Selbstbestimmt leben

Philosophin

Frauen in der Philosophie sind leider immer noch eher selten anzutreffen – selbst heute noch wird diese Domäne von Männern dominiert. Höchste Zeit also, das Bild zu wandeln. Das kann man nun mit dem wunderbaren Comic der Niederländerin Barbara Stok. In Die Philosophin, der Hund und die Hochzeit widmet sie sich der antiken Denkerin Hipparchia, von der die wenigsten von uns je etwas gehört haben dürften.

Die Philosophin Hipparchia lebte um 300 v. Christus und kam aus einer wohlhabenden Familie. Viele Informationen über diese Frau gibt es allerdings nicht, doch Barbara Stok hat alle erdenklichen Infos zusammengetragen und eine Geschichte daraus entwickelt.

Die Lauscherin an der Tür

Ausgangspunkt ist, dass Hipparchia endlich verheiratet werden soll und daher zu ihrem Bruder nach Athen reist, um mit dem möglichen Ehemann Kallios (dies ist eine fiktive Figur) Gespräche zu führen. Doch Hipparchia hat eigentlich keine Lust auf Ehe, sondern möchte viel lieber philosophische Schriften lesen, an Diskussionen teilnehmen und ein gutes Leben führen. Heimlich lauscht sie an den Türen, hinter denen sich ihr Bruder mit Studenten aus Platons Schule trifft und die jungen Männer über die Natur oder das Leben philosophieren.

Gegen die Konventionen

In Athen begegnet sie dann zufällig dem Kyniker Krates, der ohne Besitz auf der Straße lebt und gegen die Konventionen der Gesellschaft andiskutiert. Er ruft zu einem einfachen Leben auf, um nicht von Besitz und Zwängen belastet zu werden. Hipparchia ist angetan. Doch als Frau darf sie nicht allein auf die Straße und ihm einfach so zuhören. Daher verkleidet sie sich als Mann und freundet sich mit Krates an. Dieser nennt sich »Kyniker«, vom griechischen Begriff »kyon« für »Hund«, weil er anspruchslos wie ein Hund lebt.

Eine Hochzeit wird arrangiert

Derweil gehen jedoch die langwierigen Verhandlungen und Treffen mit der Familie des zukünftigen Ehemanns von Hipparchia weiter. Man wird sich einig, Hipparcha ist der neuen Familie würdig, die Hochzeit wird geplant und angekündigt. Nur eine ist nicht glücklich damit: Hipparchia.
Es ist in diesem Rahmen durchaus okay zu spoilern, dass Hipparchia sich auf den Deal nicht einlässt, sondern ihre Familie verlässt und sich für Krates entscheidet. Sie zieht das einfache, aber erfüllende Leben dem leeren Luxusleben vor.

Anstoß zu Verzicht

Die Geschichte der Philosophin Hipparchia, die Barbara Stock in knallbunten einfachen Bildern schildert, regt ungemein zum Nachdenken über das Leben, den Konsum und unsere Ansprüche an. Wie in allen guten philosophischen Büchern werden mehr Fragen gestellt, als Antworten gegeben. Man erfährt darüber hinaus viel über das Leben von Frauen in der Antike, über die untergeordnete Rolle, die ihnen zugewiesen wurde. Sie zählten nicht als Bürger, waren kaum als Menschen anerkannt.
Auch die damals üblichen Sklaven und deren Lebensbedingungen werden thematisiert. Hipparchia beobachtet das alles, spricht mit ihrer persönlichen Sklavin darüber und bildet sich eine eigene Meinung, die nicht mit den herrschenden Konventionen übereinstimmt. Daraus erwächst ihr Drang selbstbestimmt zu leben, sich zu bilden und sich nicht weiter unterzuordnen.

Moderne Sprache

Wer nun glaubt, eine Geschichte aus der griechischen Antike kommt in angestaubter alter Sprache daher, wird hier überrascht. Die Sprache, wunderbar von Sylke Hachmeister ins Deutsche übersetzt, ist frisch und heutig. Da ist vom »Look« die Rede, von »Markwert« oder »Abgang machen«. All das trägt dazu bei, dass dieses alte Geschichte unglaublich gegenwärtig erscheint und wir uns in philosophischer Hinsicht und in Bezug auf unsere Lebensführung so manche Scheibe abschneiden können. Konsumverzicht wäre beispielsweise eine …

Barbara Stok: Die Philosophin, der Hund und die Hochzeit, Ü: Sylke Hachmeister, Carlsen, 2025, 295 Seiten, ab 12, 26 Euro

Die Stärken der Frauen

Das Bild der Frau an sich ist seit etwas 2000 Jahren ein ziemlich stereotypisches und unterwürfiges. Ein Bild, das von Männern in die Welt gesetzt wurde. Dies stellt Ulli Lust in ihrem neuen Sachcomic Die Frau als Mensch gleich zu Anfang fest. Und macht sich auf, die Ursprünge der Frauen-Darstellung zu erkunden.

Denn mehr als 30.000 Jahre kursierten auf der Erde kleine Statuetten, die ein ganz anderes Bild der Frau zeigten: breite Hüften, große Brüste, keine Zeichen von Scham oder Unterwerfung. Während der Eiszeit gab es diese kleinen Figuren, die meist nur wenige Zentimeter groß waren, von Südfrankreich bis nach Sibirien und die Wissenschaft – vornehmlich die männlichen Archäologen – rätselten, was es mit diesen Figurinen auf sich hatte.

Als Göttinnen verehrt

In diesen Zeiten, vor Erfindung der Schrift, fehlten ikonische Männerfiguren bzw. -bilder. So ging man davon aus, dass des sich bei den Statuetten um Darstellungen von Göttinnen handelt. Dennoch drehten die Wissenschaftler es so, als zeigten gerade diese Figuren die Unterlegenheit und Schwäche der Frauen. Denn angeblich konnten Frauen nicht jagen. Die Darstellungen wurden als schamlos und unzüchtig angesehen. Frauenfeindliche und antisemitische Vergleiche waren an der Tagesordnung.

Überholtes Denken richtig stellen

Ulli Lust räumt nun mit diesen überholten Argumentationen auf und geht dabei in der Geschichte sehr weit zurück. Sie rekapituliert die Urgeschichte der Menschen, schildert die neuesten Erkenntnisse aus Grabfunden und die einstigen Fehlinterpretationen. Dies führt sie zur Betrachtung des menschlichen Sozialverhaltens und den Ursprüngen unseres Zusammenlebens vor Tausenden vor Jahren.
So wird aus einem vermeintlichen kunsthistorischen Sachcomic ein Werk über die Wurzeln der Menschen und unseren Gesellschaften.

Die Frau – mehr als Mann denkt

Ulli Lust erzählt dabei auch von den überlieferten Mythen verschiedener Gesellschaften, dem Einsatz von roter Ockerfarbe und ihrer Funktion, den vermutlichen Anfängen von Kunst, der Notwendigkeit, Kleidung zu erfinden und dem Wandel des Klimas über die Jahrtausende. Dazu kommt das Bedürfnis der Menschen am Erzählen und Klatschen, was der Vermeidung von gewalttätigen Auseinandersetzungen diente, und die Neugierde auf Fremde, die in der Gemeinschaft aufgenommen wurden und denen man auf jeden Fall half.
Diese Fülle an Informationen fügt sich zu einer spannenden Lektüre, die nicht nur das Verhältnis zwischen den Geschlechtern zurechtrückt. So wird die Menstruation als etwas Verehrungswürdiges gezeigt, Frauen gingen durchaus jagen und haben vermutlich auch die Statuetten geschaffen. Zudem gab es schon damals trans Menschen, die als Schamanen verehrt wurden. Ohne die Frauen und ihre vielfältigen Beiträge zum Alltag hätte die Menschheit nicht überlebt.

Lektion für die Gegenwart

Dieser Blick in die fernste Vergangenheit der Menschen ist überaus erhellend und hat so viel mit unserer Gegenwart zu tun, dass man sich wünscht, eine Rückbesinnung auf unsere weltweit gemeinsamen Wurzeln würde heute viel öfter stattfinden. Es gibt so viel, dass wir in der Behandlung und Betrachtung von Frauen ändern müssen – wahrscheinlich ist es utopisch zu glauben, dass das jemals geschehen wird. Aber Ulli Lusts Sachcomic Die Frau als Mensch, von dem es demnächst einen zweiten Teil geben wird, erinnert uns eindringlich daran, dass das herrschende Ungleichgewicht nicht natürlich ist – und schon gar nicht sinnvoll.

Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte, Reprodukt, 2025, 254 Seiten, 29 Euro