Vertrauen ist dicker als Blut

Vater

Stell dir vor, mein Vater hätte in diesem Moment zufällig am Ufer gestanden. Hätte er mich dann nicht erkannt? Er hat nur ein Babyfoto von mir gesehen, aber trotzdem. Wäre da nicht etwas, eine Art Blitz, in dem ihm klar wird: Das ist mein Kind! Kann man ein Blutsband spüren?« Mit diesen Überlegungen steckt Eva schon mittendrin in einem furiosen Abenteuer in Suriname, weit weg von ihrer niederländischen Heimat. In dem kleinen Land an Südamerikas Nordostküste ist die Zwölfjährige mit den elf Zehen auf der Suche, denn: »Der Urwald hat meinen Vater verschluckt«, wie Simon van der Geests neuer, mitreißender Roman heißt.

Die Lücke in Evas Leben

Eva soll in Biologie eine Projektarbeit zu einem Thema schreiben, das sie ganz besonders interessiert. Und das sind Biologische Väter, genauer: ihr Vater, den sie nie gesehen und kennengelernt hat. Oder »der Wurm«, wie ihre Mutter sagt, wenn sie ihn überhaupt erwähnt. Eigentlich versteht sie sich mit ihrer Mutter sehr gut. Trotzdem ist in Evas Leben eine Lücke, weil sie nichts über ihren Vater weiß und ihre Mutter, eine berühmte Popmusikerin, beharrlich darüber schweigt.

Wie feiert man einen fast-nur-Männer-Geburtstag

Andere Kinder wachsen auch ohne Vater auf, zum Beispiel weil ihre Eltern sich getrennt haben. Aber sie wissen, wer ihr Vater ist. Eva weiß anfangs nichts über ihren Vater. Außer dass er dunklere Haut hat, weil sie selbst eines der wenigen Kinder mit dunkler Hautfarbe an ihrer Schule ist. Ihre Mutter hingegen ist sehr hellhäutig mit weißblonden Haaren.
Der Unterschied ist so extrem, dass gehässige Mitschülerinnen vermuten, sie sei adoptiert. Und Evas bester Freund Luuk will auf Anregungen seines Vaters seinen zwölften Geburtstag als Männerwochenende feiern, also seine Freunde mit ihren Vätern. Natürlich macht er einen »Fast-nur-Männer-Geburtstag« draus. Trotzdem reizt das Thema »Biologische Väter« Eva zunehmend wortwörtlich – und sie beginnt gegen den Widerstand ihrer Mutter und ihrer vorsichtigen Lehrerin zu recherchieren.

»Suriname packt mich. Bäm«

Schließlich landet Eva, mithilfe eines Filmteams, in Suriname. »Suriname packt mich. Im wahrsten Sinne. Die Luft schlägt ihre Arme um mich, die Hitze hält mich fest umschlungen, klebrig und klamm. Bäm.« Als Leser:in spürt man genauso direkt wie Eva die Hitze, die Luftfeuchtigkeit. Man hört den Straßenlärm, das Prasseln des Regens auf Wellblechdächer, das Rauschen und Gurgeln des reißenden Flusses, das Zirpen und Grollen des Urwalds, die schrillen Schreie der Vögel. Riecht die feuchte Erde, süßen Früchte, scharfen Speisen, Dieselabgase des Busses, Benzingestank der Motorboote, Blut geschlachteter Tiere.

Einige Prozent mehr übereinstimmende Gene

Durch ein Team der Fernsehsendung »Verlorene Zeit« ist Eva dorthin gekommen. Mit deren Hilfe suchen Menschen nach lang verschollenen Verwandten. Auch bei diesem Format stellt sich die Frage: Ist biologische Abstammung tatsächlich so wichtig? Was verbindet einen mehr mit jemandem, dessen Erbgut zu ein paar Prozent mehr mit dem eigenen übereinstimmt, als mit dem Rest der Menschheit? Eva hängt die wenig sensiblen, dafür umso mehr auf die Tränendrüsen drückenden Fernsehleute ab und dringt allein ins Landesinnere vor.

Heimweh nach einem Ort, an dem sie noch nie war

Sie stößt im Verlauf ihrer Suche einige Menschen vor den Kopf, auch wortwörtlich: Einem Mitschüler, in den sie kurz ein bisschen verliebt war, gibt sie eine Ohrfeige und den Laufpass, als der sich lustig macht.
Doch ist es bewundernswert, wie mutig und zielstrebig sie sucht. Weil sie eine Leere, eine Lücke, ein Loch in ihrem Herzen zu spüren meint. Und Heimweh verspürt nach einem Ort, an dem sie noch nie gewesen war.
Während ihrer Suche erfährt Eva einiges über Familienbande und ihre unterschiedlichsten Formen. Sie versteht ihre Mutter und auch sich selbst besser. Und sie erkennt sehr direkt und brutal ehrlich, dass biologische oder genetische Bande keinen Vater ausmachen.

Drehbuch für den besten Weihnachtsfilm

Simon van der Geest erzählt erneut eine ganz besondere Familiengeschichte. Bei Das Abrakadabra der Fische reiste Vonkie in die Vergangenheit, enthüllte das traurige Geheimnis ihres brummeligen Großvaters und half ihm, sich auszusöhnen. Der Urwald hat meinen Vater verschluckt ist ein spannender Abenteuerroman – und ein fantastisches Drehbuch für einen der besten Weihnachtsfilme aller Zeiten. Denn es geht um Familie und Freundschaft, Vertrauen und Verbundenheit. „Luuk ist eine Art Bruder. So fühlt es sich an. Kann ein Blutsband wachsen? Ich meine, kann jemand allmählich dein Bruder werden? Vielleicht ist es auch egal, wie ich ihn nennen, aber Freund ist nicht genug. Luuk ist mehr als das.«

Bekannteste Patchworkfamilie

Übrigens war bei der weihnachtlichen Urfamilie auch schon ein Stiefvater dabei, die heilige Familie ist eine der bekanntesten Patchworkonstellationen.
Evas Suche nach ihrem Vater ist so mitreißend, staunend und offenherzig geschrieben, dass man alles wirklich sieht, fühlt und miterlebt. Andrea Kluitmann hat es absolut stimmig und lebendig mit ein paar wichtigen, gut überlegten Einsprengseln aus dem Niederländischen übersetzt. Spannendes Thema, brillantes Buch, großes Kino.

Simon van der Geest: Der Urwald hat meinen Vater verschluckt, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Thienemann Verlag, 432 S., 17 Euro, ab 10 Jahre