Im vergangenen Juli verbrachte ich eine wunderschöne Urlaubswoche im Schwarzwald, inklusive Ausflüge nach Calw und Kloster Maulbronn. Da war es fast selbstverständlich, mir mal wieder Hermann Hesses Unterm Rad vorzunehmen. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen.
Meine Erinnerung an die Schullektüre von vor ewigen Zeiten war eher düster und nicht gerade mit Wohlgefühl verbunden. Mit der um Jahrzehnte erweiterten Leseerfahrung fand ich nun jedoch eine ganz andere Geschichte vor mir.
Sicher sie ist immer noch düster, aber meine Fähigkeit zur Empathie sind scheinbar ebenfalls angewachsen. Jedenfalls tat mir Hans Giebenrath einfach nur leid. Eingezwängt zwischen lauter alten Männern, die nur ihre eigene Eitelkeit befriedigen wollen, kann er sich nicht gegen den Druck wehren. Er lernt rund um die Uhr, selbst in den wohlverdienten Ferien büffelt er weiter, nur um im Priesterseminar eine gute Figur zu machen. Ob er da je hin wollte, hat ihn natürlich niemand gefragt. Und er hat sich natürlich nicht gewehrt. Das stand damals nicht zur Debatte.
Seine Gegenwehr ist folglich eine andere, eine passive. Heute erkennen wir darin das Burnout und den schleichenden Übergang in die Depression. Der Freund im Seminar nutzt ihn nur aus, das Mädchen im Dorf treibt ihr Spiel mit ihm, selbst in der Mechaniker-Ausbildung und beim Saufabend mit den Kollegen kann er nicht mithalten. Sein Vater ist enttäuscht von Hansens Scheitern und überfordert von der „Nervenkrankheit“ des Sohnes. Alles keine guten Voraussetzungen, um den schwierigen Übergang von Kindheit ins Erwachsenenleben zu bewältigen. Die Nöte des Jungen erkennt niemand. Sein Gang ins Wasser – freiwillig oder als Unfall – ist folglich nur konsequent.
Vor ein paar Wochen ging die Pressemeldung über die Freizeit der Deutschen durch die Medien. Eine knappe Stunde haben die Jugendlichen heute pro Tag weniger Zeit für sich. Mit Hesses Geschichte im Hinterkopf kommt einem das Schaudern, sind die Kinder und Jugendlichen heute doch schon so rundum in ihrem Alltag durchgetaktet, dass man sich wirklich fragt, wo sie die nötige Zeit zur Entspannung, zum Spielen, zum Ausprobieren finden. Krass und überzogen gesagt, könnte man den Eindruck bekommen, dass hier die nächste Generation an Burnout- und Depressionspatienten großgezogen wird. Nicht nur das Schicksal von Hans Giebenrath führt uns vor Augen, dass mangelnde Freiräume und übertriebener Ehrgeiz von Erziehungsberechtigten ein schlimmes Ende nehmen können. Falls Hesses Unterm Rad immer noch Schullektüre sein sollte, müsste man eigentlich dafür plädieren, nicht die Schüler damit zu quälen, sondern die Geschichte zur Pflichtlektüre für Eltern und Lehrer zu machen. Zum Wohl der Kinder.
Was mich neben dieser Aktualität von Hesses Text aus dem Jahr 1903 fasziniert hat, war die Sprache. Antiquiert zwar, mit altertümlichen Ausdrücken wie „Sacktuch“ und „Putzpulverhändler“, aber so klar und auf den Punkt gebracht, dass mir ganz wohlig und heimelig dabei geworden ist. Wenn es so etwas wie eine entschleunigende Lektüre gibt, dann habe ich sie bei Hesse wiedergefunden. Was einfach sehr zu empfehlen ist.
Hermann Hesse: Unterm Rad, Suhrkamp, 2012, 260 Seiten, 9 Euro