Ein brüllendheißer Julitag. Ein Stau vor New York. Mittendrin eine Familie in einem Mini. Supersympathische Leute, Vater, Mutter, zwei Jungs, der jüngere, Griff Rhyss, hat Geburtstag, 13 Jahre ist er. Hayley Long erzählt aus der Sicht des zwei Jahren älteren Dylan Thomas. Nicht zufällig trägt der den Namen des berühmten walisischen Dichters: Ein Junge sparsam und behutsam ausgewählter Worte und ein faszinierender und pointierter Erzähler.
Die Familie lebt nach längeren Aufenthalten in London, München, Shanghai und Barcelona jetzt in New York und überlegt erstmals zu bleiben. Es sind waschechte Briten, sie sagen Motor- nicht Highway und die Mutter, eine Waliserin, tadelt Griff mit gespielter Empörung, als der stöhnt: »Ich schwitze mir den Arsch ab.«
Letzte Hoffnung Wales
Dann passiert ein schrecklicher Unfall. Zurück bleibt ein schwer traumatisierter, zutiefst verzweifelter und todtrauriger 13-Jähriger. Und Dylan Thomas, der sich an den nächstfernen Ort wünscht. Und doch alles versucht, um seinen jüngeren Bruder ins Leben zurückzuholen.
Weil die Familie eigentlich immer nur sich selbst hatte, landen die Brüder zunächst bei der einzigen Freundin in New York, Blessing Knowles, Arbeitgeberin der Eltern, die als Lehrer gearbeitet haben, und Schuldirektorin der Jungs, was an sich schon eine komische Situation ist. Auf der Suche nach Angehörigen landen die Brüder durch Vermittlung des britischen Konsulats schließlich bei der Cousine ihrer Mutter und deren Mann in Wales.
»Aberythwyth war unsere letzte Hoffnung«, sagt Dylan. Obwohl sich Blessing wirklich rührend gekümmert hat und Griff sogar überzeugen konnte, am »Tag des B-Wortes« mitzukommen, »ihr wisst schon Asche zu Asche und Staub zu Staub und so weiter«, der Tag, »an dem mein Hirn wie ein Panik-Tornado davonzuwirbeln droht«, bleibt Griff wie versteinert, ein totenstiller, dunkler Schatten seines früheren überschäumenden Ichs.
Eine Katze wie ein Früchtebrot
Nun also Aberythwyth in Wales, ein Kaff im Vergleich zum gigantischen New York, eingeklemmt zwischen schiefergrauen Bergen, unter einem meist grauen Himmel, am silbergrau schimmernden Meer. Mit einer Sprache, die man nicht versteht und Straßenschildern, deren Schriftzüge man nicht mal aussprechen kann. Bei einem kinderlosen, mittelaltem Paar, das so ganz anders ist als es die lebenslustigen, weltgewandten, viel jünger und wilder, auch verrückter und verliebter wirkenden Eltern es gewesen waren.
Griff erkennt zwar, wie freundlich und liebevoll bemüht Tante und Onkel sind. Aber in ihm drin ist nur Trauer und Verzweiflung, nichts und niemand kommt an ihn ran. Ein winziges bisschen können Tiere ihn trösten, erst Blessings Labrador Marlon, dann in Wales die schwarz und karamellfarbene Katze Bara Brith, benannt nach dem so aussehenden walisischen Früchtebrot, von dem Griff auch noch nie gehört hat.
Tod und Trauer, Leben und Liebe
Ist Der nächstferne Ort die perfekte Ferienlektüre? Ja! Und zwar nicht, weil es im Juli auf einem kochend heißen Highway in New York beginnt und ein Jahr später, an Griffs 14. Geburtstag im mildem Wales endet. Sondern weil Dylan Thomas so hinreißend und fantastisch erzählt und uns mitnimmt zu ganz besonderen Momenten. Berührend erinnert er sich an Situationen, Orte und Menschen, seine Eltern und seine große Liebe Matilda aus München.
Es ist ein Buch über Verlust und Trauer – und doch voll von unfassbar viel Leben. Und von Liebe, die Liebe von Eltern zu ihren Kindern, die irre peinliche Liebe zwischen den Eltern (»ich und Dylan hätten fast gekotzt, weil unsere Eltern rumgeknutscht haben«), das erste Verlieben, die erste enttäuschte Liebe, die tröstende Liebe zu Tieren, die Kraft der Liebe: »Die Menschen, die man liebt, sind nie wirklich weg«, sagte Griff. »Diese ganze Energie muss schließlich irgendwohin.«
Beach Boys, Oasis und One Direction
Man lernt tolle, ganz unterschiedliche Menschen kennen. Auch Musik, die Magie, die von ihr ausgeht, spielt ein große Rolle: Nicht nur das titelgebende, kaum bekannte Instrumentalstück von den Beach Boys, The Nearest Faraway Place. Auch der kraftvolle, warme Souls Aretha Franklins, Brit-Pop von Oasis und Grunge von Nirwana begleiten die Geschichte. Sogar The Story of my Life der Boyband One Direction gehört dazu. Und ein bisschen Dylan Thomas, also der Originalschriftsteller und sein Poem Clown im Mond. Hayley Long motiviert einen nebenbei, ein paar Musikvideos zu gucken. Oder nach dem Gedicht zu suchen.
Man erfährt auch ein bisschen von anderen Städten und Ländern. Nicht zuletzt ist es eine Liebeserklärung an Hayley Longs Heimat, das spröde Wales und seine eigentümlichen und herzlichen Bewohner. Josefine Haubold übersetzt ganz im Sinne Dylan Thomas’, also des jüngeren Erzählers, warm, einfühlend, witzig und authentisch, jedes Wort treffend, keins überflüssig. »Ich sah, wie ihr Lächeln in sich zusammenfiel. Wie bei jemanden, dessen iPhone gerade in den Gully gefallen ist.«
Das ist nur ein Beispiel, Dylan beschreibt so eine hilflose Krankenschwester. Und »dann schaute eine Traumatherapeutin vorbei, die es tatsächlich fertigbrachte, dass wir uns noch traumatisierter fühlten.«
Leider ist dies auch das letzte Buch aus dem Verlag Königskinder. Was auch noch ein guter Grund ist, Hayley Longs Der nächstferne Ort in diesen Sommerferien zu lesen und vielen davon zu erzählen.
Hayley Long: Der nächstferne Ort, Übersetzung: Josefine Haubold, Königskinder, 2018, 328 Seiten, ab 14, 19,99 Euro