Dass das mit dem „großen bösen Fuchs“, wie der französische Illustrator Benjamin Renner seinen neuen Comic nennt, pures Wunschdenken des Helden ist, sieht man schon auf dem Titelbild: An das ziemlich müde, verkatert und absolut harmlos aussehende Pelztier kuscheln sich liebe- und vertrauensvoll drei putzmuntere Küken .
Tatsächlich haben Füchse kleine Vögel und auch schon deren Vorstufen, die Eier, zum Fressen gern, wortwörtlich. Friedlich mit ihnen zu spielen liegt nicht in ihrer Natur und entspricht bestimmt nicht dem Image eines gefährlichen Raubtiers. Das nennt man eine klassische Text-Bild-Schere – ein sehr anschaulicher Begriff aus dem Journalismus. Und etwas, das jeder aus seinem eigenen Leben nur allzu gut kennt: Man wäre gern souverän, cool, über den Dingen stehend und von allen respektiert. Oder eine erfolgreiche Karrierefrau, die Chefin, auf die alle hören, immer Herrin (absurder Ausdruck!) der Lage, die nebenher lässig Kinder wuppt und ebenso beiläufig ein fünfgängiges, total leckeres und gesundes Menü aus dem Ärmel zaubert. Aber so läuft’s selten mit den lieben Kleinen.
Aber wie ist der arme Fuchs überhaupt an den Anhang gekommen? Womit wir wieder zum klaffenden Unterschied zwischen Vorstellung und Realität kommen: Dieser Fuchs ist ein Loser, die totale Lusche. Niemand nimmt ihn ernst, wenn er sich auf den Bauernhof schleicht, um ein Ei zu klauen gegen seinen großen Hunger, da lachen ja die Hühner, im besten Fall. Meist sind sie ziemlich genervt vom notorischen Einbrecher, dem „rothaarigen Irren“ und schmeißen ihn hochkant wieder raus.
Vom Wolf kommt dann der vermeintlich raffinierte, todsichere Plan, dass der Fuchs ein paar Eier klauen soll, sie ausbrütet, und schon hat man deutlich mehr davon, nämlich ein paar leckere Hühnchen. Blöd nur, dass das frisch geschlüpfte Federvieh sich in bester Konrad-Lorenz-Manier auf das erstbeste Lebewesen fixiert, das sie sehen. Fortan denken die drei Federbälle nicht nur, der Fuchs sei ihre Mami, sondern halten sich selbst für kleine Füchse. Sie sind voller Bewunderung für ihre Mami und ihr liebstes Spiel wird eben das vom großen, bösen Fuchs, der sogar dem Wolf Angst macht. Natürlich lässt sich Isegrim überhaupt nicht von dem deutlich kleineren, rotbraunen Mit(-wald-)bewohner einschüchtern und fordert schon bald seinen Anteil vom genialen Plan: Hühnchenhappen. Dem stehen aber die neu entdeckten Gefühle des Fuchses entgegen. Er ist ganz gerührt von seinen Kükenkindern, geht ganz in der Mutterrolle auf und lässt sich schließlich auf enorme, auch schmerzhafte Kompromisse ein, um mit seinen Kleinen zusammensein zu können … und das kommt einem irgendwie bekannt vor.
Jüngere Leser erfreuen sich an den cartoonesken Übertreibungen, da wird ordentlich zugeschlagen, Gegner im Tom-und-Jerry-Stil mit Raketen in den Himmel geschossen, es gibt absurde Kostüme, und die Kampfküken behalten fast immer die Oberhand, ob es um Schlafplätze, Spielzeiten, Geschwisterrangeleien oder Mäkeleien beim Essen geht, und wenn’s wirklich brenzlig wird, rettet Mama sie.
Und sie lernen mal wieder, dass es nicht schlau ist, sich mit dem obercoolen Wald- bzw. Spielplatzmacker einzulassen, wenn es dem eigenen Naturell widerspricht.
Eltern erkennen sich in den pointierten, von Benjamin Mildner nonchalant mit trockenem Humor übersetzten Dialogen wieder, nämlich, was die Erziehung, die angeblich „zu emotionale Bindung“ angeht und auch in den nervtötend sinnfreien „Gesprächen“ mit dem frisch die Welt erkundenden Nachwuchs. Schlaflose, kräftezehrende Nächte, nie seine Ruhe haben und mal für sich sein können, immer verfügbar sein zu müssen ist ebenso dabei wie totale Sentimentalität angesichts kindlicher Liebesbekundungen für die „beste, liebste Mami“ (geht einem später auch so, wenn der pubertär-grummelige Sohn plötzlich sagt „Hab dich lieb, Mama“; der Verstand sagt „Was für ein Hollywood-Kitsch“, aber das Herz ist gerührt).
Für alle gibt’s schräge Nebenfiguren und Charaktertypen, etwa der schluffige Hofhund, der sich wie ein Dorfbürgermeister um die Begehrlichkeiten der Hofbewohner kümmern soll und geschickt alle Arbeit delegiert. Oder die extrem dominante, meckernde Oberhenne mit ihren militärischen Bürgerwehrambitionen gegen einen eigentlich harmlosen, höchstens lästigen Gegner.
Genial sind Benjamin Renners Illustrationen: Im Fuchs spiegelt sich das gesamte emotionale Spektrum, er ist euphorisch, frustriert, voller Liebe, Fürsorge und Zuneigung, zweifelt und verzweifelt, völlig erschöpft, am Rand des Nervenzusammenbruchs, wütend bis zum Ausflippen, manchmal treudoof und manchmal sehr schlau – das alles zeigt sich in absolut treffend gezeichneten Grimassen und Gesten. Bei den Küken, die kaum mehr sind als ein helles Oval (auch als sie schon lange nicht mehr in der Eierschale stecken) gelingt es Renner sogar in absolut minimalistischer Form, ihnen enorm viel Leben einzuhauchen.
Bücher mit Füchsen gefallen mir per se, diesen hinreißend hübschen, klugen Einzelgängern (umso enttäuschter war ich vom unerträglich naturalistischen Geraune in Sarah Pennybeckers „Mein Freund Pax“, das deshalb hier auch nicht empfohlen wurde). Und Benjamin Renners gar nicht großer, böser Fuchs ist ein besonders liebenswerter.
Nicht zuletzt zeigt sich wieder einmal, dass es keine Blutsverwandtschaft und größtmögliche genetische Übereinstimmung braucht, um echte Familienbande zu knüpfen.
Benjamin Renner: Der große böse Fuchs, Übersetzung: Benjamin Mildner, Avant Verlag, 192 Seiten, ab 10, 25 Euro