Einzigartige DNA

Gene

Sachbücher (und Fachbücher) sind eine Sache für sich: mal ebenso lehrreich wie dröge, mal völlig verquast und fachidiotisch, oder unterhaltsam, aber mit geringem Erkenntnisgewinn. Manchmal gelingt die Mischung aus anschaulicher Wissensvermittlung und spannender Erzählung.
Und dann gibt es den exzentrischen Sachcomic Billie und seine Gene von Stefan Boonen und Wout Schildermans alias Melvin.

Von beidem etwas

Geschickt beginnt das flämische Duo die Geschichte in einem Laden – einem Laden, in dem ein Mann und eine Frau ein Kind bestellen. »Also, möchten Sie ein gewöhnliches oder ein ungewöhnliches Kind?«, fragte der Verkäufer. »Äh, von beidem etwas. Ginge das?« »Natürlich«, sagte der Verkäufer, »mit Vergnügen.« Kein Designerkind, keine zukünftige Nobelpreisträgerin oder Sportskanone, einfach nur ein Kind mit ein paar Ähnlichkeiten zu den zukünftigen Eltern.
Da wird jetzt jedes Kind zetern: »Total falsch! Kinder kommen doch nicht aus dem Laden!« Absolut richtig. Aber in diesem Buch geht es nicht darum, wie ein Kind entsteht. Sondern woraus es besteht. Und nicht nur Kinder. Sondern einfach alles, Pflanzen, Einzeller, Pilze, Säugetiere … es geht um Gene. Und nicht nur um Billies, wie der Titel, Wortspiel auf einen Hit von Michal Jackson, vermuten lässt.

0,1 Prozent als Apfelkuchenrezept

Gene sind nicht nur winzig klein, man kann sie weder sehen noch anfassen. Genetik ist auch sehr abstrakt und kompliziert. Aber nicht bei Boonen und Schildermans, die gleich im ersten Kapitel erstmal ihre eigenen Gene haben untersuchen lassen: »Wir mussten dreimal in ein Glasröhrchen spucken und zwei abgeschnittene Zehennägel abgeben.« Und siehe da, auch ihre Gene sind zu 99,9 Prozent denen von allen Menschen gleich. Und die unterschiedlichen 0,1 Prozent?
Die erklären sie mit dem Apfelkuchenrezept. Aus einer Handvoll immer gleicher Zutaten kann man unterschiedliche Kuchen backen. »Kuchen mit großen oder kleinen Apfelspalten, dickem oder dünnflüssigen Teig, luftig oder schön krümelig.«

Neonorange Farbakzente und blaue Katze als Sidekick

Wout Schildermans‘ Bilder dazu sind viel mehr als nur Illustration: Witzig, karikaturesk, überdreht, mit neonorangen Farbakzenten und einer kleinen blauen Katze als Sidekick ergänzen sie Stefan Boonens Text kongenial und sind wie eine parallele, intensivierende Erzählung in Bildsprache. Auf jeder Seite liest man, wie viel Spaß die beiden mit dem Thema haben. Zum Beispiel: »Ein Kind erhält seine Gene von seinen Eltern. Die Eltern können sich also scheiden lassen, so viel sie wollten. In Billie bleiben sie für immer zusammen.« Birgit Erdmann hat es mitreißend klug und lustig übersetzt.

Dracula und Van Gogh

Autosomale und rezessive Vererbung werden praktisch und lebensnah erklärt, wir lernen die Ohrläppchenbande kennen und dass »etwa 739 Gene bestimmen, ob du lieber Schokoladeneis oder Vanilleeis magst.«. Warum Dracula und Van Gogh in den Genen der Fruchtfliege sind und was das Besondere an Reiskörnern ist oder wie Genscheren funktionieren – Erwachsene und Vorlesende lernen hier auch noch einiges. Und erkennen: dieses Sachbuch hat eine einzigartige DNA von seinen wunderbar schrägen Eltern bekommen, zwei frisch gebackenen genialen Genetikern.

Stefan Boonen: Billie und seine Gene. Von Fruchtfliegen, Sommersprossen und dem Bauplan des Lebens, Illustration: Wout Schildermans (Melvin), Übersetzung: Birgit Erdmann, mixtvision, 96 Seiten, 18 Euro, ab 8

Gemeinsame Wurzeln, gemeinsame Verantwortung

evolutionDas Leben der Menschen ist ein merkwürdiges Konstrukt, wenn man es mal versucht neutral zu betrachten (falls so etwas überhaupt möglich sein sollte). Wir in der westlichen Welt fordern die gleichen Rechte für alle, beharren jedoch auf unseren persönlichen Eigentümlichkeiten, die wir Menschen aus anderen Ländern dann jedoch wiederum nicht zugestehen wollen, weil sie angeblich nicht in unsere Gesellschaft passen. Wir glauben oder glauben nicht an einen oder mehrere Götter, und viel zu oft werden in den vergangenen Jahren aus eben diesen Glaubensgründen wieder vermehrt Kriege angezettelt. Trotz allen Fortschritts und allen Wissens wächst das Elend auf der Welt und die nationale Abschottung und Einigelung, das Aussperren des Anderen ist auf unserem Kontinent schon fast wieder salonfähig. Es ist kompliziert, anstrengend, irgendwie absurd und dann doch beinahe fast wieder logisch. Vor allem, wenn man Josef Reichholfs Abhandlung über die Evolution gelesen hat.

Der Biologe geht dabei umgekehrt chronologisch vor. Er beginnt nicht beim Urknall und den Einzellern, sondern bei uns, den Menschen, und zeigt uns in allen natürlichen, menschlichen und größenwahnsinningen Facetten, die uns eigen sind. So unterschiedlich und einzigartig jeder von uns ist, so macht Reichholf unmissverständlich klar, dass wir alle aus einer Wurzel stammen –evolutionär gesehen. Das ist an sich keine Neuigkeit, doch man kann es in diesen Zeiten nicht oft genug sagen, in denen die Menschen sich gegenseitig die Solidarität aufkündigen.
Reichholf betont die Besonderheiten des Menschen gegenüber den anderen Bewohnern der Erde, den Tieren, – unser aufrechter Gang, unser großes Gehirn, unsere Sprachfähigkeit, die Kultur und die Religion – aber er macht auch klar, dass wir es sind, die unsere eigenen Lebensgrundlagen zugrunde richten, wenn wir so weiter machen, wie bisher. Indem er immer weiter in der Natur- und Erdgeschichte zurückgeht, aufzeigt, wie die verschiedenen Spezies entstanden und zum Teil wieder verschwunden sind, welche Symbiosen wir mit Hunden und Katzen eingegangen sind, unterstreicht er, wie sensibel das Gleichgewicht auf unserem Planeten ist. Intelligenten Wesen wie den Menschen sollte man eigentlich zutrauen, mit so einem zerbrechlichen Gut sorgsam umzugehen.

Doch wir wissen nur zu gut, dass das leider ein Wunschtraum ist, so sehr beherrschen Gier und Egoismus unser Handeln. Das alles sind Gründe genug, die kurzweilige Lektüre von Reichholfs Werk – meiner Meinung nach – zur Pflichtlektüre in den Schulen zu machen, denn es öffnet die Augen für die geologischen, genetischen und biologischen Zusammenhänge, wie sie seit Jahrmillionen bestehen. Zu begreifen, dass wir unser Verhalten fundamental ändern müssen, weil wir einfach nicht allein auf der Welt sind, und dass wir Menschen alle miteinander verwandt sind, egal woher wir kommen, ist für mich so ein grundsätzliches Wissen, das viel intensiver vermittelt werden sollte. Nennt mich naiv, aber ich hätte die Hoffnung, dass die Menschheit sich weniger kriegerisch und umweltzerstörerisch verhalten würde. Den nachkommenden Generationen wäre es zu wünschen.

evolutionWer das Buch nicht selbst lesen möchte, dem sei das Hörbuch ans Herz gelegt. Peter Kaempfe liest mit so wunderbarem Nachdruck, dass man dieses Werk noch ein Stück mehr liebt. Das gedruckte Exemplar braucht man allerdings trotzdem, da man sonst die zarten Illustrationen von Johann Brandstetter verpasst.

Josef H. Reichholf: Evolution – Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur, Hanser Verlag, 2016, 240 Seiten, ab 12, 22,90 Euro

Audio-CD, gelesen von Peter Kaempfe, Hörcompany, 6 CDs ungekürzt, 19,95 Euro