Eigentlich weiß ich ja, dass man Bücher nicht nach ihren Covern beurteilen soll. Dennoch komme auch ich nicht umhin, immer mal wieder in diese Falle zu tappen – im Guten, wie im Schlechten. Dieses Mal lag das Buch von Heike Schmidt schon ziemlich lange auf meinem Schreibtisch. Eins von diesen leichten Mädchenbüchern, dachte ich, und schob es von einer Seite auf die andere, bis ich neulich anfing zu lesen – und eines Besseren belehrt wurde.
Der Roman Amerika liegt im Osten geht zur Sache und an Herz. Die 17-jährige Motte ist bis über beide Ohren in den coolen Lukas, genannt Laser, verliebt und würde alles tun, nur um mit ihm zusammen zu sein. Selbst als er auf einer Party eine Prügelei anfängt, die Schuld jedoch dem polnischen Schüler Pavel in die Schuhe schiebt, der daraufhin der Schule verwiesen werden soll, hält Motte zu ihrem Schwarm. Dabei hat sie die Schlägerei mit dem Handy gefilmt und könnte für Gerechtigkeit sorgen. Tut sie aber nicht. Stattdessen versucht sie, an Geld zu kommen, um in den Ferien Laser nach Amerika hinterher zu fliegen. Dafür ist sie sogar bereit mit ihrem ungeliebten Urgroßvater Hermann, den sie nur abfällig Ice H. nennt, in das Heimatdorf der Urgroßmutter in Tschechien zu fahren.
Urgroßmutter Liesel leidet an Demenz und versinkt mehr und mehr in das Vergessen. Ein Zustand den Ice H. nicht erträgt. Er hofft, den Verfall seiner Frau durch eine Reise in die Vergangenheit aufhalten zu können. Wenn Motte die beiden alten Herrschaften fährt, will er dem Mädchen tausend Euro geben. Motte lässt sich darauf ein – und in nur drei Tagen wandelt sich ihre Sicht, auf die Urgroßeltern, auf die deutsche Geschichte, auf ihr eigenes Verhalten in der Schule.
Von der anfänglichen Liebesgeschichte, die Heike Schmidt mit lockerer Sprache dicht an den Jugendlichen erzählt, verschiebt sich im Laufe des Buches der Fokus immer weiter zu einer eindrücklichen Schilderung von Demenz und Vergangenheitsbewältigung. Die 17-Jährige erlebt hautnah mit, wie schnell die Urgroßmutter in das Vergessen abdriftet, den eigenen Mann nicht mehr erkennt, sich aber hervorragend an Geschehnisse aus der Kindheit in Kriegszeiten erinnert. Für Motte ist das alles zunächst sehr verwirrend und irritierend, war die Vergangenheit in der Familie bis dahin nie ein Thema und wurde konsequent verdrängt. Doch die Konfrontation der alten Dame mit ihrem Geburtshaus reißt die Wunden von damals wieder auf, und Motte muss feststellen, dass selbst ihr Urgroßvater nicht alles über seine Frau weiß.
Heike Schmidt gelingt es die fernen Geschehnisse des Krieges in die Gegenwart zu holen, ohne pathetisch zu werden oder eine heroische Bewältigungsgeschichte daraus zu machen. Sie zeigt die Nöte der Überlebenden – die Urgroßmutter wurde von russischen Soldaten vergewaltigt, der Urgroßvater litt jahrelang in Kriegsgefangenschaft, beide wollten die Qualen vergessen und sprachen nicht darüber. Und sie zeigt das Unverständnis der Jugend, die davon zumeist kaum noch etwas weiß. Oder es nur abstrakt aus Geschichtsbüchern erfährt. Die Auseinandersetzung der Generationen mit dem Erlebten, die Erinnerung und die Erklärungsversuche sind schmerzlich für beide Seiten, und doch führt das alles sie näher zusammen. Mottes Groll auf den Urgroßvater verraucht, die Urgroßmutter wird zum Kind, das beschützt werden muss.
Und Motte lernt aus dem Vergangenen, wie sie sich in ihrer Gegenwart gegenüber ihren Mitschülern verhalten sollte. So gestärkt findet sie zu einer erwachsenen Haltung gegenüber Laser und lässt das pubertierende Verliebtsein hinter sich. Besser hätte man das Konzept „Lernen aus der Vergangenheit“ wohl nicht umsetzen können.
(Und hätte das Cover des Buches davon auch nur einen Hauch angedeutet, hätte ich darüber vielleicht schon viel eher gebloggt …)
Heike Eva Schmidt: Amerika liegt im Osten, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, 2012, 213 Seiten, ab 15, 12,95 Euro.