Aussicht auf viele Lücken

Welt

Jeder vermisst jemanden. Und jeder wird vermisst.« Das wird Deetje, genannt Dee, und ihrem Freund Vito bei der Suche nach dem Empfänger eines Briefes bald klar. Deetje hat ihn an einem feuchten Samstagnachmittag beim Briefkasten gefunden, kurz nachdem dieser geleert worden war. Die Adresse dick durchgestrichen mit dem Vermerk Retour an Absender, der aber ist vom Regen verwischt und unleserlich.
Die Zeilen berühren Deetje: »Mein Liebling, Die Tage sind so kahl wie die Bäume im Herbstwind. … Wie kurz das Leben doch ist und wie sehr ich Dich vermisse. Vielleicht sollten wir vergessen, was alles geschehen ist. …« Irgendjemand in der Hochhaussiedlung wird vermisst. Deetjes Zuhause ist ein Mikrokosmos, über den sie sagt, »von hier aus kann man die ganze Welt sehen«.

Prinzessin mit Swimmingpool

Das ist auch der Titel von Enne Koens‘ außergewöhnlicher Erzählung mit einer besonderen Heldin. Die Neunjährige ist offenherzig, forsch, neugierig, kratzbürstig, stur, lebendig und einfühlsam. Und auch sie vermisst jemanden, sogar gleich zwei Menschen, ihre Eltern nämlich. Weil sie ganz anders ist als ihre Mutter und ihr auch gar nicht ähnlich sieht, ist Deetje überzeugt, dass sie adoptiert wurde. Vielleicht auch entführt, aus dem Kinderwagen gestohlen. Wahrscheinlich suchen ihre richtigen Eltern nach ihr. Vielleicht ist sie eine Prinzessin und könnte in einem Schloss mit Swimmingpool wohnen.
»Deine Haare wollen einfach nicht gehorchen, sagte meine Mutter. Ich hatte das Gefühl, sie würde nicht meine Haare meinen, sondern mich. Und wieder dachte ich das. Eine echte Mutter kommt doch mit den Haaren ihres Kindes zurecht. Wir gehören überhaupt nicht zusammen, dachte ich.«

Haarige Gedanken

»Und in diesem Moment änderte sich alles. Ich schaute zu ihr. Die Haare meiner Mutter hängen gerade herab, wenn sie offen sind. Meine Haare springen zu allen Seiten. Ich kenne fast alle aus der Nachbarschaft, sie kennt fast niemanden. Sie hat eine helle Haut und ich eine dunkle. Sie will, dass alles praktisch ist, nützlich, säuberlich, pünktlich und an der richtigen Stelle. Ich will nur tanzen, mein Herz so offen wie eine Ladentür am verkaufsoffenen Sonntag«, stellt Deetje fest.
»Wenn man uns beim Memory umdrehen würde, darf man ganz bestimmt nicht noch einmal«, resümiert das Mädchen mit umwerfend trockenem Humor, von Andrea Kluitmann schön spröde übersetzt. Wegen dieses Gefühls des Fremdseins gegenüber ihrer wortkargen, verschlossenen Mutter forscht Deetje zusammen mit ihrem gleichaltrigen Freund Vito weiter, nach Empfänger oder Absender des Briefes. Und in eigener Sache.

Religiösität mit Folgen

Tatsächlich wirkt Deetjes Mutter anfangs fast autistisch. Oder depressiv. Dann wird klar, dass Religion und Frömmigkeit eine wichtige Rolle spielen. Christliche Religion. Das irritiert zunächst. Wie man aber am Beispiel der USA sieht, geht von protestantischen Splittergruppen und Sekten eine weit größere Bedrohung als vom durchschnittlichen Islam aus. Schon im bloßen Wort scheint das Radikale enthalten zu sein: Protestantismus. Klingt wie Islamismus, islamistisch. Zumindest kann diese weltabgewandte, fundamentalistische und engstirnige Form des Christentums  verheerende Wirkung haben. Im Großen, und, wie man im Roman zurückhaltend, aber eindrücklich lesen kann, auch im Einzelnen.

Manchmal bleibt nur ein Ring, ein Lied, ein Foto

Enne Koens vereint durch Deetje in dieser besonderen Detektivgeschichte viele spannende individuelle Erzählungen vom Vermissen. Maartje Kuipers behutsame, reduzierte Zeichnungen, die Einblicke in verschiedene Fenster und ausschnittweise auf die Bewohner dahinter geben, akzentuieren das sehr schön. Menschen aus aller Welt sehnen sich nach Eltern, Freunden, Liebsten, die sie auf der Flucht zurücklassen mussten, aus den Augen verloren haben, die gestorben oder weggezogen sind oder von denen man sich auseinandergelebt hat. Manchmal bleibt neben der Erinnerung nur ein Ring, an einer Schnur um den Hals getragen. Manchmal nur ein Lied, Regale voller Lebensmittel oder ein verschlucktes Telefon (ja, wirklich!). Oder ein Foto mit einem Paar, das ein kleines Baby hält, Leute, die Deetje viel ähnlicher sehen.
Die niederländische Autorin Enne Koens verwebt diese bewegenden Erzählungen zu einem ebenso überraschenden wie vielversprechenden Ende. Das der Anfang einer neuen, gemeinsamen Suche ist. Mit Aussicht auf die ganze Welt.

Enne Koens: Von hier aus kann man die ganze Welt sehen, Übersetzung: Andrea Kluitmann, mit Bildern von Maartje Kuiper, Gerstenberg, 208 Seiten, ab 9, 17 Euro

Hund adoptiert Familie

Rosoff

Allem Anfang wohnt angeblich ein Zauber inne. Kann sein, aber auch etwas zu beenden kann magisch sein und wahre Wunder bewirken. So im Fall der Familie Peachey, bestehend aus Vater, Mutter und drei Kindern, zumindest in der ursprünglichen Formation, als Mama Peachey beschließt Schluss zu machen und »ihren Job als Mutter an den Nagel zu hängen«: »Ich gebe auf«, sagte sie. »Ich habe keine Lust mehr, zu kochen und sauberzumachen und verlorene Schlüssel zu suchen. Ich habe keine Lust mehr auf langweilige und undankbare Aufgaben. Ich höre auf.«
Anfangs sind fast alle noch ganz begeistert. »Schluss mit gesundem Essen! Schluss mit mütterlicher Unterdrückung!« Doch schon nach kurzer Zeit versinken Vater und Kinder in Durcheinander und Dreckwäsche. Es gibt nur noch scheußlich schmeckende Fertiggerichte, die noch mehr Müll produzieren. Und keiner kommt mehr pünktlich zu Schule und Arbeit, weil der menschliche Familienwecker streikt.

Faire Arbeitsteilung ist eine schöne Wunschvorstelliung

Ein absolut glaubwürdiges Szenario und schöner Schlamassel, in den sich Mister Tavish, toller Hund und psychologisches Superhirn, in Meg Rosoffs famoser Familiengeschichte Glück für alle Felle begibt.
Nur die sonst sehr kluge Kinderbuchexpertin Ute Wegmann hat in ihrer Radiosendung den ziemlich dummen Einwand vorgebracht, das sei ja ein Frauenbild wie aus den 50ern. Blödsinn, denn erstens hat Mama Peachey einen guten Job als Buchhalterin, dem sie unverändert nachgeht. Und zweitens ist es in jeder modernen Familie nachweislich so, dass die Mütter am meisten im Haushalt arbeiten, neben ihren bezahlten Jobs, in ihrer Freizeit. Weil es auch nach mindestens 50 Jahren Frauenbewegung, Gleichberechtigung und Emanzipation immer noch nicht klappt mit der fairen Arbeitsteilung. Meg Rosoffs vermeintlich harmlose Tiergeschichte hat es also in sich.

Keine pflegeleichte Familie

Der andere raffinierte Dreh ist, dass der Hund die Familie adoptiert: »Er spürte sofort, dass sie nicht zu den pflegeleichten Familien gehörte. Ob sie schon sehr früh traumatisiert worden waren oder von Natur aus schwierig, konnte Mister Tavish natürlich nicht wissen. Aber er wusste, sie zu adoptieren würde Geduld, Disziplin und harte Arbeit erfordern … Doch es war schon zu spät. Mister Tavish hatte sich in die Peacheys verliebt.«
Nach Eoin Colfers Der Hund, der sein Bellen verlor ist jetzt auch Meg Rosoff auf den Hund als besonderes Familienmitglied gekommen. Wobei sie bereits 2013 in Alles was ich weiß über dich der zwölfjährigen Mila auch ein paar bemerkenswerte Fähigkeiten verliehen hat.

Soziopathen sondieren herrenlose Hunde

Besondere Bilder, pointierte Dialoge und grandiose Situationskomik machen auch den Charme dieser Geschichte aus. Während Vater Peachey zunächst »unverbindlich die Lage im Tierheim sondieren will«, bekommt er von seiner 14-jährigen, existenzialistisch angehauchten Tochter Ava bescheinigt, er sei ein Soziopath. Im Geiste schreibt Ava das Buch »Erinnerungen an eine zerrüttete Kindheit«, während der zwölfjährige Ollie seinem Vater klar macht, wie alt er tatsächlich ist: »Zu deiner Zeit sind noch Dinosaurier über die Erde gewandert.«
Wirklich bei Verstand ist abgesehen von der streikenden Mutter nur die achtjährige Betty, neben dem smarten Hund die wahre Heldin der Geschichte.

Famoses Familienporträt, Fortsetzung folgt

Brigitte Jakobeit, seit So lebe ich jetzt von 2005 Meg Rosoffs zuverlässige Übersetzerin, überträgt diese Geschichte für jüngere Leser erfrischend witzig und wohltuend klar (so schreibt sie zum Beispiel »Unterhosen« statt des alberner Begriffs »Schlüpfer«).
Man hätte dem Buch nur einen weniger kalauernden Titel gewünscht, im Original heißt die Geschichte Good Dog, Mister Tavish. Good book, Mrs Rosoff, indeed. Ein entzückendes, wenn auch schmales Familienporträt, das im Frühjahr fortgesetzt wird unter dem Titel (man ahnt es) Ferien für alle Felle.

Meg Rosoff: Glück für alle Felle, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Illustrationen: Anke Faust, Fischer KJB 2019, 128 Seiten, ab 8, 10 Euro