Harry Potter – die nächste Generation

potterVergangene Woche hat der Carlsen Verlag mit der Harry-Potter-Lesenacht das Erscheinen der deutsche Ausgabe von Harry Potter und das verwunschene Kind, übersetzt von Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, opulent und gebührend gefeiert. Im „Drei Besen“ konnte man Vielsafttrank genießen, es gab ein Trimagisches Turnier, der sprechende Hut sortierte die Gäste in die vier Häuser Hogwarts ein und die Hauselfen von Carlsen sorgten liebevoll für das Wohl der Fans.
Gelesen wurde auch: der Epilog von Band 7, womit man sofort wieder im Geschehen rund um Harry, seine Familie und die nächste Generation der magischen Welt war und sich nun auf die achte Geschichte stürzen konnte.

Meine persönliche Harry-Potter-Leseerfahrung liegt mittlerweile lange zurück. Kurz vor der Jahrtausendwende packte es mich, und ich las mich pünktlich zum Erscheinungstermin durch die jeweiligen Bände. Ich entdeckte die Kinder- und Jugendbuchliteratur neu, ohne allerdings die HP-Geschichten bis ins kleinste zu analysieren.
Mit der Zeit kamen dann die HP-Filme hinzu, sodass aktuell die Bilder aus den Filmen meine eigenen Fantasien überlagern. Harrys Welt ist zu einem sehr speziellen Kosmos geworden. Doch in diesen bin ich mit dem neuen Buch von J.K. Rowling gleich wieder eingestiegen.

Mittlerweile dürfte allen bekannt sein, dass es sich bei Harry Potter und das verwunschene Kind nicht um einen auserzählten Roman, sondern um ein Theaterstück handelt. Dies hat bereits nach Erscheinen des englischen Originals Diskussionen in den Netzwerken und unter den Harry Potter-Fans hervorgerufen, Erwartungen geschürt und auch Enttäuschung bereitet.
Und so habe ich mich an die Lektüre gemacht, neugierig, aber doch mit einer gewissen Skepsis, ob es mich wieder so packen würde wie vor etwa 15 Jahren.

Das Stück war rasch gelesen, und ja, es hat mich gepackt. Ich sah sie wieder vor mir: Harry, Ron, Hermine, Draco und Dumbledore. Es glich einem Treffen mit lieben alten Bekannten. Dennoch hat mich die Geschichte nicht vollständig befriedigt.

Da ich mich in den vergangenen Jahren nicht ständig mit dem Harry-Potter-Universum und seinen diversen Fortentwicklungen beschäftigt habe, war ich unsicher, ob ich diese neue Werk auch richtig einschätzen kann.
Daher habe ich der Harry-Potter-Expertin Lisa Kuppler in Berlin ein paar Fragen gestellt, die bei der Einordnung dieses Werkes vielleicht weiterhelfen können. Lisa beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Harry Potter und seiner magischen Welt, sie schreibt Fanfiction und ist in diversen Fan-Communities aktiv.

Zunächst habe ich Lisa gefragt, ob es sich beim „Verwunschenen Kind“ nicht um eine Mogelpackung handelt, da der Text nicht allein von J.K. Rowling stammt, sondern auch der Drehbuchautor Jack Thorne und der Theaterregisseur John Tiffany daran mitgewirkt haben.

Lisa Kuppler: Ich finde nicht. Zumindest noch nicht bei dieser Ausgabe, die ja erst das „Special Rehearsal Edition Script“, also der Proben-Text, ist. Es soll auch noch die endgültige Skript-Fassung kommen, und das ist dann echt nur noch Geldmacherei.

Ulrike Schimming: Welchen Anteil hat Rowling an dem Stück gehabt?

LK: Nach allem, was ich gehört habe, hat Rowling mehr als nur die Grundidee geliefert. Ich denke, sie hat zumindest den Plot verfasst und Thorne hat es dann als Theaterstück ausgeschrieben. Und sie hat die endgültige Theaterfassung gelesen und abgesegnet. Deshalb ist muss man „Das verwunschene Kind“ schon als ihre Vision sehen (als Rowling-Kanon).

US: Hat dich an der Form der neuen Geschichte etwas gestört? Man ist ja relativ schnell durch damit und taucht nicht so tief in das Geschehen ein.

LK: Es ist ein Theaterstück und kein Roman, und ja, man kann es schnell weglesen und es berührt einen kaum, weil alle erzählenden Passagen und die Innensicht der Figuren fehlen. Die Regieanweisung sind ja rein behauptet, ganz im Sinne einer Regieanweisung: Schauspieler, mach das. Und der Schauspieler macht es, aber im Text steht das nicht, was der Schauspieler macht. Und auch die Welt muss man sich selbst vorstellen, weil man ja keine Bühne und Bühnenbild sieht, wie die Zuschauer und Zuschauerinnen im Theater.

US: Mir kamen die vielen Zeitreisen in dem Stück fast wie ein etwas hilfloser Trick vor, den Zuschauern die Vorgeschichte wieder näher zu bringen und sie wie in einer Rückblicksparade an die verschiedenen Figuren und Umstände zu erinnern.

LK: Ich finde es legitim, dass die Zeitreisen-Struktur verwendet wird, um bekannte und geliebte Figuren und Orte und Szenarien wieder auftauchen zu lassen. Es ist auch eine Chance, um ein „Voldemort-hat-gewonnen“-Szenario auszuprobieren bzw. uns ein Hogwarts zu zeigen, wie es im 7. Buch unter den Todessern mit Headmaster Severus Snape war, was wir im Buch ja kaum sehen.
Die Geschichte von Harry Potter wird dadurch allerdings nicht wirklich weiterentwickelt. Es gibt keine neue Geschichte. Das verwunschene Kind ist eher eine Art verlängerter und ausgeschriebener Epilog, würde ich sagen.

US: Albus und Scorpius reisen in die Vergangenheit und kämpfen letztendlich wieder einen ähnlichen Kampf wie ihre Eltern. Zwischendrin kam bei mir das Gefühl auf, als hätten die Jungs und Mädchen dieser Zauberergeneration keine eigenen Probleme, wenn man mal von dem durchgängigen Vater-Sohn-Konflikt zwischen Harry und Albus absieht.

LK: Dass die Kinder keine Probleme haben, das finde ich nicht. Ja, es gibt keinen Krieg mehr, und keinen offensichtlichen Bösen wie Voldemort, aber Scorpius und Albus haben schon echte Probleme. Vor allem Probleme, wie sie oft in Jugendbüchern verhandelt werden: wie die soziale Stellung und die Geschichte der Elterngeneration die neue Generation beeinflusst, Probleme für sie schafft und ihre Beziehungen zueinander prägt. Der einsame, schüchterne, weltfremde Scorpius; Albus, der sich an der Vaterfigur Harry Potter abkämpft; die Feindseligkeit von Rose gegenüber Scorpius, die nur in der Vergangenheit begründet ist und nichts mit Scorpius zu tun hat. Die Generation von Albus und Scorpius hat durchaus eigene Probleme, nur sind es eben ganz andere als die der Generation von Harry, Hermine und Ron.

US: Die Freundschaft von Albus und Scorpius ist einer der emotionalen Hauptpunkte im Stück, quasi ein versöhnliches Gegenstück zur Feindschaft zwischen Harry und Draco. Man entdeckt dabei natürlich sehr schnell den queeren Subtext, der am Ende jedoch wieder hetero-normativ überformt und somit negiert wird. Ist das ein halbherziger Kompromiss, die Figuren von HP vielfältiger zu machen?

LK: Der homosexuelle Subtext ist in der Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ganz klar da. Teile des Harry Potter-Fandoms sind frustriert, dass Rowling-Thorne aus Albus und Scorpius kein offen schwules Paar gemacht haben. Im Fandom wird Rowling deshalb auch Queerbaiting vorgeworfen, also, dass sie absichtlich Figuren queer anlegt, damit die queeren Leser_innen sich identifizieren, um sie am Ende doch wieder eindeutig hetero zu machen. Ich persönlich bin ich nicht enttäuscht, obwohl ich Slash (queere Fanfiction) schreibe und lese. Ich finde es vermessen, von Rowling zu erwarten, sie solle zu einer Sprecherin für LGTB*-Rechten werden. Und das würde sie, wenn sie Das verwunschene Kind als schwule Jugend- und Liebesgeschichte geplottet hätte. Rowling hat sich immer positiv für queere Menschen und Belange eingesetzt, es ist klar, wo sie in der Frage steht. Doch ihr politisches Engagement gilt Kindern in staatlichen und anderen Betreuungs-Einrichtungen (dies macht sie über ihre Stiftung „Lumos“). Aus meiner Sicht braucht sie queere Belange nicht dadurch zu unterstützen, indem sie die beiden Hauptfiguren des Theaterstücks offen schwul macht.
Ich würde mir wünschen, Rowling würde z. B in den „Fantastic Beasts“-Filme („Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“) eine queere Nebenfigur einführen, bzw. falls Albus Dumbledore tatsächlich in den Filmen auftaucht, wie gerüchteweise vermutet wird, dass er deutlich und explizit schwul ist. Rowling hat in Interviews gesagt, Dumbledore sei schwul, doch in den HP-Büchern steht es explizit nirgends. Es wäre schön, wenn Rowlings Interviewaussage wenigstens in den Filmen zu sehen wäre.
Beim Verwunschenen Kind bin ich sehr froh und erleichtert, dass Rowling-Thorne sich nicht gescheut haben, eine enge Jungenfreundschaft liebevoll und auch körperlich mit Umarmungen darzustellen, selbst wenn das Publikum dann vielleicht einen queeren Subtext in der Beziehung sehen kann. Die enge Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ist deshalb für mich kein halbherziger Kompromiss, um queere Themen zu repräsentieren. Rowling-Thorne wollten eine „ganz normale“ Jungenfreundschaft darstellen und haben nicht aus lauter Angst, man könnte Albus und Scorpius, OMG, als *queer* lesen, alle körperlichen Aspekte von Freundschaft gestrichen und eine sterile Beziehung zwischen den beiden geschrieben.

US: Anders sieht es bei den Frauenfiguren aus, die ich allesamt als ziemlich schwach und blass empfunden habe. Überspitzt gesagt, die Frauen sind entweder tot (Astoria, Scorpius Mutter), böse (Delphi) oder verschwinden als Folge der Zeitreise (Rose). Auch gibt es keine Szene, in der Ginny mit ihrem Sohn Albus redet. Wie kann das sein? Mag Rowling keine Frauenfiguren? Oder ist hier die Handschrift von Thorne und Tiffany deutlicher zu spüren?

LK: Da sehe ich gerechtfertigte Kritik am Verwunschenen Kind und stimme ich dir voll zu: Die Frauenfiguren sind blass bzw. so unsympathisch, dass man sie einfach nicht leiden mag. Ich kann mich ebenfalls an keine Szene zwischen Ginny und Albus erinnern, nur an die Szenen zwischen Ginny und Harry, wenn sie über Albus sprechen.
Aber das ist ganz klar Rowlings Handschrift. Wie weit Tiffany und Thorne Rowlings Schwäche, was Frauenfiguren betrifft, verstärkt haben, kann ich nicht sagen. Aber Rowling versagt immer dann, wenn es um Liebesbeziehungen zwischen Teenagern geht, sie macht sich dann immer über die romantisch verliebten Mädchen lustig (Lavender Brown, Cho Chang oder Ginny als ganz junges Mädchen). Deshalb gibt es weder in den Harry Potter-Büchern noch jetzt im Verwunschenen Kind eine ernst zu nehmende Hetero-Romanze, worüber ich, ehrlich gesagt, froh bin.

US: An eine Episode erinnere ich mich in den Büchern überhaupt nicht: Deutet sich da bereits an, dass Bellatrix und Voldemort ein Kind zeugen? Es kommt mir im Verwunschenen Kind ein bisschen unvermittelt vor, fast schon zu gewollt, als wäre das die einzige Lösung gewesen, um Scorpius einen Hauch von Bosheit anzuhängen. Oder übertreibe ich jetzt?

LK: In der HP-Serie war Bellatrix Lestrange Voldemort schon sehr verfallen, aber in den Büchern (im Gegensatz zu den Filmen) hatte das meines Erachtens nie eine erotische Komponente. Bellatrix zeichnete sich ja anders als die „guten“ Frauenfigur (Molly, Andromeda, Tonks) genau dadurch aus, dass sie nie Kinder wollte. Bei Rowling sind gute Frauen immer gute Mütter. Selbst Narcissa Malfoy wird im Buch dadurch zur positiven Figur, dass sie sich für Draco einsetzt und ihn retten will. So eine Motivation gibt es für Bellatrix, die ja Narcissa Schwester ist, nicht. Dass Voldemort und Bellatrix eine Tochter haben, ist für mich ziemlich absurd. Voldemorts Ziel war es ja immer, selbstsüchtig sein eigenes Leben zu verlängern, nicht, sich über Kinder fortzupflanzen.

US: Hat sich Rowling beim Verwunschenen Kind eigentlich irgendwie vom Fandom beeinflussen lassen?

LK: Ich glaube nicht, und wenn, dann nur ironisch – wie beispielsweise durch das Gerücht, Scorpius sei das Kind einer Vergewaltigung Astorias durch Voldemort. Solche Fanfiction gibt es bestimmt, und hier kann ich mir vorstellen, Rowling-Thorne haben dieses Gerücht so überspitzt und sexualisiert formuliert, um sich über die Auswüchse von Fanfiction lustig zu machen.
Aus der Sicht eines Fans und als Teil des HP-Fandoms bin ich amüsiert darüber, dass Rowling-Thorne genau über die Figuren schreiben, die auch in der Fanfic sehr populär sind: Harry und Draco, und Albus und Scorpius. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Rowling-Thorne Fanfic lesen, sondern es ergibt sich aus den HP-Büchern: Draco ist die interessanteste Figur auf der Seite der Todesser, er ist eine Art Spiegelfigur für Harry. Und Albus und Scorpius sind ja schon im Epilog als Gleichaltrige angelegt, die sich direkt mit der Vergangenheit der Eltern-Generation auseinandersetzen müssen.
Dass sich sowohl die Fanfic wie Rowling-Thorne auf Draco und seine Beziehung zum erwachsenen Harry konzentrieren, finde ich nur logisch. Und die Scorpius-Szenen am Anfang des Theaterstücks, im Hogwarts-Express, sind ja quasi Spiegelszenen der Hogwarts Express-Szenen in Harry Potter und der Stein der Weisen. Mir hat sehr gut gefallen, dass es für Draco eine Wiedergutmachung gibt: Er hat aus seinen Fehlern gelernt und geht mit den aktuellen Ereignissen sogar abgeklärter um als Harry.

US: Ja, Harry kommt im Stück manchmal doch etwas ratlos daher oder wird gar zu einem Helikopter-Vater, der Albus mit der Karte der Rumtreiber kontrollieren will. Das macht ihn nicht gerade sympathisch und kam mir fast wie ein Verrat an dem ehemaligen Helden vor.

LK: Du hast Recht, ein bisschen haben Rowling-Thorne Harry im Stich gelassen. Er kommt hier nicht gut weg, ich mochte die Figur auch nicht besonders. Und die Szenen mit Porträt-Dumbledore, in denen Rowling-Thorne sicher das schwierige Verhältnis zwischen Harry und seinem Mentor hatten klären wollen, gehören für mich zu den schwächsten des Theaterstücks. Sie sind kompletter Kitsch, finde ich, ohne wirklich eine inhaltliche Aufarbeitung.
Man hätte sich ja eine ganz andere Geschichte für das Theaterstück ausdenken können, in dem Harry vor neuen Herausforderungen als Leiter der Aurorenzentrale steht. Persönlich hätte ich die viel lieber gelesen, aber dafür gibt es ja Fanfic und wenn die Trailer von „Fantastic-Beasts“ halten, was sie versprechen, bekommen wir da die magischen Abenteuer, die ich mir für „Das Verwunschene Kind“ gewünscht hätte.

US: Hätte Rowling besser daran getan, wieder einen richtigen Roman zu schreiben? Oder hat sich die HP-Welt durch die Filme, Pottermore, die Wizarding World-Themenparks, das riesige Fandom und nun auch durch ein Theaterstück mittlerweile so von ihrer Schöpferin emanzipiert, dass sie sie gar nicht mehr beeinflussen kann (oder will)?

LK: Rowling möchte keinen neuen HP-Roman schreiben, das stand nie zur Debatte. In Interviews hat sie erklärt, sie bekomme pro Woche Hunderte von Anfragen, was sie mit Harry Potter machen könne, und als John Thorne, den sie persönlich kennt, mit der Idee eines Theaterstücks auf sie zukam, hat sie Ja gesagt. Ich bin überzeugt, dass es genau so war. Und immerhin liest jetzt eine ganze Generation mal ein Theaterstück und Leute gehen ins Theater, die noch nie ein Schauspielhaus betreten haben. Das waren die ideelen Beweggründe, glaube ich.
Dass Rowling weiterhin ihr Harry Potter-Universum ausweiten möchte, zeigen die „Fantastic-Beasts“-Filme. Rowling hat das Drehbuch zu allen drei Filmen geschrieben. Hier bin ich wirklich gespannt auf die Geschichten, die sie und das Filmteam uns erzählen werden.

US: Das sollten wir uns also im November im Kino anschauen. Liebe Lisa, ganz herzlichen Dank für diese aufschlussreichen Erläuterungen. Jetzt würde ich die Harry-Potter-Saga doch fast noch einmal von vorn lesen …

J.K. Rowling/John Tiffany/Jack Thorne: Harry Potter und das verwunschene Kind, Teil eins und zwei, Übersetzung: Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, Carlsen, 2016, 334 Seiten, 19,99 Euro

Die Bibel für Hobbitologen

Bildgewaltige Kinoerlebnisse werfen ihre Schatten voraus. Peter Jackson hat abgedreht, und am 13. Dezember dieses Jahres kommt der erste Teil seiner Hobbit-Verfilmung in unsere Kinos. Der Trailer im Netz verspricht bereits wieder großartige Unterhaltung.

Um sich die Zeit bis dahin entsprechend zu verkürzen und das Abenteuer von Bilbo Beutlin, den Zwergen, Gandalf und dem Drachen Smaug schon vorab zu lesen (falls man das noch nicht getan hat), kann man sich jetzt in die annotierte Fassung von John R.R. Tolkiens Der Hobbit vertiefen. Neben dem kompletten Text, in der Übersetzung von Wolfgang Krege, finden sich in dem opulent aufgemachten Buch alle wichtigen historischen Informationen zu dem Werk selbst.

Douglas Anderson, renommierter Tolkien-Forscher, referiert die Entstehungsgeschichte des Textes, er umreißt Tolkiens Biografie und zeigt auf, was davon in dem Text Eingang gefunden hat. Ebenso zeichnet er die Verlagsgeschichte des Buches nach, nennt Auflagenzahlen und verweist auf Rezensionen und Rezeption.

Tolkiens Text begleiten dann unzählige Anmerkungen, farblich in petrolblau abgesetzt, die über Hobbitkunde, den berühmten ersten Satz („In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.“), das genaue Aussehen des kleinen Helden, Tolkiens Skizzen und Bezüge zu Der Herr der Ringe informieren. Zeichnungen, Stiche, Illustrationen und Faksimiles aus anderen internationalen Übersetzungen bereichern die Lektüre. Im Innenteil finden sich die farbigen Cover der deutschen Hobbit-Ausgaben.

Die Übersetzerin und Editorin der Anmerkungen, Lisa Kuppler, hat zudem einen Abriss über die Verlagsgeschichte des Hobbits in Deutschland beigesteuert. Hierin erfährt man auch, wie Tolkien auf den von ihm, für eine geplante deutsche Ausgabe 1938, geforderten Arier-Nachweis reagiert hat – nämlich brillant und scharfzüngig. Es ist eine wahre Genugtuung, dass dieser Brief, der nie nach Deutschland geschickt wurde, so endlich auch der breiten Leserschaft zugänglich gemacht wurde.

Das Buch ist folglich ein aufschlussreiches und gelungenes Muss für alle Hobbitologen und Fans von Bilbo, Smaug und Gandalf.

Lisa Kuppler, begeisterter Tolkien-Fan, hat mir ein paar Fragen zu diesem umfangreichen und kleinteiligen Übersetzungsprojekt beantwortet.

Wie sind Sie zum Hobbit gekommen? Wann haben Sie den Roman zum ersten Mal gelesen?

Wie wahrscheinlich die meisten, habe ich den Hobbit mit 12, 13 Jahren gelesen, Mitte der 70er Jahre. Ich bin über den Herrn der Ringe zu Tolkien gekommen, und als ich die drei Bände durch hatte, habe ich alles verschlungen, was es sonst noch aus der Welt von Mittelerde zu lesen gab. Der Hobbit war mein zweites Tolkien-Buch.

Was macht für Sie die Faszination der Hobbit-Geschichte aus?

Als jugendliche Leserin war der Hobbit für mich immer die Vorgeschichte zu den Ereignissen des Herrn der Ringe: Wer ist dieser Bilbo Beutlin? Wie ist er zu dem Einen Ring gekommen, den nach ihm Frodo trägt? Was hat der Ring mit ihm gemacht? Das waren die Fragen, die mich interessierten. Wenn ich den Hobbit heute lese, fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie wir Leser mit Bilbo auf diese seltsame Reise gehen, zusammen mit der kuriosen Truppe an Zwergen und Gandalf. Heute kann ich den Humor des Hobbits viel mehr schätzen. Und die große moralische Entscheidung, die Bilbo am Ende des Buches treffen muss, wenn er Bard und dem Elbenkönig den Arkenstein bringt, um Frieden zwischen den Menschen und den Zwergen zu erzwingen.

Ist der Hobbit eigentlich immer noch ein Kinderbuch? Oder liegt hier ein ewiges Missverständnis vor?

Ja, der Hobbit ist immer noch ein Kinderbuch. Dass man ihn auch mit 30, mit 40 und wahrscheinlich auch noch mit 70 Jahren mit Freude immer wieder lesen kann, und dabei etwas Neues daran entdecken – das ist es, was den Hobbit zu einem Klassiker macht.

Das Missverständnis, der Hobbit sei „eigentlich“ ein Buch für Erwachsene, kommt daher, dass man in Deutschland von Kinderbüchern einerseits eine deutlich erzieherische Botschaft erwartet, andererseits Kinder vor so genannten Erwachsenenthemen „schützen“ will. Kinderbücher werden hierzulande als eine spezielle Art von Literatur gesehen. Tolkien betrachtete seine Bücher als Märchen, als „fairy tales“, die er für Leser jeden Alters schrieb, die Geschichten liebten und sich auf das Eintauchen in eine Fantasiewelt einlassen wollten. Er steht damit in der Tradition von Lewis Carrolls Alice im Wunderland oder auch Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden. Ihm ging es um das Spielerische – vor allem mit Sprache und literarischen Traditionen – und das Fantasieren im „Experimentalraum Buch“, was für Tolkien kein Eskapismus war, sondern ein für jeden Menschen notwendiger Freiraum.

Worin lagen die Schwierigkeiten, diese z.T. sehr kleinteiligen Annotationen zu übersetzen?

Eine Herausforderung bei der Übersetzung waren die vielen unterschiedlichen Textformen der Anmerkungen, die Douglas Anderson akribisch zusammengetragen hat: Das Große Hobbit-Buch enthält Lexika-Einträge, Zitate aus Sekundärliteratur, Biografien und den Briefen Tolkiens, Werbe- und Rezensionstexte, mittelalterliche Gedichte, isländische Märchen, Romanauszüge, Passagen aus etymologischen und linguistischen Abhandlungen usw. usw. Als Übersetzerin war es meine Aufgabe, die verschiedenen Stile und Textformen überzeugend ins Deutsche zu übertragen.

Im Großen Hobbit-Buch werden einige Romane und Märchen zitiert, die Tolkien beeinflussten – das in Deutschland weitgehend unbekannte Märchen Puss-cat Mew oder E. A. Wyke-Smiths The Marvellous Land of Snergs – die noch nie ins Deutsche übersetzt wurden. Hier konnte ich also auf keine publizierten Übersetzungen zurückgreifen.

Darüber hinaus sind im Großen Hobbit-Buch Gedichte von Tolkien abgedruckt, die zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht werden. Der Verlag hatte sich entschlossen, diese Gedichte sowohl im englischen Original als auch in einer Prosaübersetzung (also nur dem Inhalt nach, nicht in Gedichtform) abzudrucken. Ich war für die Prosaübersetzungen verantwortlich, was sehr aufregend war.

Eine andere Herausforderung lag darin, dass es im Deutschen zwei Übersetzungen des Hobbit gibt, die eine davon zudem noch in zwei recht unterschiedlichen Fassungen. Da die meisten Leser den Hobbit nur auf Deutsch kennen, war es mir ein Anliegen, auch auf Unterschiede oder Kuriositäten in den Übersetzungen hinzuweisen. So wurden zum Beispiel die Orks in der ersten Hobbit-Übersetzung noch „Kobolde“ genannt, und die Sackheim-Beutlins, Bilbos missgünstige Verwandten, hießen dort noch „Beutelstadt-Baggins“.

Spannend zu übersetzen waren für mich alle Anmerkungen, in denen auf die englischen Wortursprünge und Worthintergründe eingegangen wird. Dort habe ich versucht, zusätzlich deutsche Entsprechungen und Ergänzungen zu finden, speziell auch beim Rätselspiel zwischen Bilbo und Gollum. Ich war überrascht, wie viele deutsche Rätselsammlungen es gibt, in denen Worträtsel zu finden sind, die denen, die Tolkien im Hobbit verwendet, sehr ähnlich sind.

Wie rechercheaufwendig war die Arbeit an der Übersetzung?

Das Große Hobbit-Buch war von vornherein nicht nur als bloße Übersetzung von Douglas Andersons Buch geplant, sondern es sollte auch speziell für die deutsche Leserschaft editiert werden. Deshalb ist in diese Übersetzung einiges mehr an Recherche geflossen als üblich.

Eine Besonderheit des Großen Hobbit-Buches sind die vielen Hobbit-Illustrationen, die das Buch bebildern. Douglas Anderson hat Kurzbiografien der Tolkien-Illustratoren zusammengetragen, und dabei ihre im englischen Sprachraum wichtigsten Werke aufgeführt. Die meisten dieser englischen Ausgaben sind nie ins Deutsche übersetzt worden. Wo immer möglich habe ich nun Andersons Angaben ergänzt um deutsche Titel, die ebenfalls von den jeweiligen Illustratoren bebildert wurden. Allein schon diese Ergänzungen waren mit sehr viel Recherchearbeit verbunden.

In der Mitte des Großen Hobbit-Buches befindet sich ein Bildteil, der in der deutschen Ausgabe um elf Cover von deutschen Hobbit-Ausgaben erweitert wurde. An die Cover der zum Teil nur noch teuer antiquarisch zu erstehenden Ausgaben bin ich nur durch die Mithilfe des Projekts Deutsche Tolkien-Bibliographie, einer Gruppe von Fans und Buchliebhabern, gekommen, die alle jemals in Deutschland erschienene Hobbit-Ausgaben sammeln.

Einiges an Recherche war auch für das Nachwort nötig, in dem ich die Veröffentlichungsgeschichte des Hobbits in Deutschland skizziert habe. Ich habe drei Interviews geführt, vor allem um die Hintergründe der Ost-West Doppel-Edition des Hobbit von 1971 herauszubekommen, die so vorher noch nicht bekannt waren.

Welche Annotation oder Anekdote im Buch ist Ihre liebste?

Ich kann mich kaum für eine Lieblings-Anmerkung entscheiden. Alles ist interessant. Doch besonders faszinieren mich die Anmerkungen zum Kapitel 5 „Rätsel im Dunkeln“, in denen Douglas genau die Änderungen nachvollzieht, die Tolkien erst 1951 im Text des Hobbit korrigierte. Die Erstausgabe des Hobbit von 1937 war, in Bezug auf Gollum und die Ereignisse von Kapitel 5, noch anders als die Fassung, die wir heute lesen. Tolkien selbst hat hier 14 Jahre nach dem Erscheinen des Hobbit Revisionen vorgenommen, weil er inzwischen am Herr der Ringe schrieb, und die Handlung angleichen wollte. Mich fasziniert dabei, wie sich die Geschichte im Buch in der Publikationsgeschichte spiegelt: Die Erstfassung des Hobbit von 1937 entspricht der nicht ganz wahrheitsgetreuen Geschichte Bilbos, die er zuerst den Zwergen auf die Nase bindet; die Fassung des Hobbit von 1951 entspricht der Geschichte vom Ringfund, wie er sich wirklich zugetragen hat. Heute wären solche Änderungen an einem schon längst erschienen Buch einfach nicht mehr möglich.

Eine Anekdote, die in einer Fußnote der Einführung erzählt wird, hat mich sehr beeindruckt. Sie vermittelt schlaglichtartig etwas vom Alltagsleben des Autors Tolkien, der immer mit Geldsorgen zu kämpfen hatte. 1938 erhielt Tolkien einen Kinderbuch-Preis, der von der New York Herald Tribune gestiftet wurde und mit 250 US-Dollar dotiert war. Das Preisgeld wurde ihm per Brief geschickt, und seine Kinder John und Priscilla erinnern sich noch eindrücklich daran, wie Tolkien das Geld aus dem Brief nahm, um es seiner Frau Edith zu reichen, die damit eine ausstehende Arztrechnung begleichen konnte.

Auf welche Anmerkungen hätten Sie gern verzichtet?

Es gibt keine einzige Anmerkung, die ich gerne gestrichen hätte; im Gegenteil: Manche editorische Notiz Douglas‘ – also Hinweise auf rein sprachliche Korrekturen in den englischsprachigen Ausgaben – hätte ich am liebsten auch noch mit ins Große Hobbit-Buch aufgenommen, obwohl das für deutsche Leser vielleicht langweilig gewesen wäre oder aus Platzgründen unmöglich. Immer, wenn in solchen Notizen Inhaltliches eine Rolle spielte, habe ich sie übersetzt. So zum Beispiel Anmerkung 9 im Kapitel 1, wo Douglas berichtet, dass in der Erstausgabe des Hobbit noch von bösen Gerüchten die Rede war, der eine oder andere Tuk hätte vor Urzeiten einmal in eine Ork-Familie eingeheiratet. In der Ausgabe von 1966 wurde dieser Satz gestrichen, es blieb das Gerücht, ein Vorfahre der Tuks müsse wohl einmal eine Elbin geheiratet haben.

Welche fehlt Ihrer Meinung nach?

Wenn Weihnachten 2013 beide Verfilmungen des Hobbit in den Kinos laufen, könnte man natürlich auch die Film-Interpretation und Informationen zur filmischen Adaption in den Anmerkungsapparat zum Hobbit einbauen. Es ist also definitiv noch Material da für Überarbeitungen und Ergänzungen des Großen Hobbit-Buchs.

War es nicht manchmal auch ein bisschen dröge nur die Anmerkungen einzudeutschen? Hätten Sie nicht viel lieber den Hobbit selbst neu übersetzt?

Ganz ehrlich: nein. Es gibt zwei Hobbit-Übersetzung, die unterschiedlich sind, aber beide auf ihre Art sehr gut. Es braucht keine neue, dritte Hobbit-Übersetzung, und wenn, dann erst in fünfzehn, zwanzig Jahren.

Ich habe mit viel Begeisterung die Einführung und die Anmerkungen übersetzt. Aber bei jedem Originalgedicht Tolkiens, für das ich eine Prosaübersetzung angefertigte, hätte ich mir ein paar Tolkienkenner zur Seite gewünscht, mit denen ich Wortwahl und Bedeutung diskutieren hätte können. Ich habe riesigen Respekt für Tolkiens Lyrik-Übersetzer, allen voran Ebba-Margareta von Freymann, die die Gedichte im Herrn der Ringe übersetzte. Da nie alle Gedichte des Hobbit vollständig ins Deutsche übersetzt wurden, hat der Verlag für das Große Hobbit-Buch Joachim Kalka beauftragt, der noch fehlenden Strophen wundervoll ins Deutsche übertragen hat.

Gibt es ein weiteres Tolkien-Projekt auf Ihrem Schreibtisch?

In enger Zusammenarbeit mit dem Lektor Stephan Askani vom Klett-Cotta Verlag habe ich gerade die Übersetzung des Herrn der Ringe von Wolfgang Krege auf Fehler durchgesehen und behutsam korrigiert. Das war ein äußerst spannendes Projekt, weil wir zwar Fehler beseitigen, aber den besonderen und eigenwilligen Ton und Stil Kreges erhalten wollten. Die Neuausgabe wird im Herbst erscheinen.

John R. R. Tolkien: Das große Hobbit-Buch. Der komplette Text mit Kommentaren und Bildern. Herausgegeben von Douglas Anderson, Übersetzung: Wolfgang Krege, Übersetzung und Edition der Anmerkungen: Lisa Kuppler, Klett-Cotta, 2012, 418 Seiten, 29,95 Euro