Mit den Augen der Opfer

corradiniNeulich habe ich ja bei Lütte Lotte etwas ausführlicher über italienische Kinder- und Jugendliteratur geschrieben. Nun habe ich den Roman Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge von Matteo Corradini genauer gelesen und dem Autor ein paar Fragen zu seinem Werk gestellt, das ich im Abschnitt zu den „Stillen“ nur kurz angerissen habe.

In seiner Geschichte, die feinfühlig von Ingrid Ickler ins Deutsche übertragen wurde, erzählt Corradini von einer Handvoll Jungen, die während des 2. Weltkrieges in Theresienstadt eingesperrt und später nach Auschwitz deportiert wurden.
Diese Jungen mit Namen Zappner, Edison, Embryo, Petr, Josif und Zdenek haben in ihrer Zeit im Ghetto eine Art Zeitung geschrieben. In diesen Blättern, die sie einmal pro Wochen abends mit Bleistift auf alle erdenklichen Papiere geschrieben haben, berichten sie von den Vorfällen und Vorgängen im Ghetto. Hatten sie anfangs die Blätter noch öffentlich wie eine Wandzeitung ausgehängt oder Kopien verkauft, so lesen sie irgendwann ihre Texte anderen Kindern und Erwachsenen nur noch heimlich vor, zu gefährlich war es, die Texte in Umlauf zu bringen.

Corradini bezieht sich hier auf dokumentierte Fakten: Mehrere jugendlichen Gruppen im Ghetto haben tatsächlich Zeitungen geschrieben. „Meine Absicht war, dass die Jugendlichen von heute die Geschichte der gleichaltrigen Jugendlichen aus Theresienstadt lesen können“, sagt Corradini.

Acht Jahre hat er recherchiert und dabei mit vielen Zeitzeugen und Überlebenden gesprochen.  Eines jedoch hat ihn besonders berührt: „Die Vorstellung die 800 Seiten der Zeitung Vedem lesen zu können, die von den Jugendlichen produziert worden waren.“ Diese Seiten hat man nach dem Krieg gefunden. Wie sie entstanden sind, davon erzählt Corradini in seinem Roman, den er dann in nur fünf Wochen niedergeschrieben hat.

Die Jugendlichen im Roman berichten in ihren Artikeln von kleinen Anekdoten, veröffentlichten Gedichte, malen Bilder, schildern das Fußballspiel und die Vorbereitungen für die Filmaufnahmen, die für die Öffentlichkeit im Ghetto inszeniert werden. So sollten die Menschen außerhalb der Mauern von Theresienstadt davon überzeugt werden, dass es den Menschen hier gut ging, sich die vielen Künstler und Kreativen, die hier zusammengepfercht worden waren, austauschen und ein vermeintlich normales Leben führen konnten.

„Glaubst du, jemand hat ihnen geglaubt?“
„Ein paar Erwachsene vielleicht?“

Wie man weiß, haben sich internationale Kontrolleure blenden lassen – unvorstellbar in heutigen Zeiten.
Die Jugendlichen jedoch schauen genau hin. Sie beobachten: die Soldaten, die Inhaftierten, erzählen vom Leben in der ehemaligen Garnisonsstadt, die durch ihre Stadtmauern für die Nazis perfekt zu kontrollieren war. Sie kämpfen um Kartoffelschalen, teilen sich die karge Beute.

Corradini hat sich bei den geschilderten Episoden dicht an das gehalten, was er über die Kinder und ihre Erlebnisse hat recherchieren können. Bezüglich der Vermengung von Fiktion und Fakten sagt er: „Ich respektiere die Fiktion, sie ist eine wunderschöne Sache. Doch im Fall eines Buches über die Shoah, die für sehr viele Menschen extrem schmerzhaft war, kann die Fiktion schnell respektlos werden. Beispielsweise, wenn man unnütze, absurde oder sogar antihistorische Szenen erfindet. Oder auch, wenn man die Geschehnisse abmildert, um sie Jugendlichen zu erzählen. Das ist schlechte Fiktion. Mein Buch hat zwar die Form eines Romans, doch ich erzähle zu 99 Prozent von Dingen, die tatsächlich geschehen sind.“

Corradini bedient sich dabei eines Ich-Erzählers, was mich zunächst etwas irritiert hat. Denn es erscheint schrecklich, wenn der Protagonist, dem man als Leser_in durch diese Erzählart sehr nahe kommt, am Ende in den Tod geschickt wird. Corradini erklärt es so: „Ich habe mich für die Ich-Erzählung entschieden, um einen namenlosen Helden zu erschaffen, der einer von uns sein könnte. Der auch der Leser sein könnte oder aber jemand anderes. Der jemand wäre, dem man die Geschichte anvertrauen würde. Die jugendlichen Leser_innen können sich mit so einer Geschichte bestimmt gut auseinandersetzen, auch wenn die Geschichte voller Schrecken ist. Zum Erwachsenwerden gehört eben auch dazu, dass Schreckliche zu erfahren und sich damit zu befassen. Nur so kann man das alles verstehen, es verinnerlichen, sodass es in Zukunft nie wieder passiert.“

Ein Anliegen des Autors ist es unter anderem, dass Jugendliche möglichst viele Bücher über die Geschichte und die Shoah lesen. Durch die jungen Protagonisten in seinem Roman können sie sich – seiner Meinung nach – besser in die Historie einfühlen: „Die Jugendlichen wissen dann, dass das, was passiert ist, Menschen in ihrem Alter zugestoßen ist. Sie sehen die Geschichte mit den Augen derjenigen, die den Schrecken erlebt haben.“

Diese Buch, das bereits im vergangenen Jahr erschienen ist, und das scheinbar nicht wahrgenommen wurde, ist ein stiller Schatz. Es beleuchtet ein weniger bekanntes Kapitel des Holocaust und lenkt den Fokus auf die Kinder und Jugendlichen, die nicht weniger gelitten haben als die Erwachsenen. Es ist keine spaßige Lektüre, natürlich, doch bietet sie einen Zugang auf Augenhöhe für jugendliche Leser zu den Schrecken von damals und sorgt für Diskussionsstoff und Sensibilisierung.

Matteo Corradini: Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge, Übersetzung: Ingrid Ickler, cbj, 2017, 288 Seiten, ab 12, 8,99 Euro