Manchmal stelle ich fest, dass ich Bücher gar nicht gelesen habe, obwohl ich der Überzeugung bin, das schon längst getan zu haben. Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist so ein Fall. Bis vor kurzem war ich felsenfest davon überzeugt, es zu kennen. So genau erinnere ich mich an die Zeit in den 70er Jahren, als alle von diesem Buch gesprochen haben und ich ganz seltsame Gefühle dabei hatte, die ich gar nicht einordnen konnte.
Jetzt, aus Anlass von Judith Kerrs 90. Geburtstag, habe ich die Lektüre nachgeholt – und dafür auch gleich noch die beiden Nachfolgeromane Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen drangehängt. Es war schon bewegend, endlich die Flucht der Familie Kerr ganz bewusst miterleben zu dürfen.
Annas Sicht der Dinge bringt auch heute noch die Zeit von 1933 und die Schrecken, die schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis einsetzten, dem Leser eindringlich nah. Man ist unmittelbar dabei, wie die anfangs 9-Jährige die Flucht in die Schweiz und nach Frankreich erlebt, bis die Familie schließlich eine neue Heimat in London findet. Zu all den Neuanfängen kommt die Sorge, wie die Familie überleben soll. Denn Annas Vater, der berühmte Schriftsteller und Theaterkritiker Alfred Kerr, findet im Ausland kaum Möglichkeiten zu veröffentlichen. So muss sich vornehmlich die Mutter um den Unterhalt für die Familie kümmern.
In Warten bis der Frieden kommt schildert Anna die Kriegsjahre in London. Die Familie lebt immer noch in beengten Verhältnissen in einem kleinen Hotel. Anna ist zeitweise bei Bekannten untergebracht, ihr Bruder Michael studiert in Cambridge Jura und möchte zur Royal Air Force. Mittlerweile ist Anna alt genug, um ebenfalls eine Arbeit anzunehmen. Zwischen Bombenangriffen und ihrer Arbeit für einen Wohltätigkeitsverein lernt sie zudem das Zeichnen. Und verliebt sich in ihren Zeichenlehrer.
Eine Art Familientreffen schildert eine Woche im Jahr 1953. Annas Vater ist vor vier Jahren gestorben (auch hier folgt Judith Kerr ihrer eigenen Familiengeschichte), die Mutter lebt wieder in Berlin. Anna selbst ist mit einem TV-Redakteur verheiratet. Da erreicht sie ein Anruf, dass die Mutter in Berlin mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus liegt. Anna reist nach Berlin, trifft dort ihren Bruder und erfährt, dass die Lungenentzündung nur ein Vorwand war und die Mutter eigentlich einen Selbstmordversuch unternommen hat.
Von den drei Bänden ist Eine Art Familientreffen sicherlich der schwächste Teil. Doch rundet er Annas Leben in dem Sinne ab, dass sie mit den Ereignissen der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges abschließen und eine eigene Familie gründen kann.
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist zweifellos immer noch eine wichtige Lektüre, um die Flucht vor den Nazis aus der Sicht eines Kindes mitzuerleben. Allerdings liest sich die Übersetzung von Annemarie Böll aus den 1970er Jahren heute an manchen Stellen etwas betulich. Hier könnte man durchaus mal über eine Neuübersetzung nachdenken.
Warten bis der Frieden kommt besticht durch die authentische Schilderung der Bombardierung Londons. Sie macht deutlich, wie sehr die britische Metropole unter den Angriffen der Deutschen gelitten hat.
Judith Kerr, die immer noch in London lebt, als Illustratorin arbeitet und sich mittlerweile als vollkommen britisch empfindet, verdanken wir eine der sensibelsten Darstellungen von Flucht. Sie zeigt, dass Kinder sehr viel vom Leid der Erwachsenen mitbekommen, aber auch durchaus in der Lage sind, sich in neue Situationen einfinden und ein glückliches Leben führen zu können. Davor verneige ich mich und gratuliere zum 90. Geburtstag.
Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Eine jüdische Familie auf der Flucht, Übersetzung: Annemarie Böll, Ravensburger Buchverlag, 2013, 576 Seiten, ab 14, 9,99 Euro