Großväter sind wichtige Bezugspersonen für die Enkelkinder. Manches Mal erkennen sie viel deutlicher, wo die Talente der Kinder liegen. Diese These jedenfalls zieht sich durch den entzückenden Roman Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen von Jacqueline Kelly.
Es ist ein heißer Sommer im Jahr 1899 in Texas. Calpurnia, elf-drei-viertel-fast-zwölf, lebt mit ihren Eltern, acht Brüdern und dem Großvater auf dem Land. Sie genießt ihre Freiheit, streift durch die Natur und beobachtet Pflanzen und Tiere. Ihre Erkenntnisse hält sie in einem roten Notizbuch fest. Als ihr auffällt, dass es grüne und gelbe Grashüpfer gibt, kann ihr niemand aus der Familie erklären, warum das so ist. Als sie den Mut aufbringt, den Großvater zu fragen, der bis dahin so gut wie nie mit ihr gesprochen hat, schickt er sie zunächst weg: „Ich vermute, dass ein schlaues kleines Ding wie du allein dahinterkommen kann. Komm wieder und berichte mir, wenn du es weißt.“ Calpurnia beobachtet weiter, entdeckt, dass die grünen Grashüpfer öfter gefressen werden. Sie will ihre These nachlesen und versucht Darwins Buch „Von der Entstehung der Arten“ aus der Bibliothek auszuleihen, was ihr die resolute Bibliothekarin allerdings verweigert. Als sie dem Großvater davon erzählt, leiht er ihr kurzerhand sein Exemplar von Darwins Buch – und eine wundersame Beziehung zwischen Alt und Jung entsteht.
Gemeinsam streifen Großvater und Enkelin durch die Gegend, finden ein Kolibri-Nest, entdecken eine merkwürdige Abart der Zottelwicke und eine dicke Raupe, die Calpurnia Petzi tauft und bei der Verpuppung beobachtet. Der Großvater führt das Mädchen in die Welt der Naturwissenschaft ein, zeigt ihr seine Präparate-Sammlung, berichtet von seinem Kollegen Charles Darwin, leitet sie zu wissenschaftlich genauem Beobachten an, lässt sie durch ein Mikroskop schauen und Einzeller zeichnen. Calpurnia saugt alles begierig auf und entwickelt immer mehr den Wunsch Wissenschaftlerin zu werden.
Das jedoch passt der Mutter gar nicht ins Konzept. Sie will ihre Tochter in die gute Gesellschaft einführen. Dafür soll Calpurnia kochen, stricken, sticken und klöppeln lernen. Nur äußerst widerwillig fügt sich das Mädchen in Koch- und Strickstunden, entwischt jedoch in jeder freien Minute zum Großvater. Es ist für sie unvorstellbar, später für einen Mann und eine Familie zu kochen. Calpurnia hätte dafür selber gern eine Frau.
Der Großvater hingegen nimmt sie mit zum Fotografen, um die Zottelwicke fotografieren zu lassen. Denn die beiden Naturforscher glauben, dass sie eine neue Wickenart entdeckt haben. Die Fotos und die genaue Beschreibung schicken sie nach Washington zur Smithsonian Institution, um die Pflanze kategorisieren zu lassen. Es dauert Monate bis sie Nachricht erhalten sollen.
In der Zwischenzeit zieht die moderne Technik in das Leben Calpurnias ein: die Mutter erhält die erste Windmaschine, im Dorf wird das erste Telefon installiert, auf dem Dorffest trinkt Calpurnia die erste Coca-Cola, der Großvater besteigt zum ersten Mal ein Automobil und an Weihnachten bestaunt die ganze Familie Fotos durch ein Stereoskop.
Als Calpurnia dann am ersten Januar 1900 zum ersten Mal Schnee erlebt, ahnt sie, dass alles möglich ist und auch ihr die Welt der Wissenschaft offen steht.
Jacqueline Kellys Roman ist eine ganz wundervolle Emanzipationsgeschichte, die jungen Leserinnen Mut macht, sich sowohl von elterlichen Vorstellungen als auch gesellschaftlichen Konventionen frei zu machen. Ist hier im historischen Kontext die Naturwissenschaft als Beispiel für eine scheinbare Männerdomäne gewählt, in die nun auch Calpurnia vordringt, so kann man durchaus die Parallele in die Jetztzeit ziehen und den nächsten Frauengenerationen Ingenieurwissenschaften und Informatik schmackhaft machen. Calpurnia jedenfalls taugt fantastisch als Identifikationsfigur für Mädchen, die ihren eigenen Kopf haben und sich nicht von äußeren Zwängen verschrecken lassen. Calpurnia zeigt, wie wichtig es ist, Fragen zu stellen und Dingen auf den Grund zu gehen – dafür kann der Apfelkuchen auch schon mal missraten. Als Leser freut man sich nicht nur mit der Heldin über all ihre Entdeckungen, selbst wenn aus der Raupe kein schöner Schmetterling schlüpft, sondern „nur“ eine extrem große Motte, und fängt auch gleich an, die Natur wieder mit wacheren Augen zu betrachten.
Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen ist ein herrlicher Lesegenuss, nicht zuletzt durch die gelungene Übersetzung von Birgitt Kollmann. Die Geschichte entführt den Leser in eine aufregende Zeit des Umbruchs, wo neben technischem Fortschritt die Emanzipation der Frauen ihren Anfang hatte. Schöner kann man dieses Thema den Mädchen von heute kaum näher bringen.
Jacqueline Kelly: Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen, Übersetzung: Birgitt Kollmann, Hanser, 2013, 336 Seiten, ab 12, 16,90 Euro