Unendliche Welten

Telegraph

Pulp Fiction als Erweckungserlebnis: »Auf dem Einband waren gleich zwei Frauen abgebildet, eine Blondine und eine Brünette. Die Blonde trug ein pinkes Negligé und kniete schüchtern auf dem Boden, mit niedergeschlagenen Augen, während hinter ihr die wohlgeformte Brünette aufragte. Das Buch hieß ›Sonderbare Zeiten‹ und der dazugehörige Slogan lautete: ›Den widernatürlichen Neigungen ihres Herzens konnte sie nicht entkommen‹.
Aufregung fuhr wie ein Stromstoß durch Lily.« Als die Siebzehnjährige den Schundroman bei den billigen Taschenbüchern hinten im Drugstore entdeckt, erkennt sie, dass sie für ihre Mitschülerin Kathleen mehr empfindet als nur Sympathie. Und ihr ist klar, dass das verboten, gegen die Regeln und undenkbar ist.

Faible für Frauen ist unmöglich

Von ihr als ordentlichem Mädchen aus Chinatown in San Francisco Anfang der 1950er Jahre wird erwartet, dass sie amerikanischer ist als junge weiße Mädchen: ausgezeichnete Schülerin, was Anständiges studieren, heiraten, Hausfrau und Mutter von ebenso folgsamen Kindern werden. Mag ihr Interesse für Raumfahrt und der Wunsch, zum Mond zu fliegen, noch als vorübergehende jugendliche Spinnerei durchgehen. Ein Faible für Frauen ist absolut unmöglich.

Anpassung an das weiße Amerika

Als aus China stammende Amerikanerin haben es sie und ihre Familie, ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Krankenschwester, schwer. Antikommunistische Hetze stellt alle Asiaten unter Generalverdacht. Und so genau wird auch nicht unterschieden, der Zweite Weltkrieg ist noch nicht lange her, damals war China zwar mit den USA verbündet, aber Japaner waren Feinde. Und innerhalb der chinesischen Community gelten strenge Konventionen, Anpassung an den Mainstream ist das oberste Gebot.
Lily und Kathleen, genannt Kath genannt, freunden sich an. Und mehr als das, Kath nimmt Lily mit in einen Club namens Telegraph Club. Dort tritt auch die Herrenimitatorin Tommy Andrews auf. Lily ist fasziniert, für sie tun sich nicht nur im Weltraum unendliche Welten auf.

Leben zwischen zwei Welten

Malinda Lo erzählt in Last Night at the Telegraph Club spannernd und vielschichtig von San Francisco in den 1950er Jahren. Von den Menschen in der chinesischen Community, schillernd und exotisch, angepasst und ambitioniert, Leben zwischen zwei Gesellschaften.
Lo taucht ein in Bars und Treffpunkte der lesbischen Szene, man begegnet sich männlich gebenden Butches und femininen Femmes. Beklemmend wird die aufgeheizte politische Paranoia beschrieben. Und natürlich erzählt der Roman auch vom Coming out eines jungen Mädchens, das gegen viele Vorurteile kämpfen muss. Sogar in der lesbischen Szene, wo eine Asiatin doch sehr exotisch ist.

Privates und historisches verknüpft

Der Roman ist sehr gut recherchiert und absolut stimmig. Zwischendurch wechselt er auch die Perspektive und Zeit, erzählt aus der Sicht ihrer Eltern, kurz nachdem sie China verlassen und sich in den USA kennenlernen. Oder aus der Sicht ihrer Tante, einer Mathematikerin, die in einem Raumfahrtprojekt arbeitet. Private und historische Ereignisse werden auf einem Zeitstrahl angeordnet und miteinander verknüpft.

Zeitgeschichtliches Tableau

Last Night at the Telegraph Club ist mittlerweile unter jungen Menschen ein Bestseller. Zurecht, ist der Roman doch über die queere Thematik hinweg ein brillantes zeitgeschichtliches Tableau. Nur die wenigen erotisch angehauchten Petting Passagen fallen dagegen ab. Die monotone und einfallslose Wiederholung von »pochendem Herz«, »schmerzhaftes Ziehen im Unterleib« oder »weiblichen Kurven« rührt wahrscheinlich weniger daher, dass Lily die Worte für ihre neuen Empfindungen fehlen. Es ist eher ein Zeichen der Sprachlosigkeit angesichts von Sex und Körperlichkeit in der amerikanischen Literatur. Da kann auch die sensible Übersetzerin Beate Schäfer nichts dran ändern.

Last Night at the Telegraph Club feiert die kulturelle, sexuelle und geistige Vielfalt, ein mitreißender und funkelnder Roman.

Malinda Lo: Last Night at the Telegraph Club, Übersetzung: Beate Schäfer, DTV, 445 Seiten, ab 14, 19 Euro

Die Schatzinsel

„Mitten in der Nacht wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ich hatte solche Angst. Nie Geld zu haben war beängstigend. Und noch beängstigender war die Frage, wie lange wir überhaupt noch durchhalten würden, wenn uns bei jeder Kleinigkeit, die schiefging, gleich das Geld für die Miete fehlte.“

Kitchen-Sink-Drama heißen im Englischen Filme und Romane, in denen es um die Sorgen und Nöte der sogenannten Kleinen Leute geht. Das Geld ist immer knapp, der finanzielle Ruin stets nah und die Schuldenfalle schnappt schnell zu, wenn zum Beispiel die Schuhe zu klein werden, die Spülmaschine das Haus unter Wasser setzt und das Kaninchen krank ist. Das weiß auch und erlebt hautnah die zwölfjährige Holly Theresa Kennet, die mit ihrem älteren Bruder Jonathan und dem jüngeren Davy in einem heruntergekommenen Haus in London über einem Imbiss lebt. Trotzdem ist ihre Geschichte mit dem Titel Eine Insel für uns allein kein Trauerspiel. Sondern ein packendes, großes Abenteuer, bei dem es nicht nur längs durch Großbritannien auf die im Norden Schottlands gelegenen Orkney-Inseln geht. Schatzsuche, Detektivgeschichte, Familienporträt und Sozialstudie vereint Sally Nicholls brillant in ihrem jüngsten Buch. Und während der Vorgänger Wünsche sind für Versager kaum auszuhalten war ob des Teufelskreises, in dem eine zutiefst verletzte Kinderseele feststeckte, möchte man dieses Buch gar nicht aus der Hand legen, weil seine Helden so charmant sind und ihre Erlebnisse so unglaublich spannend. Beate Schäfer ist es wohl ähnlich ergangen, sie hat den Roman einfühlend und dialogstark, ohne Sozialkitsch und Melodramatik, übersetzt.

Angesichts der prekären Lage, in der sich die Geschwister nach dem Krebstod der Mutter befinden, ist ihre Suche nach dem versteckten Schmuck, den ihre Großtante ihnen vermacht hat, kein Kinderfreizeitvergnügen, sondern schiere Notwendigkeit. Holly ist extrem plietsch, kennt sich mit Computern und Programmieren aus, zählt Schlossknacker zu ihren Freunden und hat die einschlägige Kriminalliteratur gelesen, im Gegensatz zu ihren Schulfreunden, die „Sherlock Holmes auch nur über Benedict Cumberbatch kannten“. Es ist immer wieder nett und interessant zu lesen, welche Rolle in englischen Büchern vor allem der Meister der Deduktion nach wie vor spielt und zu was er inspiriert. Statt mit Lupe und dem Wissen von 100 Variationen von Zigarrenasche helfen heute Rechner, Digitalkameras, GPS-Daten und digitale Netzwerke bei des Rätsels Lösung.

Holly hätte man gern als Freundin: Sie ist mutig, klug, witzig, gibt nicht auf und lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern. Ihre Stärke sind ihre besondere Familie, vor allem ihre Brüder, für die beide sie sich als „halbe Erwachsene“ verantwortlich fühlt, und ihre Freunde – Menschen, denen sie vertraut und auf die sie sich verlassen kann. Das ist der große Unterschied zur kaputten Heldin des vorhergehenden Romans, die immer wieder enttäuscht, verraten und im Stich gelassen wurde und deshalb niemandem vertraut, eine Insel für sich allein sozusagen, eine isolierte, einsame.

Die Insel für uns allein dagegen ist ein Zuhause, gebaut aus der besonderen Dreisamkeit, die die Geschwister zusammenhält. Zwar hat der 18-jährige Jonathan das Sorgerecht für die Jüngeren übernommen, aber jeder trägt seinen Teil bei, dass sie trotz ständiger Geldsorgen, gemeinsam den Alltag gewuppt kriegen und glücklich sein können.

Hier wird nicht verraten, was es mit den Fotos und dem versteckten Metallkoffer auf sich hat und ob sie den Schatz tatsächlich finden. Denn eigentlich finden Holly, Jonathan und Davy bei diesem Abenteuer, das das Leben an sich ist, etwas viel Besseres, Grandioses. Genau deshalb brauchen wir in aktuell ziemlich düsteren, verstörenden Zeiten Bücher wie dieses: herzergreifende kichen sink adventures.

Elke von Berkholz

Sally Nicholls: Eine Insel für uns allein, Übersetzung: Beate Schäfer, dtv Reihe Hanser 2017, 216 Seiten, ab 11, 12,95 Euro