch zu Gemma, die nach einer halsbrecherischen Schussfahrt vom Fahrrad geflogen ist und sich jetzt von einem Dutzend Wiederkäuer umgeben sieht. Aber Gemma ist nicht überzeugt und fürchtet sich vor den Tieren genauso wie vor ihrer groß gewachsenen Klassenkameradin, die eigentlich Kate heißt, von allen aber nur Cowgirl genannt wird. Blöde Kuh, denkt die 13-Jährige folgerichtig, als sie sich wieder auf den Sattel schwingt.
Cowgirl ist der Originaltitel des Romans. Und es passt perfekt zur burschikosen, selbstbewussten und reifer wirkenden, ebenfalls 13-Jährigen Kate. Trotzdem ist es gut, dass der Verlag Königskinder das Debüt des Walisers G. R. Gemin Milchmädchen genannt hat und dazu ein bildhübsches Mädchen mit Sommersprossen auf dem Umschlag zeigt, umrankt von rosa Kleeblüten. Das wirkt so friedlich, idyllisch und auch ein bisschen naiv und lebensuntauglich. Größer könnte der Kontrast nicht sein, denn das Leben der Mädchen in der Geschichte ist alles andere als rosig. Zudem funktioniert der Begriff Milchmädchen im Singular und Plural – raffiniert.
Gemmas Vater sitzt im Knast, ihre Mutter ist erschöpft von Alltag und Geldsorgen und ihr jüngerer Bruder Darren nervt. Sie leben in Wales, in dem heruntergekommenen Viertel Bryn Mawr (was „Brinn Maur“ gesprochen wird, mit gerollten R, und großer Hügel heißt) am Rand von Cardiff. Eine Mischung aus mehrstöckigen Sozialbauten und einfachen Einfamilienhäuschen mit kleinem Garten, von denen Gemmas Großmutter Lily eins bewohnt. Einbrüche, Diebstahl und Überfälle auf ältere Menschen, die ihre Rente abholen, sind Alltag; die Zeitungen berichten täglich und lakonisch. Deprimierende soziale Realität.
Cowgirl Kate lebt mit ihren Eltern auf einem kleinen Hof den Hügel hoch, mit nur noch einem Dutzend Kühen, die ihr Vater mangels Rentabilität und wegen der Schulden verkaufen will und muss. Aber Kate liebt die Kühe, sie ist Milchmädchen, Cowgirl, Kuhhirtin mit Leib und Seele. Noch immer leidet sie darunter, dass die einst 50-köpfige Herde wegen der Maul- und Klauenseuche vor einigen Jahren gekeult werden musste, wie es zynisch in der Sprache der Massentierhaltung heißt. Später erzählt sie Gemma, dass sie nicht nur den schwarzen Fleck, wo die getöteten Tiere auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt worden waren, mit Entsetzen gesehen, sondern auch noch tagelang das verbrannte Fleisch gerochen hat. Sie will ihre Kühe, die natürlich alle Namen tragen, nicht verlieren. Also muss Kate sie in Sicherheit bringen.
Erzählerin Gemma wird ihre wichtigste und stärkste Verbündete. Verrückterweise wird alles von ihrer über 80-jährigen Oma angestoßen, die nach dem Tod ihres räudigen Hundes zunächst todtraurig ist. Sie lernt Kate kennen und schließt das verschlossene und von allen anderen gemiedene Mädchen in ihr Herz, erst recht, als sich herausstellt, dass Oma Lily als junge Frau während des Krieges auf genau dem Hof, damals bei Kates geliebtem Großvater als Melkerin und Kuhhirtin ausgeholfen und beste Erinnerungen daran hat. Die Geschichte einer verwegenen Tierrettung nimmt so rasant Fahrt auf wie Gemma anfangs tollkühn abwärts gerast ist. „Die Ampel wurde grün. ,Na los, Mädels’, sagte ich und wir gingen über die Straße. Ich nickte einem wartenden Fahrer zu, als ob ich jeden Tag mit fünf Kühen die High Street überquerte.“ Am Ende beteiligt sich das gesamte Viertel Bryn Mawr.
Der in Cardiff als Sohn italienischer Einwanderer geborene G. R. Gemin hat eine bezaubernde und mitreißende Geschichte von zwei unglaublich mutigen Mädchen und ihrer wachsenden, wunderbaren Freundschaft geschrieben. Schonungslos beschreibt er im Kontrast dazu die Auswirkungen von Massentierhaltung, unser perverses Verhältnis zu Tieren und eine von Arbeits- und Perspektivlosigkeit zerrüttete Gesellschaft. Er zeigt aber auch, dass man noch etwas ändern – es zumindest versuchen – kann, und dass es manchmal noch Hoffnung gibt. Mit Gemmas Großmutter Lily hat er – neben diversen anderen – eine grandiose, total liebenswerte Figur erschaffen. Alles ist in einem erfrischenden, authentischen und lebendigen Ton erzählt. Gabriele Haefs hat die Geschichte ebenso spritzig und feinfühlig ins Deutsche übersetzt, mit ein paar netten Extras. So führt sie anfangs fünf walisische Begriffe und Namen mit Aussprache und Übersetzung an, was den Lesenden die Gegend, in der der Roman spielt, näher bringt.
Am Ende reift die Erkenntnis: Kühe sind nicht nur keine Krokodile. Kühe sind auch keine Milchmaschinen, sondern empfindsame, individuelle Lebewesen. Und Darrens faszinierte Erklärung der Milchproduktion – „vorne kommt Gras rein und hinten kommt Milch raus“ – verdirbt einem Polizisten vorläufig die Lust auf seine morgendlichen Cornflakes. Kühe sind zudem keine Steaks auf vier Beinen, und die gemeinsame Sorge um das liebe Vieh schweißt schließlich auch die Menschen zusammen.
Elke von Berkholz