Entfesselte Energie

Löwenmäulchen sind hübsche Blumen. Als Mädchenname taugt das von Hummeln sehr geschätzte Wegerichgewächs nicht so gut – im Deutschen. Snapdragon klingt dagegen super. Und passend für die mutige, eigenwillige Heldin in Kat Leyhs gleichnamigen Comic.

Hexen gibt’s nicht, oder?

Auf der Suche nach ihrem Hund fährt Snapdragon zum Haus der Hexe. Zumindest halten ihre Mitschüler sie für eine und erzählen gruselige Geschichten über die Einsiedlerin im langen schwarzen Mantel, mit großem Hut und dunkler Augenklappe. Aber Hexen gibt es doch nicht, oder?
Tatsächlich findet Snapdragon ihre kleine Bulldogge wohlbehalten bei der knurrigen, unheimlichen Frau. Und freundet sich nach und nach mit ihr an. Dabei spielen viele Tiere eine wichtige Rolle. Die meisten tot, überfahren auf der Straße. Jacks, so heißt die Alte, kümmert sich um sie, um ihre achtlos liegengelassenen Kadaver – und ihre Seelen. Den toten Tieren haucht sie wieder neues Leben ein, indem sie ihre Skelette minutiös rekonstruiert und an Sammler oder Museen im Internet verkauft. »Wow«, sagt Snapdragon beeindruckt. Jacks lächelt geschmeichelt. Bis das Mädchen gleich hinterherschiebt: »Jemand Altes, der das Internet benutzt.«

Respekt gegenüber allen

Das ist ein ganz kleiner Moment, drei Bilder kurz, in dem Kat Leyh, die bislang vor allem Superheldengeschichten illustriert hat, sehr geschickt und ganz beiläufig auch das Thema Altersdiskriminierung einflicht. Denn darum geht es in ihrem ersten Kindercomic: um Vielfalt und Respekt gegenüber allen. Allen Menschen und allen Lebewesen. Egal, ob Mädchen wild und draufgängerisch sind. Jungs lieber Mädchenkleider tragen und ein Faible für Lila haben. Frauen Motorradrennen fahren und Frauen lieben.
»Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang schon Carsten Friedrichs von der Liga der Gewöhnlichen Gentlemen (dessen brillante Songtexte auch als Buch zu haben sind, Später kommen, früher gehen, Ventil Verlag, 216 Seiten, 17 Euro). Das zu erkennen, zu akzeptieren und auszuleben kostet viel Energie. Es kann aber auch fantastische und inspirierende Kräfte entfesseln.

Seiten mit dramaturgischem Kniff

Von Außenseitern mit starkem Willen und großen Herzen erzählt Kat Leyh in klaren Panels mit kräftigen Farben. Ihre Figuren sind höchst lebendig, mit hochemotionaler Mimik und dynamischen Bewegungen. Auf manchen Seiten verwendet Leyh mit dem letzten Bild unten rechts einen dramaturgischen Kniff: In Serien würde man vielleicht von Cliffhängern sprechen. Hier sind es eher Appetithäppchen oder Teaser, die einen sofort neugierig umblättern lassen und gleich in die nächste Szene hineinziehen.

… und ein Schuss Magie

Eine starke Nebenfigur ist auch Snapdragons alleinerziehende, hart arbeitende Mutter. Respekteinflößend und ebenso respektvoll und anerkennend. Als sie zum Beispiel von der Arbeit weg in die Schule zitiert wird, ist sie nicht wütend auf ihre Tochter. Sie lobt Snapdragon, weil diese ihren Freund Lu gegen gehässige, sexistische Mitschüler verteidigt hat. Was ihr blumiger Vorname für eine Bedeutung hat, das ergibt sich in der in der wunderbar verwoben Geschichte und wird hier natürlich nicht verraten.
Kat Leyhs Snapdragon ist ein mitreißender, ausdrucksstarker und famos gezeichneter Comic, ebenso bunt wie seine Heldenfiguren. Mit einer spannenden Geschichte, beeindruckenden Charakteren – und einem klugen Schuss Magie.

Kat Leyh: Snapdragon, Übersetzung: Matthias Wieland, Lettering: Kathrin Liehr, Reprodukt, 240 Seiten, 20 Euro, ab 10

Monster, Mysterien und andere Merkwürdigkeiten

Freeman

Bevor sich jemand wundert: Ich mag keine bekleideten Tiere. Die Idee dahinter hat sich mir nie erschlossen. Als ob Tiere per se der kindlichen Realität und Wahrnehmung dann mehr entsprechen würden. Und das in Zeiten, in denen viele nicht mal mehr mit einem Haustier aufwachsen. Und wenn doch, dann trägt es bestimmt keine Klamotten. Ich glaube, dass es manchen Illustratoren leichter fällt, unterschiedliche Tiertypen statt verschiedene menschliche Charaktere zu zeichnen.
Zum Glück weiß nicht jeder von meiner Abneigung. Sonst wäre mir nicht Tor Freemans fabelhafter (das Wortspiel sei erlaubt) Kindercomic Willkommen in Oddleigh ans Herz gelegt worden.

Fabelhafte Vielfalt

Dass darin ausschließlich mehr oder minder bekleidete Tiere spielen, stört mich in diesem Fall nämlich überhaupt nicht. Ich verstehe sogar, warum sich die junge englische Kinderbuchautorin und Illustratorin Tor Freeman für tierische Helden entschieden hat. Ihre Comicbilder sind nicht nur ausgesprochen kunstvoll und vergnüglich anzusehen, darüber hinaus bringt sie ganz nonchalant eine ungeheuere Vielfalt in das typisch englische Städtchen Oddleigh. Odd heißt zwar »merkwürdig«, und merkwürdig sind die fünf Geschichten in diesem Buch auch: Angefangen mit Der Fluch von Lorringham, einer anspielungsreichen Mischung aus Sherlock-Holmes-Mystery und Edgar-Wallace-Atmosphäre.
Wo aber in anderen Büchern mühsam um diversity gerungen und bis zum geht nicht mehr gegendert wird, ist hier das gleichberechtigte Zusammenleben längst normal.

Vorliebe für Tee, Tweed und Kreuzworträtsel

Hauptfiguren sind die Kleinstadtpolizisten Chief und Sid. Chief leitet das Dezernat und ist ein erdferkelartiges weibliches Wesen namens Jessie. Sid ein freundlicher großer, roter Kater, ein wandelndes britisches Klischee, dessen Vorliebe für Tee, Kreuzworträtsel und Tweed mehrmals zu des Rätsels Lösung beiträgt.
Es tummelt sich allmögliches Getier in diesen Mysteries und Episoden. Doch nur bei der wahnhaften Verehrung eines Schmetterlingskokons durch eine Raupensekte spielen Art, Gattung und so etwas überhaupt ein Rolle. Viel interessanter ist die durchaus nicht ungefährliche Gruppendynamik dieses Kults.

Starkult und Glitzerzähnchen

Um einen anderen, nicht minder fragwürdigen Kult geht es auch in der letzten Geschichte, den Starkult, und was der wiederum in einer Familie anrichten kann.
Apropos Familie: Wer jemals beschämt mit grottigem Zahn in das glitzernde Zahnpastalächeln seines Dentisten geblickt hat, der wird sich über das dunkle Geheimnis des Zahnarztes freuen, Freud lässt grüßen.
Das macht Tor Freemans Bildergeschichten so grandios: Vermeintlich zeichnet sie zwar Comics für Kinder und empfiehlt sie ab 7+. Das Plus ist aber das große Plus, weil es für den erwachsenen Vor- und Mitleser massenhaft geistreiche und witzige Anspielungen gibt.

Kunst, Kino und Karaoke

So erhält zum Beispiel ein nach Millionen Jahren aus den Klippen gekratztes und nun quasi zugewanderte Flugsaurierkind einen Crashkurs für moderne Gesellschaften mit Fahrradfahren, Fastfood, öffentlichem Nahverkehr, Kunst, Kino und Karaoke.
So lass ich mir bekleidete Tiere gern gefallen.

Mehr zum Thema Mulltikulti liefert auch das folgende Buch: Sehr raffiniert vermischt Drew Weing in Die geheimnisvollen Akten von Margo Maloo mehrere klassische Kinderbuchsujets zu einem virtuosen Comic. Es geht um Monster, also Oger, Trolle, Kobolde, Geister in allen Formen, Größen und Nervgraden. Erzähler ist ein dicklicher, leicht nerdiger Junge namens Charles, der soeben mit seinen Eltern nach Echo City in ein düsteres, typisches Brownstonegebäude, ein ehemaliges Hotel gezogen ist. Und nicht nur die Skyline erinnert dabei an New York.

Superheldin und Stilikone

Natürlich gibt’s auch eine richtige, echte Superheldin – Margo Maloo. Wie aus dem Nichts taucht sie immer dann auf, wenn sie gebraucht wird, und verschwindet zum Kummer ihres eifrigen Begleiters auch immer wieder genauso schnell und grußlos.
Margo Maloo trägt statt Cape einen schicken, langen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, Benedict Cumberbatchs moderne Sherlock Holmes Interpretation im ikonischen Belstaff lässt grüßen, dazu schwarze Chelsea Boots und ebenso schwarzer Brooke-Shields-Bob-Haarschnitt. Geradezu ein It-Girl, wäre Margo nicht viel zu klug und beschäftigt, um auf Social Media Kanälen rumzuturnen und anderen Stil beizubringen.

Vermittlerin zwischen Monstern und Kindern

Margo ist keine Geisterjägerin, geschweige denn eine Ghostbuster*in (der Versuch, den 80er Jahre Trash zu feminisieren, ging vor einiger Zeit im Kino richtig daneben und war echt eklig).
Nein, Margo nennt sich Monster-Mediatorin und genau das kann sie: zwischen Kindern und Monstern vermitteln. Denn auch die häufig etwas plumpen, krawalligen, mit gefährlichem Appetit ausgestatteten Wesen in der Dunkelheit haben eine Existenzberechtigung.

Monster sind auch nur Mütter

Mit Charles lernen wir: Monster sind manchmal auch nur Mütter. Und sie kaufen ebenso ein, wohnen, spielen, raufen und saufen, haben Berufe, Familien und lange Vorgeschichten. Sammler und Nerds sind ebenso dabei. Sie sind hilflos, haben selbst Angst und Vorurteile, und benehmen sich nicht immer sehr diplomatisch. Aber eigentlich ist eine Stadt wie Echo City groß genug für Kinder und Monster, das ist nur eine Frage des Respekts. Das lehrt uns die wunderbare Margo Maloo in fantastisch gezeichneten Bildstrecken mit kühnen Perspektiven, gruseligen Abgründen und einem Sammelsurium an wundersamen Wesen. Ein anständiges Glossar gibt’s natürlich auch zum Schluss. »Sind Kinder an diesem Ort nicht die einzige unterdrückte Minderheit? Haben wir hier möglicherweise etwas gemeinsam … mit einem uralten Feind?«, resümiert Charles in seinem Blog. Wie es weitergeht in Echo City und Oddleigh, das erfahren wir hoffentlich ganz bald. Denn darauf war zumindest früher immer Verlass bei Comics – Fortsetzung folgt.

Tor Freeman: Willkommen in Oddleigh, Übersetzung: Matthias Wieland, Handlettering: Olav Korth, Reprodukt, 2020, 64 Seiten, ab 7, 18 Euro

Drew Weing: Die geheimnisvollen Akten von Margo Maloo, Übersetzung: Matthias Wieland, Handlettering: Michael Hau, Reprodukt, 2020, 72 Seiten, ab 8, 18 Euro