Momo in neuer Leinwandoptik

Momo

»Wie sind wir nur hierher gekommen?« Gleich die erste Szene aus der aktuellen Verfilmung von Michael Endes Klassiker Momo ist wie eine Ohrfeige an das Publikum. Erstarrt stehen graue Menschen, erstarrt mitten im Streit, erstarrt in der täglichen Hektik, in dem immer Schneller, immer Produktiver, im Zeitspar-Modus.

Und dann rennt plötzlich die rothaarige Locken-Momo (Alexa Goodall) durch dieses graue Elend – und rasante anderthalb Stunden entführen uns ins Amphitheater in einer fiktiven europäischen Stadt, die mal an Rom, Verona, Hamburger Hafen oder auch Paris erinnert, in der das Leben anfangs noch bunt und menschlich ist. Das Märchen von Momo, dem Mädchen, das so gut zuhören kann, dass sich selbst spinnefeinde Nachbarn wieder versöhnen, und das gegen perfide Zeitdiebe kämpfen musst, ist eigentlich hinlänglich bekannt. Doch diese neue internationale Verfilmung von Regisseur Christian Ditter holt die Story aus der scheinbar zeitlosen Märchenwelt in unsere Gegenwart.

Greycelet und Bibi-Bot

Hier taucht in der Stadt nämlich plötzlich ein internationaler Konzern auf, der so stylische Armreifen verkauft, mit denen man sein Zeitmanagement verbessern kann. Zeit wird auf ein Zeitkonto verschoben, damit man sich später mal »eine schöne Reise mit den Kindern« leisten kann. In Momos Umfeld laufen immer mehr Menschen mit diesen Dingern rum. Die Analogie zu Smartphones, Smartwatches, Fitnessringe und anderen Technologygadgets ist natürlich absolut gewollt und fast ein bisschen vorhersehbar – aber es funktioniert hervorragend. Ein kugelrunder fliegender Bibi-Bot mit großen Augen – anstelle des Barbie-Bibigirl im Buch – soll Kinder beschäftigen, Momos bester Freund, hier mit Namen Gino (Araloyin Oshunremi), erliegt der Verlockung und wird reichenweitenstarker Influencer, der im selbstfahrenden Auto vorfährt. Als seine Mutter endlich Zeit von ihrem Zeitkonto für eine Reise abheben will, landet sie in einer Warteschleife – »Ihre aktuelle Wartezeit beträgt vier Stunden und sechsunddreißig Minuten«. So viel zum Zeitsparen im technischen Zeitalter.

Aktuelle Technik, diverse Gesellschaft

Doch nicht nur die Technik im Film ist brandaktuell – und z.T. sogar unserer Zeit voraus –, auch in der dargestellten Gesellschaft spiegelt sich heutigen Zustände: Sie ist bunt und divers, Ginos Mutter (Laura Haddock) ist eine alleinerziehende schwarze Working-Mum von drei Kindern. Die Grauen Herren aus Endes Buch sind hier geschlechtlich divers und somit nur noch die Grauen.
Dazu kommt eine aktuelle Sprache, mit der Momo schon mal als »weird« bezeichnet wird und Kassiopeia auf ihrem Panzer ein »crazy« erscheinen lässt. Das ist frisch, ohne dass sich die Filmemacher dem jungen Publikum anbiedern. Fremdscham dürfte bei den Kids nicht aufkommen, sondern vielmehr ein kritischer Blick auf unseren Umgang miteinander und unseren Umgang mit technologischen Zeitfressern.

Opulente Inszenierung, pathetische Musik

Die computergenerierte Stadt, die im Laufe des Films von immer höheren und graueren Monsterbauten – den »Seelensilos« – dominiert wird, aber auch die Niemalsgasse und das Reich von Meister Horus (Martin Freeman) sind allesamt opulent-fantastisch inszeniert.
Untermalt wird alles von pathetischer Musik, die manchmal etwas zu sehr die Message dem Publikum unter die Nase reibt: Zeit ist das Wichtigste, was wir haben, nutzt sie richtig, genießt sie.

Philosophische Gedanken zur Zeit

Die philosophischen Gedanken von Michael Ende über die Zeit und unser Umgang damit finden sich quasi in jeder Szene. Zwar gehen sie nicht so in die Tiefe, wie im Buch was dem jedoch relativ kurzen Filmformat geschuldet ist. Aber sie können für jüngere Zuschauende durchaus herausfordernd sein. Die Spannung behält jedoch immer die Überhand und lässt einen am Ende fast atemlos zurück.
Das Schauen dieses Films ist jedenfalls keine Zeitvergeudung – und wer sich dann hinterher die Zeit nimmt, das Buch noch mal in aller Ruhe zu lesen, findet eine aktuelle Ausgabe mit Bildern aus dem Film im Buchhandel. Ich werde mir diese Zeit jetzt nehmen und es genießen.

Kinostart am 2. Oktober 2025, FSK6, 92 Minuten

Michael Ende: Momo, Thienemann, 2025, 288 Seiten, ab 8, 15 Euro

Mehr Momo sein …

momoJubiläen sind was Tolles. Ich entdecke dabei jedes Mal Dinge wieder, an die ich oftmals sehr lange nicht gedacht habe. In diesen Tagen ist es Momo von Michael Ende. Denn Momo feiert ihren 40. Geburtstag – wenn man das für eine Romanfigur so sagen kann.

Ihr zu Ehren habe ich also meine alte Ausgabe aus dem Regal gezogen und mich wieder in das antike Amphitheater versetzt – und gestaunt.
Als ich Momo das erste Mal gelesen habe, war ich bereits erwachsen und studierte gerade Philosophie. Dementsprechend philosophisch fand ich Endes Text über die Zeit und die Zeit-Diebe.
Daran hat sich nach der aktuellen Lektüre nicht viel geändert, doch habe ich jetzt noch so viele andere Dinge entdeckt, die meine Verehrung für Michael Endes visionäres Gespür und Genie noch weiter steigern. Denn Momo merkt man ihre vierzig Jahre eigentlich nicht an. Die Dinge, die Ende dort beschreibt, finden sich aktuell noch genauso: Die Städte sind voll von „Seelensilos“ und Schnellrestaurants, die „Kinder-Depots“ nennen sich heute Ganztagsschulen (die aber zum Glück nicht so düster sind wie im Buch), die „vollkommene Puppe“ kommt momentan in Form von XBox und Smartphone in fast jedem Haushalt vor. Die Buchbranche ist voll von all den „albernen und rührseligen“ Geschichten, mit denen Gigi Fremdenführer Karriere macht und sich von seiner ursprünglichen Kunst des Erzählens entfremdet. Die grauen Herren gehören momentan wohl zur Kaste der „Selbstoptimierer“, die über Apps und Computer so sehr an der eigenen „Performance“ arbeiten, bis wahrscheinlich nur noch ein Burnout sie wieder auf ein menschliches Maß zurückholen kann.
Menschen wie Momo dagegen sind heute eher selten zu finden. Zuhören, sich Zeit nehmen für die andern und achtsam mit sich selbst umgehen sind selten gewordene Tugenden. Die Logorrhö, mit der wir uns analog und virtuell immer mehr präsentieren und vermarkten, lässt kaum noch Raum für das, was Momo ihren Freunden schenkt: ungeteilte Aufmerksamkeit.

Doch die können alle gebrauchen – die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Genau aus diesem Grund ist für mich Michael Endes Klassiker nicht nur ein Kinderbuch, sondern Belletristik für jedes Alter. Denn in jedem Alter entdeckt man in dieser Geschichte immer wieder neue, immer höchst aktuelle Aspekte, die Wegweiser und Ratgeber durch das eigene Leben sein können.
Nach dieser so bereichernden Lektüre nimmt man sich automatisch vor, ein bisschen mehr wie Momo zu werden. Denn das, was man den anderen an Aufmerksamkeit schenkt, bekommt man genauso wieder zurück. Und dieser Zugewinn an Lebensqualität und Lebenszeit ist einfach unbezahlbar.

Ich werde meine alte Retro-Taschenbuch-Ausgabe in den kommenden Jahren auf jeden Fall erneut konsultieren. Für alle, die Momo jetzt erst entdecken, gibt es eine Jubiläumsausgabe mit einem wunderschönen neuen Cover und neuen Illustrationen von Dieter Braun. Möge Momo in ihrer Zeitlosigkeit so auch noch in den nächsten Jahrzehnten unzählige Leser und Fans gewinnen, die den grausamen Zeit-Dieben – in welcher Form auch immer sie auftreten – den Garaus machen.

Michael Ende: Momo. Oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.  Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974, Thienemann Verlag, 2013, 304 Seiten,  ab 12, 19,95 Euro