Mutig-mysteriöser Fühlender

Rilke

Kann man Rilke fassen? Kann man ihn erklären? Kann man ihn bildlich darstellen? Auf so manche Fragen haben selbst Rilke-Ultras wohl keine endgültigen Antworten, zu mysteriös bleibt auch heute noch der Dichter, dessen Geburtstag sich am 4. Dezember 2025 zum 150. Mal jährt.

Eine bildliche Darstellung jedoch hat nun die Comic-Künstlerin Melanie Garanin gewagt, die vor ein paar Jahren mit der autobiografischen Graphic Novel Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut ein berührendes Debüt hingelegt hat. Auch dort kam Rilke bereits vor, in der Funktion des Trauerkartenbeschrifters.

Anfängliche Skepsis

Als diesen hat auch die fiktive Journalistin Ellen aus Mein Freund Rilke den Dichter im Kopf: »Meiner ist er ja nicht so«, konstatiert sie am Anfang, als sie auf Recherche-Reise nach Worpswede aufbricht. Ellen, eine Frau mittleren Alters, die zwar verheiratet ist, aber die Liebe lange nicht mehr erlebt hat, liest auf der Fahrt Rilkes Biografie. Diese baut Garanin in sepiafarbenen Panels in ihre Geschichte ein und führt damit sowohl ihre Protagonistin als auch die Lesenden an diesen Gefühlsmenschen heran, an seine vielen Lieben, sein unstetes Leben, sein Schloss-Hopping.

Original-Verse

Es bleibt jedoch nicht bei einer einfachen Rezeption von Rilkes Werk, denn plötzlich steht der Mann nach einer Tagungseröffnung vor Ellen, ohne dass sie ihn sofort erkennt. Sie wundert sich über den komischen Kautz, der Rilke-Verse druckreif zitiert, und ist mehr und mehr fasziniert. Sie taucht immer weiter in seine Gedichte ab. Diese und all die zitierten Verse sind in gelbhinterlegten Kästchen quasi als Ausschnitte aus einem Rilke-Band sofort als Originale zu erkennen. So erschafft Garanin eine dreifaltige Geschichte aus Biografie, Gedichten und dem Tanz von Ellen und Rilke durch Worpswede, Paris und das Wallis.

Interpretationsspielräume

Rilke in die Jetztzeit zu holen mag gewagt erscheinen. Das Spiel allerdings geht auf und wird sogar lustig, wenn er zum Erstaunen von Ellen in Null-Komma-Nichts lernt, Textnachrichten mit Anhang zu verschicken. Aber es sind vor allem seine Gedichte, die mal mit einfachen Worten ganz klar erscheinen, dann jedoch wieder schwülstig-unzugänglich daherkommen, die uns allen genug Raum für eigene Interpretationen, eigenes Identifizieren, eigene Gefühle lassen. Das ist bereits auf diesen fast wenigen Seiten ganz deutlich zu spüren. Vermutlich ist es auch das, was Rilkes Werk auch in der Gegenwart noch so faszinierend macht.

Bildgedicht

Melanie Garanins Zeichnungen und Bilder entwickeln sich im Laufe der Geschichte selbst zu Versen, in denen mal ein Haus tranchiert wird, mal Rosenblätter schweben, mal die Liebenden sich umschlingen und von Versen zugedeckt werden.
Entgegen jeder Erwartung kommt Rilkes wohl bekanntestes Gedicht, der Panther, nicht vor, stattdessen darf die Gazelle springen und sogar das Cover zieren. Der mutig-mysteriöse Fühlende hat eben weit mehr in Petto, als das Raubtier hinter Gittern – was Rilke-Kenner nicht überraschen wird. Neulingen jedoch wird hier eine Tür in ein Universum geöffnet, die man so schnell nicht mehr zuschlägt.

Passender Auftakt fürs Rilke-Jahr

Dem entsprechend leitet für mich als mehr oder minder Rilke-Newbie diese Graphic Novel das kommende Rilke-Jahr ein, das mit seinem Geburtstag beginnt und am 29. Dezember 2026 mit seinem 100. Todestag endet. Denn nach der Lektüre dieses Buches greift man unweigerlich zu den Gedichtbänden von Rainer Maria Rilke, liest sich fest und versenkt sich in die großen Gefühle über Liebe, Tod, Universumsunendlichkeit und fängt womöglich an, wie er, an Engel zu glauben. Etwas Besseres hätte Rilke nicht passieren können.

Melanie Garanin: Mein Freund Rilke, Carlsen, 2025, 192 Seiten, 26 Euro

Gefiederte Liebesgeschichten

Ente

Federvieh in der KJL hat momentan Hochkonjunktur. Neulich hatten wir hier das ultimative Hühnerbuch, jetzt gibt es gleich zwei Bücher mit entsprechenden Protagonisten.
Bei Ulrich Hubs neuestem Werk meint man vielleicht in einem Treppenwitz gelandet zu sein, wenn man den Titel Lahme Ente, blindes Huhn betrachtet und die Assoziationen im Kopf schießen sofort ins Kraut.
Doch die Lektüre offenbart bereits auf Seite eins eine der entzückendsten Fabeln über das Leben, versteckte Wünsche, die Macht der Fantasie und die Freundschaft.

Eine tierisch gute Kombination

In einem grauen Hinterhof lebt die lahme Ente, futtert Erdnüsschen und wünscht sich eigentlich jemanden, mit dem sie diesen Snack teilen könnte. Eines Tages schneit das laute und selbstbewusste blinde Huhn herein und lässt sich durch nichts beirren. Die beiden raufen sich zusammen und ziehen hinaus in die Welt. Das Huhn stützt, die Ente sieht. So geht es eine lange Straße entlang, durch einen dunklen Wald, über eine hohe Schlucht, den höchsten Berg hinauf bis zum goldenen Tor, hinter dem die verborgenen Wünsche erfüllt werden.

Perfekte Ergänzung und das Wesentliche

Natürlich geht so eine Reise nicht ohne Konflikte und Streitigkeiten ab. Doch der Weg verändert die beiden Held:innen. Sie lernen sich gegenseitig besser kennen, aber auch sich selbst – so entdeckt die Ente, dass Fliegen ja ganz leicht ist … Und sie finden heraus, auf was es im Leben wirklich ankommt.
Ulrich Hub, Experte für allzu menschliche Tierstorys, erzählt dies mit so hintersinniger Leichtigkeit, dass auch Erwachsene an dieser Geschichte Gefallen finden werden. Denn hier spiegelt sich der Kern des Lebens in seinen Facetten: Wir sind alle nicht perfekt, gleichen uns jedoch in unseren grundsätzlichen Wünschen nach Gesehen-werden und Freundschaft. Das alles suchen wir manchmal an weit entfernten Orten, können gar nicht schnell genug vom Hof kommen … um dann festzustellen, dass so manches schon ganz nah ist. Allen Redewendungsassoziationen zum Trotz gleitet Ulrich Hub aber nie ins Banale oder Kitschige ab, sondern schafft es mit feiner Ironie und viel Humor, dass einem mit jeder Seite Huhn und Ente mehr ans Herz wachsen und man das Wesentliche unsere Existenz erkennt.

Love rules

Eine weitere ungewöhnliche Vogelpaarung findet sich in dem Bilderbuch Der Habicht und der Hahn von Käptn Peng und Melanie Garanin.
Der Habicht, der normalerweise eine Gefahr für Hühner darstellt, mag in diesem Fall den Hahn. Und dieser erwidert die Gefühle, sehr zum Unverständnis von Bauer und Hühnerschar.
Doch die beiden lassen sich von ihrer Umwelt nicht abhalten und verschmelzen zu einer Einheit.

Dynamisch in Musik und Strich

Der kurze Text stammt aus dem gleichnamigen Song von Käptn Peng, auch bekannt als Robert Gwisdek, Schauspieler, Musiker, Autor. Man kann sich das Buch also quasi vorsingen lassen und zwar in bester Liedermacherqualität, bei der die Stärke des Textes so richtig zu Geltung kommt.
Doch auch die schwarzkonturierten, aber farbig-strahlenden Aquarelle von Melanie Garanin sind eine Wonne, die den Aufruhr im Hühnerstall um die beiden Liebenden dynamisch und verspielt zeigen. Da wird der Bauer fast zum Schwein und der Regenwurm schwingt die Rassel.

Liebe, wen du willst

Die Botschaft ist natürlich klar und ein Plädoyer für eine grenzenlose Liebe, jenseits von Geschlechtern oder sonstigen Schubladen. Das ist zum einen ein Buchtrend unserer Zeit, aber eben auch immer noch nicht selbstverständlich und daher wichtig, es auch den ganz jungen Menschen auf so charmante Weise klarzumachen. Nur mit solchen Geschichten wird es vielleicht mal Generationen geben, die um gleichgeschlechtliche Liebe und queere Lebensformen kein Gewese mehr machen werden.

Ulrich Hub: Lahme Ente, blindes Huhn, Illus: Jörg Mühle, Carlsen, 2021, ab 8, 13 Euro
Käptn Peng: Der Habicht und der Hahn, Illus: Melanie Garanin, Huckepack, 2021, ab 5, 15 Euro