Romeo und Julia 2.0

Okay, zugegeben, der Titel dieses Blogeintrags könnte etwas in die Irre führen. Im Roman Herbstattacke stirbt niemand, weder durch Mord noch durch Selbstmord, auch Gift kommt nicht vor. Dennoch geht es in diesem Debüt von Nataly Savina heftig zur Sache.

Leo, fast 16, ist mit seiner Mutter Rosa in eine neue Stadt gezogen. Die Eltern haben sich getrennt, Rosa leidet darunter und kratzt sich ihre Neurodermitis-geschundenen Beine immer wieder auf. Leo versucht, in der neuen Schule Anschluss zu finden, wird aber erst einmal von der Gang um der persischstämmigen Jungen Malik abgezogen und auf die Probe gestellt.

In diesen Tagen des Neuanfangs begegnet Leo der schönen Farsaneh – und verliebt sich auf den ersten Blick in das Mädchen. Sie ist jedoch meistens mit ihrem kleinen Bruder Babak unterwegs oder mit ihrer Freundin Leila. Leo kommt nicht so recht an sie heran. Dann muss er auch noch feststellen, dass sie die Schwester von Malik ist. Und der achtet streng darauf, dass Farsaneh nicht mit Jungs rummacht. So wie es in seiner Kultur eben üblich ist. Dennoch gelingt es Leo, ein paar Worte mit ihr zu wechseln und ihr Interesse zu entfachen. Sie tauschen Blicke und finden schließlich die Gelegenheit sich auch mal allein zu sehen, für kurze Minuten in einer fremden Wohnung, in der Farsaneh die Katzen füttert.

Im Laufe der Zeit verschafft sich Leo in Maliks Gang den nötigen Respekt. Er macht bei den „Wettbewerben“ mit, die die Jungs veranstalten, um sich selbst zu beweisen. Sie jagen Briefkästen mit Böllern in die Luft, brechen Autoantennen ab, klauen Liegestühle aus einem Café. Rüpeln durch die Gegend. Leo hofft dabei immer, Farsaneh zu treffen, doch die Regeln der persischen Familie sind streng und scheinen unüberwindbar für einen Deutschen.

Irgendwann will Farsaneh die heimlichen Treffen mit Leo nicht mehr und macht Schluss. Doch da ist die Leidenschaft bei beiden füreinander bereits entbrannt. Nach ein paar Tagen treffen sie sich noch einmal in der Katzenwohnung, und dort fallen sie quasi übereinander her. Als Farsaneh nach dem ersten Sex wieder zur Besinnung kommt, breitet sich die Panik in ihr aus, und sie schickt Leo weg. Dieses Mal endgültig. Leo ist darüber so frustriert, dass er seine Wut in einer Kurzschlussreaktion an einem Studenten auslässt, den die Gang wenig später foppt, und ihn brutal zusammenschlägt.

Savina schildert das Leben der Jugendlichen schonungslos, und alle haben irgendwie ihr Päckchen zu tragen: Ich-Erzähler Leo muss in dem Gefühlschaos der ersten Liebe auch noch mit der Nachricht klarkommen, dass sein Vater mit seiner neuen Freundin ein zweites Kind bekommt. In Farsanehs und Maliks Familie fehlt die Mutter, die bei der Geburt Babaks gestorben ist. Einer der Jungs aus der Gang muss für seinen drogenabhängigen Bruder klauen. Das ist zum Teil harter Tobak, aber so klar und ohne Wertung erzählt, dass es der Geschichte Tiefe und Glaubwürdigkeit verleiht. In Herbstattacke können sich Jungs und Mädchen gleichermaßen mit ihren Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten wiederfinden. Dass es kein Happy End gibt, Farsaneh die Stadt verlassen muss und Leo sein Glück nicht findet, unterstreicht den realistischen Anspruch dieser Geschichte. Das Leben ist eben kein Ponyhof und so manche große Liebe hat in dieser Welt einfach keine Chance. Das war schon bei Romeo und Julia so. Diese Buch liefert also keine eskapistische Unterhaltung, sondern den Trost des Wiedererkennens. Und das ist seine große Stärke.

Nataly Savina: Herbstattacke, Chicken House, 2012, 135 Seiten, ab 14, 9,95 Euro