Zwischen den Welten

Berlin-Neukölln, Campus Rütli, ein lauer Spätsommerabend. Die verkehrsberuhigte Rütlistraße präsentiert sich schon fast als Idyll. Kinder spielen im Jugendtreff, auf dem Sportplatz läuft eine Partie Basketball. In der Kleingartensiedlung „Hand in Hand“ ist gerade gar nichts los, an einer Brandmauer steht „Kotz Kölln“. Die Gewalt, die hier noch vor einigen Jahren herrschte, ist an diesem Abend nicht mehr zu spüren. Der Campus Rütli, der unter der Schirmherrschaft von Christina Rau, Witwe von Bundespräsident Johannes Rau, weiter ausgebaut wird, wandelt sich: Die Schüler schrauben an alten Porsche-Traktoren oder musizieren im Schulorchester. Die S. Fischer Stiftung unterstützt die Kids mit Aktionen wie „Fußball trifft Kultur“ – erst kicken, dann lesen. Und nun gab es eine Premiere: Im Rahmen der „Woche der Sprache und des Lesens in Berlin“ las Deniz Selek in der Mensa der Schule aus ihrem druckfrischen Roman Zimtküsse. Und richtig viele Schüler waren gekommen.

Man hätte vermuten können, dass das junge Publikum, vor allem die Jungs, bei der Lesung eines ausgesprochenen Mädchenbuches, herumalbern oder stören würden. Doch Fehlanzeige: Gebannt lauschen die etwa 80 Zuschauer der deutsch-türkischen Autorin, für die dieser Abend eine doppelte Premiere ist. Es ist ihre erste Lesung aus ihrem Debütroman – und Deniz Selek meistert das Ganze mit Bravour. Sie liest engagiert und mit Herzblut. Kein Wunder, dass die Jugendlichen ihr an den Lippen hängen und sie hinterher mit Autogrammwünschen bestürmen und den kleinen Büchertisch fast leerkaufen. Zu diesem Erfolg trägt natürlich auch Seleks unterhaltsam leichter Roman bei.

Darin erzählt sie die Geschichte der 14-jährigen Sahra. Ihr Vater ist Türke, Maschinenbauingenieur und der beste Papa der Welt, ihre Mutter ist Deutsche – und hat sich gerade in eine andere Frau verliebt. Sahras Welt steht Kopf. Hinzu kommt, dass ihre beste Freundin Katta nur noch Augen für Henry hat. Sahra hält das alles nicht mehr aus und flüchtet zu ihrer Großmutter nach Istanbul. Dort taucht sie zusammen mit ihren Cousinen Daria und Sema in das Getümmel der Großstadt ein, dort, wo internationale Kaffee-, Parfum- und Bekleidungsketten auf kleine Läden aus 1001 Nacht treffen, wo die Mädchen Liebesschlösser und bunte Perlenbänder für Gelübdebäume kaufen.  Sahra staunt, genießt und kämpft mit den beiden Welten, in denen sie lebt. Dort, wo sie gerade ist, fehlt ihr die andere Welt. Ist so etwas schon für Erwachsene eine Herausforderung, wird das für ein pubertierendes Mädchen zu einer existenziellen Erfahrung: Wer bin ich? Wo und wie will ich leben? Was prägt mich? Sahra erlebt die Sehnsucht und die Erfahrung, sich ständig entscheiden zu müssen, obwohl sie das eigentlich gar nicht will. Und sie erfährt die Liebe und Zuneigung von ihren Eltern, ihrer Großmutter, ihren Cousinen und ihren Freunden. Und Tjiago aus dem dritten Stock, Zuhause in Deutschland, scheint doch gar nicht so übel zu sein, wie anfangs gedacht …

Deniz Selek erzählt diese wichtigen Alltagsgeschichten, die zur Identitätsfindung Jugendlicher gehören, mit souveräner Leichtigkeit. Ihre lockere Sprache trifft genau den Ton der Teenager, die eingewebten türkischen Begriffe zeugen von der Verquickung der beiden Welten, in denen die Protagonistin lebt – und eben auch viele der zukünftigen Leserinnen. Seleks Liebe zu Istanbul, wo sie selbst viele Jahre gewohnt hat, ist in jeder Szene zu spüren. Ihre eigene Erfahrung als Halbtürkin in Deutschland spiegelt sich im Roman und verleiht ihm die nötige Authentizität. Die Autorin zeigt, dass im Einwanderland Deutschland das Leben in zwei Kulturen zur Normalität gehört. Und gerade diese Normalität, zu der auch der raue, gewalttätige Umgangston in der Schule gehört, macht die Stärke dieses Buches aus.

So wie die Lesung auf dem Campus Rütli, bei der übrigens auch Christina Rau anwesend war, ein tolles Beispiel war, wie man die Kids zum Lesen animiert, so ist Zimtküsse ein total liebenswertes Romandebüt, perfekt gelungene Unterhaltung und allerbestes Lesefutter.

Deniz Selek: Zimtküsse, Fischer Schatzinsel, 2012, 288 Seiten, ab 12, 13,99 Euro

Kommentar verfassen